Nassehi / Felixberger / Anderl | Kursbuch 219 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

Nassehi / Felixberger / Anderl Kursbuch 219

Im Exil

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

ISBN: 978-3-96196-369-0
Verlag: Kursbuch Kulturstiftung gGmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Selbst im Exil ist es nicht so schlimm zu leben wie allein im Vaterlande" – das schrieb Stefan Zweig in seinem Londoner Exil, und in diesem Satz ist die Spannung des Exils gut aufgehoben. Das, was der Exilant zurücklässt, muss so schlimm sein, dass ein Exil besser ist als dies – und doch bleibt das Zurückgelassene das Eigene. Im Exil zu sein, ist nicht einfach ein Ortswechsel, sondern eine Multiplikation von Orten im Exilanten selbst.
Genau diese Orte und Knotenpunkte sucht dieses Kursbuch auf. Sibylle Anderl rät allen Erdlingen von künftigen Mars- oder Weltraumexilen ab. Armin Nassehi stellt die Frage, ob der Fisch überhaupt weiß, dass er im Wasser lebt und einen Begriff des Wassers haben kann. Christoph Markschies zeigt, wie das babylonische Exil der Juden bis heute den Horizont ihres Selbstverständnisses prägt. Georg Glasze und Henning Füller wiederum beschäftigen sich mit Konzepten von Privatstädten, gewissermaßen Wohnexilen auf dem Planeten, die gerade in Saudi-Arabien und andernorts entstehen.
Ein besonderes inneres Exil thematisiert das Interview mit Katrin Nemec und Katharina Köster. Die beiden Dokumentarfilmerinnen haben mit ihrem Film "Jenseits von Schuld" Eltern eines Serienmörders begleitet, die sich behaupten müssen: als Eltern, die verkraften müssen, dass ihr eigenes Kind unfassbare Verbrechen begangen hat, und als Menschen, die von außen als exakt solche Eltern wahrgenommen werden. Jens Siegert beschäftigt sich mit einem abgelehnten Exil, nämlich mit dem Fall Alexej Nawalnys, der trotz aller Drohung und trotz Anschlägen auf sein Leben im Exil nach Russland zurückkehrte und in einem Lager zu Tode kam. Barbara Sheldon und Enno Aufderheide berichten von der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Exil annimmt und ihnen wissenschaftliche Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland bietet.
Ein Schwerpunkt dieses Kursbuchs sind literarische Arbeiten von acht Autorinnen und Autoren, die allesamt in Deutschland im Exil sind, weil sie in ihren Heimatländern verfolgt werden und keine Chance haben, frei und ohne Repression zu arbeiten. Es sind Behnaz Amani (Iran), María Teresa Montaño Degado (Mexiko), Pezhmann Golchin (Iran), Anisa Jafarimehr (Kurdistan/Iran), Collen Kajakoto (Simbabwe), Mubeen Khishany (Irak), Stella Nyanzi (Uganda) und Zimicier Vishniou (Belarus).
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Sibylle Anderl Hiergeblieben
Ein kurzes Plädoyer gegen ein futuristisches Exil im Weltall Es wäre das radikalste Exil, das man sich vorstellen kann. In seiner Beschaffenheit, aber auch in der Hinsicht auf alles, was aus ihm folgen würde. Könnte es sein, dass wir irgendwann die Erde verlassen müssen, um Schutz im All zu suchen? Auf dem Mond vielleicht, oder besser: gleich auf dem Mars? Dass wir Exilerdlinge werden? Die New York Times berichtete kürzlich, dass Mitarbeiter des Unternehmens SpaceX erstaunlich konkret an den nötigen Technologien für die Errichtung einer Weltraumkolonie auf dem Mars arbeiten. Es gehe um Pläne für die Gebäude und die Beschaffung von Baumaterialien, außerdem würde an Raumanzügen gearbeitet, damit die Bauten für Spaziergänge in der dünnen Marsluft verlassen werden können. Und schließlich gehe es um die Frage, wie man auf dem Mars Kinder bekommen könne. Das alles klingt zwar verrückt, zumal, wenn man beobachtet, wie schwer sich die Amerikaner gleichzeitig mit ihrem Artemis-Programm tun, also allein damit, wieder Menschen für ein paar historische Schritte auf dem Mond zu bewegen. Überraschend sind diese sehr konkreten Marsvorbereitungen allerdings nicht. Die Legende besagt schließlich, dass Elon Musks Wunsch nach einem möglichen Fluchtort für die Menschen im All 2002 ganz am Anfang seines Weltraumengagements stand, nachdem er bemerkt hatte, dass die NASA nichts dergleichen plane. Seitdem zieht sich der Planet als ein (passenderweise) roter Faden durch seine vielfältigen unternehmerischen Tätigkeiten. Immer wieder betont er, wie wichtig es wäre, dass die Menschheit zu einer multiplanetaren Spezies wird. In 20 Jahren, so wird er aus einer Rede im April zitiert, erwarte er, dass eine Million Menschen auf dem Mars leben würden. »Die Dringlichkeit ist hoch, das Leben multiplanetar zu machen. Wir müssen das schaffen, solang unsere Zivilisation noch so stark ist.« Mit seiner wiederverwendbaren Riesenrakete Super Heavy rocket und dem Starship-Raumschiff, das auch der Kombination aus beidem seinen Namen gibt, will er die passenden Transportmittel bauen. 150 Tonnen soll die Rakete transportieren können, 100 Tonnen sollen mit Starship pro Flug bis zum Mars fliegen. Der Trick: Tanken im Erdorbit, um das Gewicht des Treibstoffs beim Start einzusparen. Daran, dass das erste Ziel von Starship, zum Mond zu fliegen, nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zum Mars ist, bleibt kein Zweifel, wenn man auf die Seiten von SpaceX schaut. Angeblich soll das Raumschiff für den etwa neun Monate dauernden Trip deutlich ausgebaut werden mit Wohn-, Fitness- und Unterhaltungsräumen, damit sich die rund 100 Passagiere auf der langen Reise wohlfühlen. Aber was wären mögliche Gründe, die Erde zu verlassen und sich auf einem fremden Planeten niederzulassen? Der menschliche Entdeckergeist wird immer wieder zitiert, der unsere Vorfahren seit jeher dazu gebracht hat, ihre Lebensräume auszudehnen und Neues zu erkunden. Nachdem wir mit der Erde fertig sind, kommt jetzt der Weltraum. Wäre das tatsächlich die einzige Motivation, hätte das Leben auf dem Mars wenig vom Schicksal eines Exilanten. Es wäre eine Kolonialisierungsbewegung, vergleichbar mit all jenen, die wir auf der Erde bisher erlebt haben. Ein Leben im Exil bleibt untermalt vom Gedanken an die wirkliche Heimat, von einem Gefühl der Fremdheit und des Nicht-hierher-Gehörens, nachdem man gezwungen war, das Vertraute, Geliebte zurückzulassen. Es ist geprägt von der Sehnsucht nach dem Alten und der Hoffnung auf ein Ende des Exils, verbunden mit einer möglichen Rückkehr in die Heimat. Szenarien für eine nicht freiwillige Flucht ins All gibt es: Wenn wir weiterhin die Erde zerstören, wenn die Erde von einem Asteroiden getroffen, wenn die Menschheit von schlimmen Seuchen heimgesucht würde, könnte ein Außenposten auf dem Mars den Fortbestand der Menschheit retten. Und wenn es erst einmal diesen Außenposten gäbe, würde er auch für all jene taugen, die auf der Erde politisch verfolgt wären. Exil im All? Gar nicht so unwahrscheinlich? Wer sich etwas genauer damit beschäftigt, was ein Leben auf dem Mars bedeuten würde – so meine These –, wird kaum anders können, als einzusehen: Ein Leben auf dem Mars wird sich gar nicht anders anfühlen können wie ein Leben im Exil, unabhängig davon, welche Gründe den Raumfahrer tatsächlich dorthin verschlagen haben. Es wäre in jedem Moment durchwirkt vom alles dominierenden Gefühl des Fremdseins, von irdischer Sehnsucht. So, wie man nicht ohne großen Druck freiwillig ins Exil geht, wird man auch die Erde nicht verlassen wollen, sobald sich verbreitet hat, was das tatsächlich heißt. Der Blick auf die Erde
Wer die Erde aus dem All sieht, ist nicht mehr derselbe, so heißt es immer wieder. Der Blick auf den Heimatplaneten ist Auslöser für eine emotional-reflektive Reaktion, die als »Overview Effect« bezeichnet wird. Astronauten berichten, wie sehr sie dieser Blick bewegt und geprägt hat. In ihren Erzählungen kommt immer wieder die »Verletzlichkeit« des Planeten zur Sprache, die Bestürzung, dass es in diesem für kosmische Maßstäbe winzigen, für die Menschen so perfekten Lebensraum so viele Kriege und Konflikte gibt. Berichtet wird vom Gefühl einer besonderen Verbundenheit mit allen anderen Menschen und der Erde selbst. Und von der Motivation, der Zerstörung und dem Leid auf der Erde etwas entgegenzusetzen. In vielen Schilderungen ist die nostalgische Sehnsucht nach einer intakten, friedlichen irdischen Heimat zu spüren. Besonders eindrucksvoll hat das erst kürzlich der Schauspieler William Shatner beschrieben, der 2021 mit Jeff Bezos’ Unternehmen Blue Origin einen kurzen Flug in den Weltraum absolvieren durfte. Der 91-Jährige beschrieb seinen Zustand nach der Rückkehr als von tiefer Trauer geprägt. Er erfuhr beim Blick auf die Erde nicht den Eindruck kosmischer Harmonie, sondern: »I had a different experience, because I discovered that the beauty isn’t out there, it’s down here, with all of us. Leaving that behind made my connection to our tiny planet even more profound.« [»Ich hatte eine andere Erfahrung, denn ich entdeckte, dass die Schönheit nicht dort draußen ist, sie ist hier unten, bei uns allen. Dadurch, dass ich das alles hinter mir gelassen habe, wurde meine Verbindung zu unserem winzigen Planeten noch tiefer.«] Und weiter: »The contrast between the vicious coldness of space and the warm nurturing of earth below filled me with overwhelming sadness.« [»Der Kontrast zwischen der bösartigen Kälte des Weltraums und der warmen Fürsorglichkeit unserer Erde erfüllte mich mit überwältigender Traurigkeit.«] Der Autor Frank White, der in den 1980er-Jahren die Bezeichnung »Overview Effect« einführte, sah diesen Effekt als Bestätigung unserer Berufung, eine Spezies im interplanetaren Raum zu werden. Seiner Einschätzung nach gibt es den Effekt in verschiedenen Abstufungen. Je weiter die Erde entfernt ist, desto stärker sollte der bewusstseinserweiternde Effekt als eine »kopernikanische Perspektive« wirken. Vom Mars aus, in einer durchschnittlichen Entfernung von 228 Millionen Kilometern, ist die Erde nur noch ein heller Punkt am Himmel. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass dieser Anblick – punktförmig dann nur noch Anlass einer vagen Erinnerung an die Schönheit und Vielfalt unserer Erde – in einer lebensfeindlichen Umgebung statt zu einer Bewusstseinserweiterung eher zu einer tiefen existenziellen Form von Heimweh, Nostalgie und Sehnsucht führen kann. Und tatsächlich beschreibt White auch das »Earth-out-of-view«-Phänomen: Wenn die Erde für längere Zeit aus dem Blick gerät, könne das zu einer besonderen Form von Trennungsangst führen, aus der eine existenzielle Krise und im schlimmsten Fall Selbstmord oder blinde Zerstörungswut resultieren könnten. Whites Lösung: Die Erde mit einem Teleskop betrachten und auf diese Weise zurück in die Nähe holen. Fraglich aber, ob das wirklich die Lösung ist oder ob das die Wehmut und Verzweiflung nicht noch vergrößern würde. Lebensfeindlich
Der Mars ist etwa halb so groß wie die Erde und um die 1,5-fache Erde-Sonne-Distanz von der Sonne entfernt. Während hier auf der Erde von der Sonne durchschnittlich eine Energie von 1361 Watt pro Quadratmeter auf die Atmosphäre trifft, sind es auf dem Mars nur noch 586 Watt pro Quadratmeter. Das, zusammen mit der Tatsache, dass der Mars eine nur sehr dünne Atmosphäre besitzt, macht ihn zu einem sehr kalten Ort. Die Durchschnittstemperatur liegt bei minus 63 Grad Celsius (SpaceX schreibt dazu: »It’s a little cold, but we can warm it up« – dazu später mehr). Der Atmosphärendruck auf dem Mars entspricht 0,6 Prozent des mittleren...


Felixberger, Peter
PETER FELIXBERGER (*1960) ist Herausgeber des Kursbuchs und Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: »Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?«

Nassehi, Armin
Armin Nassehi (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem »Mit dem Taxi durch die Gesellschaft«, in der kursbuch.edition erschien zuletzt »Das große Nein. Eigendynamik und Tragik gesellschaftlichen Protests«.

Anderl, Dr. Sibylle
SIBYLLE ANDERL (*1981), ist Astrophysikerin und Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschien "Das Universum und ich. Die Philosophie der Astrophysik."

Armin Nassehi (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem »Mit dem Taxi durch die Gesellschaft«, in der kursbuch.edition erschien zuletzt »Das große Nein. Eigendynamik und Tragik gesellschaftlichen Protests«.

PETER FELIXBERGER (*1960) ist Herausgeber des Kursbuchs und Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: »Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?«

SIBYLLE ANDERL (*1981), ist Astrophysikerin und leitet das Wissensressort der ZEIT. Sie ist Mitherausgeberin des Kursbuchs. Zuletzt erschien "Dunkle Materie. Das große Rätsel der Kosmologie."


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