E-Book, Deutsch, 158 Seiten
ISBN: 978-3-7693-8497-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1. Rückblick und Begierde
Es liegt vielen Menschen, das, was sie für ihre Lebenserfahrung halten, in griffige Merksätze zu kleiden. Solch eine oft nachgeplapperte Sentenz ist auch das bedrohliche „Man sieht sich immer zweimal im Leben“. Meist leichtfertig zum Abschied daher gesagt, kann sie leider in der Zukunft ungeahnte Bedrohung ankündigen, wie es Ortwin Köpperwien schmerzhaft erfahren sollte. Ortwin Köpperwien, vormals Gymnasiallehrer in Bergen auf Rügen, hatte in den letzten fünfzehn Jahren ein ereignisreiches, dramatisches Leben durchleiden müssen. Ursprünglich wohnhaft in Lehnin bei Potsdam hatte er unverhofft die Nachricht erhalten, ein Haus in Bonn von einem gewissen Onkel Ralf1 geerbt zu haben2. Wie er ziemlich schnell erleben mußte, war dieses für ihn und seine Freundin Luise erfreuliches Erbe belastet mit den ominösen Machenschaften dieses Onkel Ralf, so daß Ortwin durch die Erbschaft auch das „Interesse“ der ehemaligen Kontrahenten (Mitglieder der russischen Mafia) dieses umtriebigen Onkel Ralf auf sich zog. Er konnte sich deren Nachstellungen durch einen Umzug erst nach Berlin und dann nach Sassnitz3 auf Rügen entziehen. Aber auch dort wurde er nicht in Ruhe gelassen. Zunächst stellte er überrascht fest, dass Onkel Ralf garnicht verstorben war, sondern in cognito unter falschem Namen in Sassnitz lebte. Auch wenn der alles nur Mögliche unternahm, um Ortwin und Luise zu schützen, gelang es beiden nur mit Müh und Not, einem Attentat zu entgehen und nach Schweden zu fliehen. Dort fanden sie in Lund eine neue unbelastete Heimat; an der dortigen Universität fanden beide angemessene Anstellungen, mit Onkel Ralfs Hilfe konnten sie ein Haus in Lomma erwerben und als Luise eine Tochter gebar, schien das Glück vollkommen. Ortwin war hingerissen von seiner kleinen, blonden Merle und konnte sich nicht genug tun, ihr alles nur Erdenkliche zu schenken; Luise verstand es, geschickt ihren Ortwin zu „bremsen“, wenn er wieder einmal etwas gekauft hatte, für das Merle noch viel zu klein war oder das zu protzig wirkte. So wuchs Merle wohlbehütet in Lund heran. Allerdings konnte es auf die Dauer nicht ausbleiben, daß Merle und ihre Eltern – zumal sie untereinander weiterhin deutsch sprachen – in der näheren Umgebung in Lund unter tyska4 bekannt waren. Das hatte keinen bewertenden Beiklang und bezeichnete nur ihre Herkunft. Als Merle auch noch ein Brüderchen bekommen hatte, den Moritz, war das Familienglück der Köpperwiens komplett. Sie waren bei ihren Nachbarn und bei den Berufskollegen beliebt und gefragt. Merle und Moritz hatten in der Schule einen großen Freundeskreis und – ohne daß sie das eigentlich wollten – immer noch das besondere Flair von „zugeflogenen Paradiesvögeln“. Da Ortwin für seine Familie ein größeres Segelschiff angeschafft hatte, das im Hafen von Lomma seinen Liegeplatz hatte, konnten sie zu viert mehrtägige Segeltouren entlang der Küste von Schonen unternehmen. So konnte es auf die Dauer auch nicht ausbleiben, daß Ortwin als „praktizierender“ Schiffseigner unter den Seglern von Lomma ein gern gesehener Kumpel war. Er war so integriert, daß er sich auch nicht den traditionellen, feuchtfröhlichen Gelagen zum Sankt-Hans-Tag5 verweigern konnte. Im Allgemeinen kam Ortwin mit den schwedischen Lebensgewohnheiten gut zurecht, ihren seltsamen Umgang mit alkoholischen Getränken dagegen fand er ziemlich schizophren: die Macht der Nyktenster6 hatte dazu geführt, daß das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit unter Strafe verboten war, andererseits sämtliche Alkoholika im Systembolaget7 - und nur dort – frei verkäuflich zu stark erhöhten Preisen angeboten wurden. Ortwin hatte sich immer wieder gewundert, welche Mengen an Schnaps oder Wein kartonweise vor diesen Läden in Privatwagen verladen wurden. Auf solch einem Gelage in den Räumen des Uni-Instituts in Lund geschah es auch, dass Ortwins „schöne neue Welt“ in Schweden den ersten häßlichen Riß bekam: in stark alkoholisiertem Zustand machte sich ein Kollege von Ortwin, mit dem er im täglichen Leben problemlos auskam, plötzlich mit derben fremdenfeindlichen Schimpfkanonaden Luft. Im Wesentlichen regte er sich darüber auf, daß die ausländischen Wissenschaftler bevorzugt werden und die wenigen freien Mitarbeiterstellen den genauso gut qualifizierten Schweden vorenthalten würden. In dieser Situation erinnerte sich Ortwin daran, daß er diesem Michael Stromberg schon mehrmals abends seltsam schwarz gekleidet – schwarze Hose, schwarzer Pulli und schwarze Bomberjacke - begegnet war, ohne sich dabei etwas zu denken. Vom Hörensagen hatte Ortwin mitbekommen, daß sich Michael Stromberg viel von seiner Freizeit in einem rechtsradikalem Klüngel aufhielt und dort mitmischte. Im täglichen Arbeitsablauf aber benahm er sich korrekt, nicht sehr freundlich und wenig hilfsbereit: war zum Beispiel auf dem gemeinsamen Telephon im Büro ein Anruf aus dem Ausland für Ortwin eingegangen und Stromberg hatte den Anruf entgegengenommen, so dachte er nie daran, Ortwin zu holen, sondern behauptete dem Anrufenden gegenüber in rüdem Ton, Ortwin sei nicht da und legte einfach auf. Man soll nun nicht glauben, daß Stromberg wenigstens anschließend Ortwin von dem Anruf unterrichtet hätte. Die Folge war, daß Ortwin den Kontakt mit diesem „Stinkstiebel“ mehr und mehr mied. Diese alltäglichen Mißlichkeiten konnten das Glück der Familie Köpperwien aber nicht schmälern.Wann immer es möglich war und das Wetter es erlaubte, waren sie mit ihrer Segeljolle auf der Ostsee unterwegs. In letzter Zeit hatte es ihnen die Insel Ven im Öresund angetan: Moritz hatte etwas über Tycho Brahe8 gelesen und von einem Tycho Brahe-museet auf der dänischen Insel Ven gehört und hatte zur Verwunderung seiner Eltern ungewöhnlich lange gequengelt, bis sie an einem Wochenende nachgaben und zur Insel Ven aufbrachen. Sie gingen an ihrer Westküste in Kyrkbacken an Land. Merle maulte und fand alles und jedes uncool. Es war für die Eltern einigermaßen schwierig, mit ihren so verschieden motivierten Kindern voran zu kommen. Vor dem Museum weigerte sich Merle störrisch, mit hinein zu gehen. Ortwin und Luise gaben sich alle Mühe, Merle umzustimmen; aber je mehr ihre Eltern auf sie einredeten, umso bockiger wurde Merle. Schließlich blieb ihnen nichts übrig, als Merle draußen vor dem Museum allein zurück zu lassen. Zuerst triumphierte sie, daß sie sich erfolgreich durchgesetzt hatte; mit der Zeit allerdings wurde es ihr so allein vor dem Museum langweilig und aus einer plötzlichen Laune heraus begann sie, Gänseblümchen auf dem Rasenstück vor dem Museum zu pflücken und daraus einen Kranz zu winden. Mit diesem Blumenschmuck krönte Merle die knieende Steinfigur des Tycho Brahe, der in demütiger Pose mit gen Himmel gerichtetem Blick seine Faszination von der Astronomie bildhaft darstellte. Als Moritz mit seinen Eltern aus dem Museum kamen, fand er seine Schwester Merle still vergnügt im Gras vor dem bekränzten Tycho Brahe sitzend; Ortwin kannte Merle zu gut, als daß er auf die vergangene Trotzepisode eingegangen wäre. Das hätte alles nur verschlimmert, denn Merle konnte nie nachgeben. Statt dessen beraubte er den steinernen Tycho Brahe seines Kopfschmuckes und bekränzte damit seine lachende Luise. Damit war die latente Anspannung gelöst und die Vier gingen einträchtig und über diesen seltsamen Tycho Brahe schwadronierend zu ihren Schiff im Hafen zurück. In diesen Wochen geschah es auch, daß Moritz seinen Eltern verkündete, er wolle Kapitän auf einem Segelschiff werden. Seine Eltern nahmen diesen Berufswunsch ihres Sohnes mit dem gebotenem Gleichmut hin, war es doch für Jungen in seinem Alter nicht unüblich für den Beruf des Feuerwehrmanns oder gar Zirkusdirektors zu schwärmen; das würde in ein paar Jahren wieder vergessen sein. Ortwin war indes aufgefallen, mit welchem Eifer sich sein Sohn wirklich ernsthaft um Segel und Takelage des Schiffes kümmerte und das mit einer Sorgfalt, die man von ihm in seinem Alter eigentlich noch nicht erwarten konnte. Da an der Universität in Lund die Semesterferien angefangen hatten und der Sommer ungewöhnlich warm war, hatten Ortwin und Luise die Gelegenheit kurz entschlossen genutzt, um für ein paar Wochen Urlaub zu machen. Für Merle und Moritz hatten bereits die großen Sommerferien begonnen und so konnten die Köpperwiens fast jeden Tag auf ihrem Segelschiff verbringen. Moritz hatte sich in den Kopf gesetzt, unbedingt die Westküste von Schonen im Süden bis Malmö oder gar bis Ystad und gen Norden bis über Helsingborg hinaus per Schiff zu erkunden. Darin versteckt war sein Wunsch, möglichst oft die Gelegenheit zu bekommen, einmal selbst das Segelschiff zu steuern und seinem Vater zu...