Neuhaus | Grundriss des Interpretierens | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Neuhaus Grundriss des Interpretierens


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8463-5920-4
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

ISBN: 978-3-8463-5920-4
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Fiktionale Literatur folgt den ihr eigenen Regeln - aber welchen? Wenn Literatur im Zentralabitur verpflichtende Lektüre ist oder mit Preisen ausgezeichnet wird, dann gilt sie als besonders wichtig und wertvoll - was sind die Gründe? Wie wird 'wertvolle' Literatur von Expert:innen erkannt? Das Ergebnis einer Lektüre von Literatur, die versucht, auf Basis der rekonstruierbaren Textintention zu einem besseren Verständnis zu gelangen, wird als Interpretation bezeichnet. Dabei ist bereits das Wahrnehmen von allem, was uns umgibt, ein uns oft unbewusster Prozess des Interpretierens. Die Besonderheiten von Literatur wahrzunehmen kann uns viel von dem, was wir tun und was uns ausmacht, bewusster werden lassen. Wie Literatur interpretiert werden kann, davon handelt dieses Buch.

Prof. Dr. Stefan Neuhaus lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Koblenz.
Neuhaus Grundriss des Interpretierens jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Kein Buch ohne Vorwort
Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst?
Was sind Fiktionen?
Grundlagen von Fiktionalität
Fiktionen als „Metapher“ und „Metonymie“ (Pierre Bourdieu)
Wie wird ‚Wirklichkeit‘ interpretiert?
Die Konstruktion von Wirklichkeit und der (gar nicht so radikale) Konstruktivismus
Die Bedeutung des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses
Wie werden Fiktionen interpretiert?
Keine Interpretation ohne Theorie
Hermeneutik, Werkimmanenz und Close Reading
Strukturen literarischer Texte und Übergänge zum Poststrukturalismus
Rezeptionsästhetik und Sozialgeschichte
Dekonstruktion, Diskursanalyse und Gender Studies
Literatur interpretieren
Was ist Literatur?
Zum Beispiel lyrische Texte: Erich Kästners Der Handstand auf der Loreley (1932)
Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804)
Zum Beispiel Erzähltexte: Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895)
Merkmale der Literatur der Gegenwart: Textbeispiele von Elfriede Jelinek und Felicitas Hoppe
Filme interpretieren
Besonderheiten des Mediums Film
Zum Beispiel: Tim Burtons Kurzfilm Frankenweenie (1984)
Zum Beispiel: Alfred Hitchcocks Spielfilm North by Northwest (1959)
Schlussbemerkung
Quellen
Forschungsliteratur
Register


Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst?


Kunst ist, was als Kunst gilt – wie bereits im Vorwort angesprochen, entscheidet ein Expert*innendiskurs darüber. Dies gilt für alle Bereiche der bildenden Kunst, der Musik und eben auch des Films und der Literatur, die hier besonders in den Blick genommen werden sollen. Dass es nicht so viele Institute oder Fächer für Filmwissenschaft gibt wie für Literaturwissenschaft, hat historische Gründe: Literatur existiert seit mehreren tausend Jahren, das Theater wird ihr üblicherweise zugerechnet, auch wenn es durchaus als Spezialisierung das Fach Theaterwissenschaft an Universitäten gibt. Der Film ist ein relativ junges Medium, ebenso wie Hörmedien, etwa die Schallplatte, und schließlich Hörfunk und Fernsehen, die eine dafür geeignete Infrastruktur voraussetzen (Sendeanstalten, Empfangsgeräte…). Auch das Computerspiel und die sogenannten Neuen Medien sind interessant für Studierende – es gibt bereits entsprechende Angebote an einigen Universitäten, sich mit ihnen intensiver zu beschäftigen, auch im Bereich der Kulturwissenschaften – und bieten Beiträge zum weiten Feld der Kunst.

Beschränkung tut also auch hier Not. Spielfilme und Folgen von Serien können mit literarischen Texten relativ leicht verglichen werden, auch wenn sie anderen Gesetzen unterliegen. Ihre Handlung ist fiktiv (als Handlung erfunden) oder auch fiktional (von außen betrachtet und als Erzählung wahrgenommen), also Teil der Fiktionen, die für Literaturwissenschaftler*innen deshalb so spannend sind, weil sie gestalten, was möglich sein könnte. Dieses Potential gibt Literatur und Film eine diagnostische Qualität, zumindest wird ihnen eine solche immer wieder attestiert. Ein bekanntes Beispiel, wenn es um mögliche zukünftige Welten geht, wäre der Film (1927), bei dem Fritz Lang Regie führte und der zahlreiche weitere Fiktionen – etwa den Film (1982; Regie Ridley Scott) – und durch diese Fiktionen auch die Vorstellung vieler Menschen etwa von Architektur, sozialen oder politischen Strukturen beeinflusst hat. Als Beispiel für vergleichbare Literatur kann etwa auf Aldous Huxleys Roman (1932) verwiesen werden, der eine dystopische Welt zeichnet und dessen Konzept durch zahlreiche weitere, mehr oder weniger berühmte Romane adaptiert, variiert und weitergedacht worden ist, etwa von George Orwell in (1949) oder von Walter Jens in (1950) bis hin zu Juli Zeh in (2009). Unter den populären Lesestoffen und -filmen, die sich diesen (und anderen) Vorbildern verdanken, wäre Suzanne Collins’ dreiteilige Romanreihe (2008-10) zu nennen (dt. ); die darauf basierende vierteilige Filmreihe (2012-15) zählt zu den sogenannten Blockbustern der 2010er Jahre.

Wie diese wenigen Beispiele zeigen, stehen literarische Texte und Filme in einem kulturellen Zusammenhang, indem sie an frühere Texte und Filme anschließen und diese, in der einen oder anderen Weise und mehr oder weniger deutlich markiert, zitieren: In der Literaturwissenschaft heißt dieses Phänomen Intertextualität. Dabei werden Themen, Stoffe und Motive (vgl. Daemmrich 1995) tradiert und variiert – das sind die Fachausdrücke für größere oder kleinere Handlungssequenzen, die ähnlich sind (vgl. Neuhaus 2017a, 114-116). So ist etwa der gemeinsame Liebestod in (1597) von William Shakespeare oder in (1856) von Gottfried Keller ein Motiv, während es sich bei Faust und dem Teufelspakt um einen Stoff handelt, der in einem Volksbuch aus dem Mittelalter und von Autoren wie Johann Wolfgang Goethe in den beiden -Dramen (1808/32) oder von Thomas Mann in (1947) behandelt wurde. Faust ist dabei sowohl eine historische Person als auch (fiktionalisiert) eine Figur in literarischen Texten. Themen wären etwa die sich fatal auswirkenden familiären Konflikte im ersten Stoff-Beispiel, die für gesellschaftliche Konflikte stehen, und der Drang nach Wissen um jeden Preis im zweiten – die Liste ließe sich je nach Blickrichtung und Interesse erweitern. Für solche Beziehungen zwischen Texten und Filmen auf verschiedenen Ebenen gibt es verschiedene Begriffe, etwa Paratextualität oder Palimpsest – eine Metapher, wird als Palimpsest doch eigentlich die im Mittelalter mangels Material übliche Praxis des Überschreibens von Manuskripten oder Manuskriptteilen bezeichnet (ein komplexes Inventar von Begriffen zur Intertextualität findet sich bei Genette 1993).

Das Alter von medialen Angeboten und ihre Beziehungen untereinander sind auch deshalb so wichtig, weil sie dadurch länger auf das sogenannte kollektive Gedächtnis wirken konnten – ein Begriff, den Jan Assmann populär gemacht hat (Assmann 2002) und der mittlerweile eine eigene Forschungsrichtung innerhalb der Kulturwissenschaften bezeichnet. Erinnerung (als aktives Hervorholen von Gedächtnisinhalten) und kommunikatives Gedächtnis (als das, was gegenwärtig erinnert wird) sind verwandte Begriffe, die sich auf die aktuellen Gedächtnisinhalte beziehen (vgl. Welzer 2005), während das kulturelle Gedächtnis als Speicher fungiert, auf den zurückgegriffen werden kann; vergleichbar einer Bibliothek, aus der Bücher erst geholt werden müssen, um sie zu lesen.

Die Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft ist groß: „Das Gedächtnis rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, es organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft“ (Assmann 2002, 42). Wie zuvor der von ihm rezipierte Maurice Halbwachs und andere ist auch Jan Assmann der Auffassung, dass „die Vergangenheit […] eine soziale Konstruktion“ darstellt, „deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwart her ergibt“ (Assmann 2002, 48). Vergangenheit als „kulturelle Schöpfung“ (ebd.) zu betrachten wird einem späteren Kapitel vorbehalten sein. Festzuhalten bleibt, wiederum mit Assmann: „Erinnerung ist ein Akt der Semiotisierung“ (Assmann 2002, 77). Wir erinnern nicht einfach etwas, sondern wir passen es in Sinnzusammenhänge ein, in denen „Erinnerungen immer individuell und kollektiv zugleich“ sind (Welzer 2005, 170), so dass „der Übergang von wahren zu falschen autobiographischen Erinnerungen durchaus fließend ist“ (Welzer 2005, 34).

Vielleicht sind deshalb Fiktionen auch so attraktiv und wirkmächtig, weil sie sich so gut mit dem verbinden lassen, was wir fühlen und denken, ganz unabhängig von dem tatsächlichen Wahrheitsgehalt, der oft nur schwer zu ermitteln ist und bestimmt wird durch „Intersubjektivität“ (Welzer 2005, 83), also durch soziale Übereinkünfte. Jedenfalls gelten Produktionen, die als Bestandteil der Kunst angesehen werden, viel – sie bedeuten nicht immer ökonomischen Erfolg, aber zumindest immer Ansehen von der Gruppe der Expert*innen. Und oft genug folgt dem Ansehen auch der ökonomische Erfolg, etwa durch Stipendien und Preisverleihungen. Es gibt Konzepte, die solche Zusammenhänge erklären helfen und die sich unter dem Begriff der Literaturvermittlung zusammenfassen lassen (vgl. Neuhaus 2009).

Wer sich darüber informieren will, welche Filme und welche Bücher als ‚besonders wertvoll‘ angesehen werden, die oder der kann sich sogenannte Bestenlisten (nicht: Bestsellerlisten, die den Verkaufserfolg abbilden wollen) ansehen, für die aktuelle Belletristik etwa die renommierte Bestenliste des SWR (www.swr.de/swr2/literatur/bestenliste/index.html) und für Filme die Seiten der Deutschen Film- und Medienbewertung FBW (www.fbw-filmbewertung.com). Wer wissen möchte, welche Bücher und Filme aus einer historischen Perspektive als besonders künstlerisch und somit auch als besonders wichtig für das kollektive Gedächtnis angesehen werden, für die oder den gibt es verschiedenste Angebote. Für Filme etwa gilt die von einer internationalen Jury zusammengestellte Liste der Zeitschrift als besonders wichtig; die von der Zeitschrift ermittelten wichtigsten 100 Filme aller Zeiten finden sich zusammengefasst auf der International Movie Database IMDb (www.imdb.com/list/ls050032005), wobei auffällig ist, dass die hier ebenfalls abgebildeten Bewertungen der Nutzer*innen der Webseite durchaus anders ausfallen (weil Expert*innen oft anders urteilen als...


Neuhaus, Stefan
Prof. Dr. Stefan Neuhaus lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Koblenz.



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