E-Book, Deutsch, Band 91, 240 Seiten
Arbus, Arendt, Didion, McCarthy, Sontag, Weil
E-Book, Deutsch, Band 91, 240 Seiten
Reihe: Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek
ISBN: 978-3-8031-4341-9
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Diane Arbus, Hannah Arendt, Joan Didion, Mary McCarthy, Susan Sontag und Simone Weil haben heute den Status von Ikonen. Doch während sie wegen ihres Eigensinns und ihrer Stärke mittlerweile als weibliche Identifikationsfiguren gelten, schlugen ihnen lange Zeit massive Anfeindungen entgegen, die bis zu Vorwürfen charakterlicher Deformation reichten. Angeprangert wurde der kalte und unsentimentale Blick, der ihre Werke prägte – für Frauen damals wie heute ein Skandal.
Deborah Nelson spürt in ihren konzentrierten Porträts der Künstlerinnen und Denkerinnen systematisch dem Anstößigen ihres Weltzugangs nach. Jenseits von Leidenseinfühlung und ironischer Coolness bildeten sie eine Ethik ohne Tröstung aus, die auch in unseren Zeiten geforderter Identifikation und abgefragter Identität ihren Stachel behält.
Deborah Nelson rekonstruiert eine bislang kaum beachtete Gegenströmung zu den etablierten intellektuellen Reaktionsmustern auf die Verheerungen des 20. Jahrhunderts: eine herausfordernde Kultur-, Gefühls- und Geschlechtergeschichte gegen den Strich, die zeigt, wie begrenzt die emotionalen Spielräume für Frauen waren und sind.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literaturgeschichte und Literaturkritik
- Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Westlichen Philosophie
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Einleitung
Denken ohne Trost
Eine Erlebnisweise zu benennen, sie zu umreißen und ihre Geschichte eingehend darzulegen, erfordert eine tiefe Sympathie, modifiziert durch Abscheu. Susan Sontag, »Anmerkungen zu ›Camp‹« Wir sind ästhetisch, politisch und moralisch verpflichtet, uns der Realität zu stellen, so schmerzhaft sie auch sein mag, und zwar ohne dabei den eigenen Gefühlen freien Lauf zu lassen – diese Überzeugung eint die in diesem Buch versammelten sechs Schriftstellerinnen, Intellektuellen und Künstlerinnen. Die Gruppe mag etwas seltsam zusammengewürfelt erscheinen, und sie würde wohl kaum die optimale Besetzung eines Krisenstabs in Notzeiten abgeben: Simone Weil erhielt in den ersten, religiös geprägten Nachkriegsjahren wegen ihres strengen und unkonventionell mystischen Zugangs zum Christentum einen kultähnlichen Status; Hannah Arendt war eine der wichtigsten politischen Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, und ihre Bedeutung nimmt mit jedem Jahrzehnt noch zu; Mary McCarthy, Romanautorin und Kritikerin, erlangte in der amerikanischen Literatur vor allem wegen ihrer autobiografischen Texte und ihres Romans Die Clique Bekanntheit; Susan Sontag war die wohl legendärste Intellektuelle des späten 20. Jahrhunderts, eine Ikone der Popkultur und eine umstrittene, aber hoch angesehene Kritikerin von Kunst und Politik, wenn auch ihre eigenen künstlerischen Werke weniger Anklang fanden; Diane Arbus galt unbestritten als eine der einflussreichsten Fotografinnen und Künstlerinnen der Nachkriegszeit; und Joan Didion wurde nach einer langen und erfolgreichen Karriere als Journalistin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin mit der Veröffentlichung ihrer Erinnerungen Das Jahr magischen Denkens berühmt. Jede dieser sechs Frauen stellte für das zeitgenössische Publikum des späten 20. Jahrhunderts eine feste Größe dar. Eine erkennbare Gruppe bildeten sie jedoch nie, die meisten Leser dürften sich wohl kaum mit allen gleichermaßen auskennen. Und sie alle hätten es wahrscheinlich äußerst ungern gesehen, aufgrund ihres Geschlechts nebeneinandergestellt zu werden. Als ich vor einigen Jahren die Idee zu diesem Buchprojekt entwickelte, gab ich ihm den Arbeitstitel »Toughe Ladys«, was etwas von der Aggressivität vermittelt, über die ich in den folgenden Kapiteln sprechen werde. Leider denkt man bei dem Begriff »toughe Ladys« eher an Schauspielerinnen wie Mae West – durchsetzungsfähig, witzig und effekthascherisch – und nicht an die verschlossene Simone Weil oder die unterkühlte, distanzierte Joan Didion. So charismatisch und attraktiv einige dieser Frauen in ihrem Privatleben auch wirkten – Sontag und McCarthy waren dafür berüchtigt –, keine von ihnen schrieb Prosa, die man als kokett oder verführerisch bezeichnen würde. Dieses Buch vereint sie aufgrund ihrer Ähnlichkeiten in Stil und Haltung bei Fragen von Leiden und Mitgefühl, die auch heute noch die Welt beschäftigen. Was sie stark macht, ist ihre selbstgewählte Aufgabe, die schmerzhafte Realität mit äußerster Direktheit und Klarheit und ohne jeglichen Trost oder Kompensation zu betrachten. Sie alle wurden von Rezensenten als »unsentimental« bezeichnet, weil sie »den Tatsachen oder Schwierigkeiten realistisch und mit Entschlossenheit ins Auge sehen«, so die Definition von »unsentimental« im Webster’s Online Dictionary (das auch »tough« als Synonym aufführt). Hätte ich dieses Buch jedoch »Unsentimentale Frauen« genannt, wäre der Begriff automatisch positiv besetzt gewesen. Wie auf Knopfdruck löst Unsentimentalität Bewunderung aus (weil sie als »klarsichtig!« und »erfrischend!« gilt oder, nüchterner ausgedrückt, als »unbeirrt«), doch das rührt paradoxerweise daher, dass wir sie im Allgemeinen nicht besonders ernst nehmen. Die Unsentimentalität wurde bislang kaum kritisch untersucht, schon gar nicht in dem Umfang wie ihr Gegenteil, die Sentimentalität, auch wenn sie seit dem Aufkommen der Moderne im frühen 20. Jahrhundert zum Standardstil ernsthafter und bedeutender ästhetischer Werke gehört. Darüber hinaus scheint der Begriff »unsentimental«, so wie er in Rezensionen oder Kritiken reflexartig verwendet wird, stets mehr auf den Charakter des Schreibenden als auf seine Philosophie, mehr auf sein Temperament als auf seine Zielsetzungen abzuheben. Schließlich haben es die meisten Schriftsteller wohl lieber, wenn ihre Texte eher frisch als altbacken, eher konzise als gefühlig wirken. Aber damit nicht genug: Die Konnotation von »unsentimental« suggeriert außerdem intellektuelle Redlichkeit, Unerschrockenheit, ja sogar einen gewissen Heroismus, so als würde umgekehrt das gefühlvolle Schreiben eine moralische Unzuverlässigkeit oder psychologische und intellektuelle Schwäche des Schriftstellers vermuten lassen. Unter dem Banner der heroischen Auseinandersetzung mit der schmerzhaften Realität sind Entgleisungen und Scheitern des unsentimentalen Schreibens ausgeschlossen, so könnte man meinen. Außer es scheitert eben doch. Auch ein unsentimentaler Text kann, zwar selten und nur unter bestimmten Umständen, eine Welle von Gefühlsregungen auslösen. Es sind die Skandale um die Unsentimentalität – Skandale um Texte, die als zu unsentimental wahrgenommen wurden, anstatt als nicht nüchtern genug –, die mich auf die Frauen in diesem Buch aufmerksam werden ließen. Die größte Bekanntheit erlangte sicherlich die weltweite Debatte um Arendts Eichmann in Jerusalem, in der ihr Urteilsvermögen und ihr Charakter – nämlich ihre Herzlosigkeit – angeprangert wurden. Doch auch die anderen fünf Frauen wurden für ihr Versagen im Umgang mit Gefühlen attackiert. So war Mary McCarthy »erbarmungslos«, Simone Weil »eisig«, Diane Arbus »klinisch«, Joan Didion »kalt« und Susan Sontag »unpersönlich«. Es ist schwierig – und für mich unmöglich –, eine vergleichbare Liste männlicher Schriftsteller, Intellektueller oder Künstler aufzustellen, die die Zuschreibung, sie seien gefühllos, über sich ergehen lassen mussten. Und obwohl diese sechs nicht die einzigen Frauen sind, die den Vorwurf der Herzlosigkeit auf sich zogen (die Schriftstellerin Flannery O’Connor teilte dieses Schicksal zum Beispiel), zeichnen sie sich doch dadurch aus, dass ausgerechnet der Umgang mit dem Leid ein zentrales Thema ihrer Arbeit war. Ihre innerlich geführten Debatten über die Darstellungsmöglichkeiten schmerzhafter Realität und die Funktion von Schmerz im Allgemeinen bieten die Gelegenheit, ihr Denken und ihre Praxis nachzuzeichnen, sich darüber dem Begriff der Unsentimentalität anzunähern und zu erfragen, zu was er taugt. Da die Unsentimentalität nicht nur Stil, sondern auch Gegenstand ihrer Arbeit ist, können wir uns ihre ästhetischen, moralischen und politischen Dimensionen vor Augen führen: Unsentimentalität ist hier eine bewusst gewählte Option und kein zu mystifizierender Charakterzug. Diese Kontroversen entstehen nicht nur, weil sich die Konventionen des Gefühlsausdrucks bei Frauen und Männern voneinander unterscheiden oder weil Forderungen nach weiblicher Wärme und Sympathie eindringlicher vorgebracht werden. Das ist dank Jahrzehnten feministischer Forschung unstrittig. Namentlich die Tradition der Empfindsamkeit schuf im 18. Jahrhundert den stoischen »Mann von Gefühl« (aus dem öffentlichen Leben verschwand er wieder, als Mitgefühl und Sentimentalität im 19. Jahrhundert in die häusliche Sphäre verwiesen wurden).1 Von Eve Kosofsky Sedgwick in den 1980er Jahren über Julie Ellison in den 1990er Jahren bis unlängst hin zu Tania Modleski haben Wissenschaftlerinnen aufgezeigt, wie emotionale Reaktionen auf den Betrachter umgelenkt werden, wenn es sich bei dem Leidenden oder Mitleidenden um einen Mann handelt. Ganz gleich, ob bei einem perückenbewehrten Adam Smith oder einem schielenden Clint Eastwood, die Tradition der männlichen Zurückhaltung angesichts des Leidens – des eigenen und des Leidens anderer – wird meist auf die römischen und griechischen Stoiker zurückgeführt. Julie Ellison schreibt: »Für Adam Smith manifestiert sich das Idealbild moralischer Sensibilität in einem würdevoll Leidenden aus der Oberschicht, dessen Selbstbeherrschung seine Freunde zu Stellvertreter-Tränen veranlasst.«2 Dieses Bild erinnert an schnulzige Filme, in denen männliche Hauptdarsteller ein weibliches Publikum zu Tränen rühren, ein Phänomen, das Tania Modleski unter dem Schlagwort Male Weepies untersucht hat: »Echte Männer weinen nicht, oder vergießen höchstens nur ein paar trotzige Tränen; das Weinen übernehmen andere für sie – üblicherweise Frauen oder Menschen anderer Hautfarbe.«3 Wenn Adam Potkay recht damit hat, dass der Stoizismus immer wieder in neuem Gewand auftaucht, sind Gefühlswallungen heute am unteren Ende der sozialen Leiter angesiedelt. Das bedeutet, dass es nicht nur unnatürlich, sondern auch anmaßend erscheinen kann, wenn sich jemand ein stoisches Verhalten aneignet.4 Kurz gesagt, der Vorwurf, etwas sei »zu unsentimental«, kann zwei Dinge bedeuten: die Abwesenheit bewundernder Zuschauer, deren Aufgabe es wäre, anstelle des Protagonisten starke Emotionen auszudrücken, oder die Anwesenheit eines falschen Protagonisten, dessen Stoizismus nicht bewundernswert, sondern alarmierend ist. Die Unsentimentalität, um die es in diesem Buch geht, ist jedoch keine »stille und hoheitsvolle Trauer«,5 sondern ein ausbalancierter Versuch, Emotionen so zu steuern, dass niemand mit den Tränen kämpfen muss: weder die Autorinnen noch diejenigen, über die sie schreiben, noch ihre Leserschaft. Es war eine Folge der geschlechtsspezifischen Zuschreibung des...