Schmerzexpertise nach dem EFIC-Curriculum
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-456-76215-9
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zielgruppe
Schmerzexpert_innen
der Gesundheitsberufe: Pflege, Ergo-,
Physiotherapie, Medizin
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
|11|1 Definitionen
Andre Ewers Schmerz ist seit jeher ein weit verbreitetes und auch in der heutigen Zeit noch gravierendes Problem in allen Bereichen des Gesundheitswesens (Deutsches Netzwerk zur Qualitätsentwicklung in der Pflege [DNQP], 2005; 2020). Es betrifft alle sozialen Schichten, zeigt sich bei Menschen jeden Alters und auf allen ökonomischen Ebenen (Crooks, 2002). Schmerz hat, in Abhängigkeit seiner Ausprägungen, Folgen für die Betroffenen, deren Familie und die gesamte Gesellschaft (Brennan et al., 2007). Dabei ist Schmerz ein komplexes, individuelles Ereignis, welches sich nur subjektiv erfassen lässt. Diese Subjektivität erfordert es, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Schmerz, schon beginnend bei der Schmerzeinschätzung, einhergehen muss mit dem Verständnis, dass nur die Patientin/ der Patient selbst sagen kann, ob und wie stark seine Schmerzen tatsächlich sind. Aus diesem Grund ist die Selbsteinschätzung der Patientinnen und Patienten, sofern möglich, immer einer Fremdeinschätzung durch andere Personen vorzuziehen. In den folgenden Kapiteln werden die Notwendigkeit sowie die historische Entwicklung einer Schmerzerfassung als auch die Notwendigkeit der Beachtung der Subjektivität für die Schmerzerfassung dargestellt und bilden die Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema in den nachfolgenden Buchabschnitten. Literatur
Brennan, F., Carr, D.?B. & Cousins, M. (2007). Pain Management: A Fundamental Human Right. International Anesthesia Research Society, 105(), 205–221. Crossref Crooks, L.?K. (2002). Assessing Pain and the Joint Commission Pain Standards. Topics in Emergency Medicine, 24(), 1–9. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP). (2005). Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten oder tumorbedingten chronischen Schmerzen. Entwicklung – Konsentierung – Implementierung. DNQP. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege. (2020). Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege. DNQP. |12|1.1 Historische Entwicklung der Schmerzerfassung
Andre Ewers Um überhaupt Schmerzen erfassen zu können, ist es erforderlich, sich zunächst dem Begriff „Schmerz“ zu nähern und ihn „fassbar“ zu machen. Was ist Schmerz eigentlich? Wie lässt sich Schmerz definieren? Die International Association for the Study of Pain (IASP) hat bereits im Jahr 1979 eine erste Definition zum Schmerz erarbeitet, die in den medizinischen Berufen viele Jahrzehnte Gültigkeit hatte. Schmerz wird dabei definiert als ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebsschädigung verknüpft ist, oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben werden kann („Pain is an unpleasent sensory and emotional experience associated with actual or potential tissue damage, or described in terms of such damage.“ (IASP, 1979, zitiert in Raja et al., 2020). In den letzten Jahren wurde diese Definition zwar nicht als fehlerhaft oder falsch bewertet, jedoch entstand der Wunsch einer Überarbeitung, um weitere wichtige Aspekte einzubinden. Für die aktuelle Überarbeitung der o.?g. Definition entstand ein recht umfänglicher Diskurs in der Fachliteratur (Gnass, 2022). Als Auslöser dieses Diskurses beschreibt die IASP, dass mit der Definition aus dem Jahr 1979 „die Gefahr der Fehlinterpretation in dem Maße bestand, dass Kinder, ältere Menschen und andere Gruppen, die sich nicht verbal äußern können […] von der Definition nicht genügend berücksichtigt wurden.“ (Gnass, 2022, S. 13). Schmerz wird nach der überarbeiteten Definition von der IASP nun definiert als eine unangenehme sensorische Erfahrung, die mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung verbunden ist oder dieser ähnelt („An unpleasant sensory and emotional experience associated with, or resembling that associated with, actual or potential tissue damage“ [IASP, 2021]). Die IASP ergänzt in Anlehnung an die Ausführungen von Raja et al. (2020) ihre Ausführungen um sechs Punkte, die in Anlehnung an die freie Übersetzung von Gnass (2022) wie folgt dargestellt werden können: Schmerz ist immer eine persönliche Erfahrung, die in unterschiedlichem Maße von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren beeinflusst wird. Schmerz und Nozizeption sind unterschiedliche Phänomene. Schmerz lässt sich nicht allein aus der Aktivität der sensorischen Neuronen ableiten. Durch ihre Lebenserfahrungen lernen Individuen das Konzept des Schmerzes Der Bericht einer Person über eine Erfahrung als Schmerz sollte respektiert werden. Obwohl Schmerzen in der Regel eine adaptive Funktion haben, können sie negative Auswirkungen auf die Funktion und das soziale und psychische Wohlbefinden haben. Die verbale Beschreibung ist nur eine von mehreren Verhaltensweisen, um Schmerzen auszudrücken: die Unfähigkeit zu kommunizieren schließt die Möglichkeit nicht aus, dass ein Mensch Schmerzen erlebt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Schmerz als eine Erfahrung verstanden, die nur die Patientin bzw. der Patient selbst schildern kann (Noble et al., 2005). Schmerz galt im Gesundheitswesen über viele Jahrzehnte als ein unabänderliches Schicksal im Rahmen von Behandlungen (z.?B. nach Operationen) oder im hohen Lebensalter, auch wenn bereits Beecher (1957) die erste Entwicklung mehrdimensionaler Schmerzassessments zeitlich mit dem Beginn der 1950er Jahre einordnet (Steudter & Bischofberger, 2020). In den 1970er Jahren wurden mit der visuellen Analogskala (Huskisson, 1975) oder dem McGill Schmerzfragebogen (Melzak, 1975) zwei Instrumente entwickelt, die spezifisch auf die Schmerzeinschätzung abzielten (Steudter & Bischofberger, 2020). Heute zeigt sich, dass die Verwendung von Instrumenten zur Schmerzeinschätzung nicht singulär, sondern immer in den Kontext |13|der Versorgungssituation einerseits und andererseits „mit der professionellen Haltung gegenüber dem Erleben von Schmerzuständen eingebettet sein muss“ (Steudter & Bischofberger, 2020, S. 417). Anzumerken ist jedoch, dass nicht alle Instrumente auch für jeden Patienten geeignet sind (siehe Kapitel 2.2 und 2.3) Bis in die 1990er Jahre hinein, wurde in der professionellen Pflege des deutschsprachigen Raums nur vereinzelt über das Thema Schmerzeinschätzung diskutiert. Zumeist erschöpfte sich der Austausch darüber, dass die Patientinnen und Patienten global zu ihren Schmerzen befragt wurden, ohne, dass ein individuelles Schmerzassessment mit einem geeigneten Instrument und einer darauffolgenden individuellen Schmerztherapie tatsächlich durchgeführt wurde. Mit Beginn der 2000er Jahre hat sich die Schmerzerfassung, nicht nur im klinischen Bereich, sondern auch im ambulanten Sektor, positiv verändert. Diese positiven Veränderungen wurden nicht zuletzt durch die ab dem Jahr 2003 vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege initiierten Expertenstandards in der Pflege zum Thema Schmerz und deren stetigen Überarbeitungen vorangetrieben (DNQP, 2005). Heutzutage stehen den professionell Pflegenden eine Vielzahl an Instrumenten zur Schmerzeinschätzung zur Verfügung. Dabei müssen diese Instrumente bestimmte Eigenschaften erfüllen, sollen sie für den klinischen Einsatz sinnvoll sein (DNQP, 2020, S. 96; Registered Nurses’ Association of Ontario [RNAO], 2013, S. 23): Das Instrument muss zuverlässig (reliabel) sein, unabhängig von Zeitpunkt, Setting oder der Person, die die...