E-Book, Deutsch, 301 Seiten
Neeb Der Wundermann
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95542-132-8
Verlag: Societäts-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Frankfurt-Roman
E-Book, Deutsch, 301 Seiten
ISBN: 978-3-95542-132-8
Verlag: Societäts-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als der geheimnisvolle Martin in Frankfurt auftaucht, ist die ganze Stadt entzückt. Nach kurzer Zeit verkehrt er bereits in den besten Kreisen und bezaubert Damen und Herren gleichermaßen. Für die feine Gesellschaft rund um den Römer ist er der „Wundermann“, doch sie kennen das Lebensmotto des Betrügers und Erzschelms nicht: „Die Welt will betrogen sein“. Ursula Neeb ist ein bildmächtiger und einfühlsamer Roman über das spätmittelalterliche Frankfurt gelungen. Nach ihrem erfolgreichen Debüt „Die Siechenmagd“ lockt sie nun den Leser in die faszinierende Welt des 16. Jahrhunderts, in dem Gaukler, Pfaffen und Goldmacher die Messestadt am Main unsicher machen. In ihrem Mittelpunkt steht Martin, der vom armen Waisenkind zum Liebling der Gesellschaft wird – und hart dafür bestraft wird.
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2. Martinus
Als sie vor der Klosterpforte angelangt sind, welche, eingebettet in eine hohe Mauer aus wuchtigen Natursteinen, eher schlicht und bescheiden anmutet, zückt Klara Möbs ein kleines weißes Sacktuch, benetzt es kurz mit ihrem Speichel und fährt Martin rasch damit noch einmal übers Gesicht. Dann rückt sie ihm die frisch gestärkte Haube zurecht und läutet schließlich mit tiefem Seufzen die Schelle. Kurz darauf hört man auch schon energische Schritte, und im Portal wird eine kleine Luke geöffnet. Ein junger Mönch blinzelt ihnen entgegen, um ihnen sogleich mit gesenktem Blick sein »Gelobt sei Jesus Christus« zu entbieten und sie nach ihrem Begehr zu fragen. Klara überreicht dem Pförtner das Schreiben Polkerts und bittet darum, den Prior sprechen zu dürfen.
»Seine Eminenz der Herr Prior befinden sich momentan bei einer Beratung im Kapitelsaal und sind auch für einige Zeit nicht abkömmlich. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr im Kreuzgang auf ihn warten, ansonsten rate ich Euch an, besser ein anderes Mal wiederzukommen«, erwidert der Mönch abweisend, wobei er geflissentlich über Klara Möbs hinwegschaut.
»Wir warten solange«, entscheidet Klara nach kurzem Zögern.
Der Bruder öffnet ihnen die Pforte und lässt sie eintreten. Er ist ausgesprochen hager und trägt über einer wollenen Tunika das weiße, aus ungebleichter Schafswolle gefertigte Ordensgewand der Norbertiner, unter dem klobige Holzpantinen hervorlugen. Schweigend geht er vor ihnen her und geleitet sie an dem mächtigen, steinernen Gebäudekomplex des Klosters vorbei, dessen Mittelpunkt eine doppeltürmige Basilika von strenger Schlichtheit bildet. Bald sind sie am Kreuzgang angelangt und werden von ihrem Begleiter beschieden, hier zu warten, bis man ihnen Bescheid gebe.
Klara und Martin lassen sich in einem der großen, offenen Fensterbögen nieder und blicken hinaus in den wohlgepflegten Klostergarten.
Nachdem sie bald zwei Stunden gewartet haben, um sie herum nur Stille und keine Menschenseele, erklingt mit einem Mal das durchdringende Läuten der Kirchenglocke, und die Mönche strömen von allen Seiten zum Gottesdienst. Schweigend und ohne sie eines Blickes zu würdigen, ziehen sie an den Wartenden vorüber, bis plötzlich der Pförtner wieder vor ihnen steht und ihnen mitteilt, dass man jetzt zur neunten Stunde die Terz begehe, und hernach könne der Herr Prior ein wenig Zeit erübrigen. Nach einer Weile, die Mönche sind gerade aus der Kirche getreten und gleich wieder in verschiedenen Gebäudebereichen des Klosters verschwunden, nähert sich den Wartenden endlich ein junger Geistlicher und fordert sie auf, ihm zu folgen. Klara zittert vor Aufregung und Kälte, als sie mit Martin an der Hand hinter dem Mönch das Innere der Klosteranlage betritt. Durchgefroren, wie sie nach dem langen Warten ist, muss sie feststellen, dass es hinter den meterdicken Mauern kein bisschen wärmer ist als draußen im zugigen Kreuzgang. Nach einem langen Weg durch verwinkelte Gänge, deren karge, weißgetünchte Wände gelegentlich mit einem schlichten Holzkreuz geschmückt sind, gelangen sie an eine breite, geschlossene Holztür. Der Mönch weist sie an, an die Seite zu treten, während er anklopft und höflich auf die Aufforderung zum Eintreten wartet. Sodann öffnet er die Tür, verbeugt sich ehrfürchtig und meldet, die Gesindemagd Klara Möbs mit Sohn Martin sei nun da. Auf eine knappe Zustimmung von drinnen hin gibt der Mönch Mutter und Sohn herrisch ein Zeichen, rasch einzutreten, schließt die Tür hinter ihnen und zieht sich zurück. Klara und Martin sind beeindruckt von dem behaglichen Raum, den sie betreten haben. Entgegen der Kargheit in den Gängen und Fluren ist der großzügig geschnittene Raum mit schweren Teppichen ausgelegt und mit kunstvollen Kultgegenständen angefüllt. Auch die Wände zieren eine Vielzahl von prächtigen Gemälden in prunkvollen Goldrahmen sowie ein edler Wandteppich, der Jesus bei der Fußwaschung abbildet. Klara Möbs wird es beim Anblick der ungewohnten Pracht noch ein wenig mulmiger zumute, doch tapfer versucht sie, ihrer Beklommenheit Herr zu werden und verneigt sich vor dem Prior, der hinter einem langen Tisch, auf welchem sich Folianten und Schriftstücke stapeln, auf einem Stuhl mit hoher Lehne thront. Klara hat den Prior noch nie zu sehen bekommen, geschweige denn, dass sie ihm jemals von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hätte. Sie weiß lediglich, dass Renatus von Falkenstein ein vornehmer, mächtiger Mann ist, vor dem alle Welt in der Umgegend von Ilbenstadt zu Kreuze kriecht. Daher kommt er der einfachen Frau vor wie der Herrgott persönlich – und genauso gebärdet er sich auch.
»Gelobt sei Jesus Christus!«, tönt er mit staubtrockener Stimme und mustert die Eintretenden abschätzig.
»In Ewigkeit, Amen!«, erwidern Klara und Martin, die wie ein Häufchen Elend vor ihm stehen, im Chor.
»Wieder nur ›homines pauperes et nihil habentes‹8, wie könnt’s auch anders sein!«, murmelt der Klostervorsteher unwirsch und verzieht angewidert sein hohlwangiges Klerikergesicht.
»Sie mögen Platz nehmen«, weist er ungeduldig auf zwei Stühle, die vor dem Tisch stehen.
»Was ist Ihr Begehr?«, fragt er und fixiert Klara und Martin mit kalten, eisgrauen Augen.
Das Herz schlägt Klara bis zum Halse, als sie mit bebender Stimme ihr Anliegen vorträgt und nicht verhindern kann, dass ihr beim Schildern ihrer Notlage die Tränen in die Augen treten. Als sie abschließend den Abt bittet, doch ihren Buben im Kloster aufzunehmen und für ihn zu sorgen, kann sie nicht länger an sich halten und birgt schluchzend ihr Gesicht in den Händen. Renatus indessen scheint von ihrer Seelenpein gänzlich unbeeindruckt zu sein. Derartige Auftritte solcher Kleinhäusler, die bei ihm irgendetwas erreichen wollen, ist er hinlänglich gewöhnt. Deshalb reagiert er zunächst auch abweisend auf Klaras Ansinnen. Konstatiert trocken, Martin sei ja nur eine Halbwaise, für die doch seine Mutter, die ja offensichtlich in bester Gesundheit stünde, durchaus selber sorgen könne, zumal, wenn sie so tüchtig und fleißig sei wie aus Polkerts Empfehlungsschreiben hervorgehe. Außerdem: Wenn sie sich tatsächlich außerstande fühle, ihre Kinder durchzufüttern, dann solle sie sich doch gefälligst wieder einen Mann nehmen, der ihr helfe, die hungrigen Mäuler zu stopfen.
Zu häufig käme es in letzter Zeit vor, dass arme Leute ihre Kinder zu den Brüdern bringen würden, weil sie sich einfach von der Pflicht drücken wollten, für die Ernährung ihrer Sprösslinge aufzukommen. Und der kleine Martin wäre ja nur ein Hungerleider mehr, welcher der brüderlichen Mildtätigkeit zur Last falle, schließt der Prior ungnädig und will der Bittstellerin auch schon die Tür weisen, als Martin auf einen Wink der Mutter hin beginnt, mit reiner Knabenstimme das »Te Deum Laudamus« zu singen, wie er es in der Wöllstädter Pfarrkirche bestimmt hundertmal mitgesungen hat.
Schauderhaft, dieses Bauernlatein! Doch das Stimmchen – welch ein Zugewinn für unseren Chor!, muss sich Renatus eingestehen, als er, zunächst noch widerwillig, dann aber immer mehr angetan vom melodischen Gesang des hübschen Knaben, kurzzeitig gar in Erwägung zieht, den kleinen Bauerntölpel doch aufzunehmen. Die ganze Zeit über schon konnte sich der ansonsten eher kühle Kleriker dem Liebreiz des Jungen kaum entziehen, der ihn mit seinen großen, schwarzen Augen treuherzig anblickte, und mit einem Mal ärgert er sich maßlos über diese Schwäche.
»Wasche und kämme den Hund – Hund bleibt Hund, und Bauer bleibt Bauer. Auch wenn man ihm die schönsten Spitzenhauben verpasst!«, bemerkt er süffisant, als Martin geendet hat, und wirft Klara Möbs einen spöttischen Blick zu.
Diese erhebt sich, beleidigt bis ins Mark, ergreift Martin bei der Hand und will sich mit frostigem Gruß bereits zum Gehen wenden, als der Prior sie zurückruft. Martin könne bleiben, verkündet er spontan. Zumindest solange, bis er in der Lage sei, für sich selbst zu sorgen, und das dürfte ja bereits in ein paar Jahren soweit sein. Außerdem, an Arbeit mangele es im Kloster nie, und tüchtige Laienbrüder könne man immer gebrauchen, man werde schon sehen, womit man ihn betraue. Und wenn er gelehrig genug sei, das freilich müsse sich erst herausstellen, dürfe er vielleicht sogar die Lateinschule besuchen, bemerkt er gönnerhaft und betätigt schwungvoll eine Schelle, die vor ihm auf dem Tisch steht. Umgehend öffnet sich die Tür, und der junge Mönch, der Klara und Martin hereingeführt hat, erscheint im Türrahmen und verbeugt sich vor dem Prior. Er möge sogleich Bruder Melchior hochschicken, den jungen Laienzögling einzuweisen, beauftragt ihn Renatus mit befehlsgewohnter Stimme. Klara Möbs indessen ist kreidebleich geworden. Nun, da ihr bewusst wird, dass die Stunde gekommen ist, von Martin Abschied zu nehmen, spürt sie, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzieht. Ob sie ihren Sohn denn bald besuchen dürfe, fragt sie stammelnd, mit zitternder Stimme.
Der Junge müsse sich erst einmal eingewöhnen und bewähren, bescheidet ihr der Prior streng. Ständige Verwandtenbesuche würden die Zöglinge erfahrungsgemäß nur unruhig machen. Zu Erntedank sei traditionsgemäß Besuchstag im Kloster. Dann könne sie ja einmal vorbeischauen. Aber auch nicht gleich für einen halben Tag, sondern lediglich für ein Stündchen. Mehr Zeit ließe sich innerhalb des dichten Tagesablaufs im Kloster in der Regel ohnehin nicht erübrigen.
Schweren Herzens verabschieden sich Mutter und Sohn voneinander, küssen und umarmen sich unter Tränen, und Klara gelobt eindringlich, im Herbst wiederzukommen, um Martin zu besuchen.
»Was für eine...