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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Neiman Links ist nicht woke

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-446-27869-1
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die streitlustige Kritik einer überzeugten Linken an Identitätspolitik. „Susan Neimans klares Denken und ihre pfeilgenaue Sprache sind Rettung und Genuss.“ (Eva Menasse)

Seit sie denken kann, ist Susan Neiman erklärte Linke. Doch seit wann ist die Linke woke? In ihrer von Leidenschaft und Witz befeuerten Streitschrift untersucht sie, wie zeitgenössische Stimmen, die sich als links bezeichnen, ausgerechnet die Überzeugungen aufgegeben haben, die für den linken Standpunkt entscheidend sind: ein Bekenntnis zum Universalismus, der Glaube an die Möglichkeit des Fortschritts und die klare Unterscheidung zwischen Macht und Gerechtigkeit. Als Philosophin überprüft sie dabei die identitätspolitische Kritik an der Aufklärung als rassistisch, kolonialistisch, eurozentristisch und stellt fest: Die heutige Linke beraubt sich selbst der Konzepte, die für den Widerstand gegen den weltweiten Rechtsruck dringend gebraucht werden.
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Einleitung
Was dieses Buch nicht enthält: Tiraden gegen Cancel Culture oder Aufrufe zu Überparteilichkeit. Genauso wenig werde ich von der liberalen Tugend sprechen, sich um Verständnis für diejenigen zu bemühen, die unsere Ansichten nicht teilen, obwohl ich das eindeutig für eine Tugend halte. Doch verstehe ich mich nicht als Liberale. In Europa redet man gern von linksliberalen Werten, um das bedenkliche Wort »links« zu entkräften, zu dem ich weiterhin stehe. Meine Loyalität war von jeher parteiisch: Aufgewachsen bin ich in Georgia, während der Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung, und habe mich danach immer weiter nach links bewegt. Heute, wo selbst das Wort »liberal« in Amerika als Schimpfwort gebraucht wird, vergisst man leicht, dass es selbst dort einst Menschen gab, die sich ohne weiteres Sozialisten nannten. Anfang des Kalten Krieges schrieb kein Geringerer als Albert Einstein eine stolze Verteidigung des Sozialismus. Das würden heute immer weniger Menschen tun. Doch wie Einstein und viele andere lasse ich mich gerne eine Linke und Sozialistin nennen. Von den Liberalen unterscheidet sich die Linke darin, dass sie nicht allein die politischen Rechte hochhält, die uns Rede-, Religions-, Bewegungs- und Wahlfreiheit sichern, sondern auch die sozialen Rechte reklamiert, die eine reale Ausübung dieser politischen Rechte erst garantieren. Liberale Autoren sprechen von »Ansprüchen« oder »sozialer Sicherung«. Solche Begriffe lassen es so aussehen, als wären faire Arbeitsbedingungen, Bildung, Gesundheitsfürsorge und Wohnen Fragen der Wohltätigkeit und nicht der Gerechtigkeit. Dabei sind diese und andere soziale Rechte auf faire Arbeitsbedingungen, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Wohnen und Teilnahme am kulturellen Leben in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthalten, die 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Die meisten Mitgliedstaaten haben dieses Dokument unterzeichnet, und doch hat bislang keiner dieser Staaten eine Gesellschaft geschaffen, die all diese Rechte sicherstellt — die Erklärung ist rechtlich nicht bindend. Mag das Dokument auch in sagenhafte 530 Sprachen übersetzt worden sein, mehr als einen Anspruch formuliert die Erklärung nicht. Linkssein heißt, darauf zu bestehen, dass diese Ansprüche nicht utopisch bleiben. »Sich schrittweise durch die Veränderung des Rechts-, Fiskal- und Sozialsystems in diesem oder jenem Land auf den partizipatorischen Sozialismus zuzubewegen, ist durchaus möglich. Wir brauchen nicht auf die Einstimmigkeit des Planeten zu warten«, schreibt der Ökonom Thomas Piketty.1 Es reiche, die Steuern auf einen Satz zu erhöhen, der unter dem läge, den die Vereinigten Staaten und Großbritannien in der Ära des größten Wirtschaftswachstums nach dem Krieg erhoben haben. Piketty kommt zu dem Schluss, dass gerade die Desillusionierung über ökonomische und soziale Gerechtigkeit Identitätskonflikte auslöse.2 Es geht in diesem Buch auch nicht darum, dass sich die Linke mehr um ökonomische als um andere Formen der Ungleichheit kümmern sollte. Ich halte das zwar tatsächlich für richtig, aber dafür sind schon hinreichend Lanzen gebrochen worden. Mich beschäftigt vielmehr, warum sich sogenannte linke Stimmen der Gegenwart von philosophischen Ideen verabschiedet haben, die für den linken Standpunkt von zentraler Bedeutung sind: ein Bekenntnis zum Universalismus statt zum Stammesdenken, eine klare Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht und die Überzeugung, dass Fortschritt möglich ist. All diese Ideen sind miteinander verbunden. Aber sie werden im heutigen Diskurs kaum noch erwähnt. Das hat recht viele meiner über die Welt verstreuten Freunde zu dem bitteren Schluss kommen lassen, sie gehörten nicht mehr zu den Linken. Auch wenn sie sich ihr Leben lang für soziale Gerechtigkeit eingesetzt haben, finden sie die Entwicklungen auf Seiten der sogenannten woken Linken oder radikalen Linken äußerst befremdlich. Ich bin dennoch nicht bereit, das Wort »links« aufzugeben oder mich der Meinung anzuschließen, man sei entweder woke oder reaktionär. Stattdessen möchte ich untersuchen, wie die selbsternannte Linke von heute Kerngedanken hat fallenlassen, an denen jeder Linke festhalten sollte. In einer Zeit, in der auf allen Kontinenten antidemokratische und nationalistische Bewegungen wachsen, stehen wir da nicht vor drängenderen Problemen als dem, die Theorie zu klären? Eine Kritik an denen, die vermeintlich die gleichen Werte teilen, könnte narzisstisch klingen. Doch sind es wahrlich keine kleinen Unterschiede, die mich von denen trennen, die sich für woke halten. Die Differenzen betreffen nicht bloß Stil und Ton, sie treffen ins Herz dessen, was es heißt, links zu sein. Die größere Gefahr mag von den Rechten ausgehen, doch die Linken von heute haben sich selbst der Ideen beraubt, die wir unbedingt brauchen, um dem allgemeinen Rechtsruck zu widerstehen. Die Verschiebung nach rechts findet international statt und ist gut organisiert. In Bangalore, Budapest und anderswo kommen rechte Nationalisten regelmäßig zusammen, um sich gegenseitig zu unterstützen und Strategien abzusprechen, auch wenn jede Nation dabei ihre Zivilisation für die höhere hält. Die Solidarität unter den Rechten zeigt, dass nationalistische Überzeugungen nur am Rande auf der Idee fußen, Ungarn/Norweger/Juden/Deutsche/Angelsachsen/Hindus seien der beste aller möglichen Stämme. Was sie eint, ist vielmehr das Prinzip des Stammesdenkens selbst: Echte Verbindungen entstehen nur zwischen Menschen gleicher Stämme, folglich haben wir keine tiefen Verpflichtungen gegenüber anderen. Es ist mehr als ironisch, dass die Stammesdenker von heute besser kooperieren als diejenigen, deren Engagement sich, ob sie es nun wissen oder nicht, aus dem Universalismus speist. Woke bezeichnet keine eigentliche Bewegung. Der Ausdruck stay woke ist zum ersten Mal 1938 in dem Lied Scottsboro Boys des großen Bluesmusikers Leadbelly belegt. Gewidmet war es neun schwarzen Teenagern, deren Hinrichtung wegen Vergewaltigungen, die sie nie begangen hatten, erst durch jahrelange internationale Proteste verhindert werden konnte. Wach bleiben für Ungerechtigkeit, wachsam für Anzeichen von Diskriminierung, was sollte daran falsch sein? Doch innerhalb weniger Jahre wandelte sich der Begriff woke vom Lobes- zum Schmähwort. Was ist da geschehen? Von Ron DeSantis bis zu Rishi Sunak und Éric Zemmour ist woke zu einem Schlachtruf geworden, der zum Kampf gegen alle Antirassisten aufruft, ähnlich wie der Begriff Identitätspolitik ein paar Jahre früher umgekrempelt worden ist. Dennoch liegt die Schuld nicht allein bei den Rechten. Barbara Smith, Gründungsmitglied des Combahee River Collective und Schöpferin des Begriffs, betont, dass Identitätspolitik inzwischen auf eine Weise gebraucht wird, die nie beabsichtigt worden ist. »Es bedeutet absolut nicht, dass wir nur mit Menschen zusammenarbeiten würden, die so sind wie wir. Unser Credo ist es, mit Menschen ganz diverser Identitäten an gemeinsamen Problemen zu arbeiten.«3 Man könnte dennoch auf die Idee kommen, schon in den ursprünglichen Absichten habe der Keim zum Missbrauch gelegen. Dass aber weder die Wörter Identitätspolitik noch woke Politik mit der notwendigen Nuanciertheit eingesetzt wurden, ist offensichtlich Beide führten zu Entfremdungen, die sich die Rechten schnell zu Nutze machten. Universitäten und Unternehmen neigen eher dazu, woke Tendenzen zu eskalieren als Aktivisten, die vor Ort arbeiten. Der schlimmste Missbrauch geht vom woken Kapitalismus aus, der die Forderung nach Vielfalt zum Zwecke der Profitsteigerung gekapert hat. Der Historiker Touré Reed hält diesen Vorgang für wohlkalkuliert: Unternehmen glauben, dass Schwarze einzustellen ihnen Zugang zu deren Märkten verschafft.4 Oft geschieht eine solche Vereinnahmung direkt und unverhohlen. McKinseys Bericht für die Filmindustrie erklärt: »Die Industrie konnte durch die Thematisierung der anhaltenden rassistischen Ungerechtigkeit jährlich 10 Milliarden Dollar zusätzlich an Gewinn machen — etwa sieben Prozent mehr als der geschätzte Ausgangswert von 148 Milliarden Dollar.«5 Selbst abgesehen von der kruden Ausbeutung dessen, was mit fortschrittlichen Zielen begonnen hat, ist woke vielfach zur Symbolpolitik geworden, anstatt sozialen Wandel einzuleiten. Woker Kapitalismus war das...


Neiman, Susan
Susan Neiman, 1955 in Atlanta, Georgia, geboren, war Professorin für Philosophie an den Universitäten Yale und Tel Aviv, bevor sie im Jahr 2000 die Leitung des Einstein Forums in Potsdam übernahm. Bei Hanser Berlin erschienen von ihr zuletzt Warum erwachsen werden? (2015), Von den Deutschen lernen (2020) und Links ist nicht woke (2023). Sie lebt in Berlin.

Goldmann, Christiana
Christiana Goldmann lebt und arbeitet in Berlin. Sie übersetzt aus dem Englischen, Französischen und Niederländischen, unter anderem Stanley Cavell, Michael Walzer und Honoré de Balzac.


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