Nassehi / Felixberger / Anderl | Kursbuch 210 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Nassehi / Felixberger / Anderl Kursbuch 210

Im Vertrauen

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-96196-269-3
Verlag: Kursbuch Kulturstiftung gGmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Vertrauen ist in diesen Zeiten ein Wert, der stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Im Ukrainekrieg wird gerade Vertrauen zwischen Ländern verspielt. Mit zivilisatorisch noch überhaupt nicht absehbaren Folgen. Die Corona-Pandemie hat zwischenmenschlich Gräben zwischen Geimpften und den Impfnaiven geschaffen. Kein Wunder, dass sich das Kursbuch auf die Spuren von Vertrauensverlust und Vertrauenskrise begibt. Wie immer aus einer spannenden Perspektivendifferenz, die sich den Widersprüchen und Paradoxierungen widmet. Rafaela Hillerbrand versucht eine Vertrauensbrücke zwischen Technikskeptikern und Technokraten zu schlagen. Christina von Braun zeichnet eine kleine Geschichte des Vertrauensverlustes in kapitalistischen Fakewelten nach. Im Interview mit Jan Philipp Reemtsma geht es um die Bedingungen von Vertrauensverlust in Kriegen und unter Gewalteinwirkung. Christopher Daase und Nicole Deitelhoff wiederum zeigen, ob es künftig überhaupt noch kooperative Sicherheitsnormen zwischen Ländern, UNO und supranationalen Institutionen geben kann. Lars Hochmann zeigt schließlich, welche wachsende Rolle Vertrauen in der Unternehmensführung spielt. In den Intermezzis geht es dieses Mal um die Frage, wann Vertrauen beginnt und wann sie aufhört. Es schreiben ein Kletterer, eine Polizistin, ein Blinder, ein Pilot, ein Astronaut und ein Taucher.
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Armin Nassehi
Das blinde Korn
Die dunkle Seite des Vertrauens und was das mit der NATO zu tun hat Ohne einen Vertrauensvorschuss in die Welt wäre menschliches und vielleicht auch tierisches Leben kaum möglich. Fast alles, was wir tun, rechnet mit Voraussetzungen, die wir nicht nur nicht herstellen können, sondern auch nachgerade unbesehen voraussetzen müssen. Was die phänomenologische Tradition Lebenswelt nennt, ist die Welt, die insofern vorausgesetzt ist, als es die Welt ist, in der wir »immer schon« leben. Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, spricht von einer »natürlichen Einstellung« 1, sein Schüler, der Soziologe Alfred Schütz, vom »unbefragten Boden« 2, auf dem wir uns bewegen. Die Figur des Immer-schon ist eine sehr schöne Denkfigur. Sie meint kein historisches Immer-schon, auch nicht, dass sich die Welt nicht verändert. Es meint, dass es keine Perspektiven außerhalb unserer eigenen Perspektiven gibt. Selbst die immer wieder verlangte und so notwendige Form der Perspektivenüberschreitung, der Perspektivenübernahme und der Selbstkritik durch Reflexion kann die eigene Perspektive nicht verlassen – allenfalls verschieben. Eigene Perspektiven bleiben eigene Perspektiven. Man kann nicht mit dem eigenen Wahrnehmungsapparat am eigenen Wahrnehmungsapparat vorbeisehen, um zu prüfen, ob die Welt da draußen wirklich so ist, wie sie uns erscheint, und man kann die eigenen sozialen Erfahrungen zwar transzendieren, negieren, infrage stellen, ablehnen und neu interpretieren, andere Unterscheidungen darauf anwenden oder sich therapeutisch auf andere Beschreibungen einlassen, aber all das geschieht unhintergehbar auf dem Boden und mit dem Horizont dessen, was »immer schon« gilt, nämlich die Perspektivität der eigenen Perspektive. Das mag sich anhören wie eine allzu abstrakte Beschreibung, aber es findet sich empirisch überall. Man denke nur an Assoziationsketten, die sich in unserem Bewusstsein bei entsprechenden Reizen wiederholen, oder man denke an Sprechweisen, Begriffe und Sagbarkeiten, die das Leben biografisch durchziehen. Und es gilt sogar für größere kulturelle, religiöse, politische oder sonstige kollektive Zusammenhänge. All dies erzeugt Bestätigungen von Vorherigem – und die Abweichung von Vorherigem ist eben nicht nur Abweichung, sondern eben Abweichung von Vorherigem. Dass Konvertiten besonders streng werden können, liegt womöglich an einer Überkompensation und besonderem Anpassungsdruck.3 Was mit dem Begriff der Lebenswelt beschrieben wird, beschreibt das Verstricktsein in die eigene Perspektive, das man sich nicht von außen ansehen kann. Mit dem Lebensweltbegriff wird zugleich auch die Grenze zwischen vertrauten und nicht vertrauten Formen markiert – und auch diese Unterscheidung ist asymmetrisch gebaut. Der Vorrang des Vertrauten sorgt dafür, dass das Unvertraute eben aus der Perspektive des Vertrauten beobachtet und bewertet wird. Man kann diesen Vorrang moralisch disqualifizieren, weil man so asymmetrisch auf die Welt sieht und das »Eigene« vor dem »Fremden« rangieren lässt. Allerdings unterschätzt man dann das Immer-schon – denn schon die Neigung zum »Fremden« oder »Unvertrauten« erfolgt auf dem Boden des Vertrauten. So ist gerade das »Fremde« eine merkwürdige Form der Verfremdung. Denn zumeist gehen in dieses Fremde die Projektionen des Vertrauten ein – und das gilt sowohl für die Feindschaft als auch für die Affirmation dessen, was als fremd markiert wird. Dadurch wird das Fremde selbst zum Vertrauten und neigt zu Stereotypen, die eben stets die eigenen Stereotype sind.4 Dem Immer-schon ist schwer zu entkommen – die Immanenz der eigenen Lebensform beziehungsweise der eigenen Perspektive ist schwer transzendierbar, und wenn, dann immer im Rahmen der angedeuteten Asymmetrie. Auf dem Boden dieser Argumentation lässt sich Vertrauen gut beschreiben. Vertrauen basiert auf der (unbesehenen) Geltung des Vertrauten. Vertrauen ist die Formel, dass das Immer-schon nicht weiter thematisiert werden muss oder eben nur in einem Rahmen, in dem Abweichungen gut auszuhalten sind. Vertrauensbeziehungen Der moderne Alltag ist voller Vertrauensbeziehungen, die uns das Leben erst ermöglichen. Zunächst gilt das für die Handlungskoordination im Alltag. Jemanden ansprechen ist eigentlich eine ziemlich riskante Sache, aber die Welt, die Lebenswelt ist bereits so vorstrukturiert, dass man irgendwie darauf vertrauen kann, dass ein Response im Rahmen eines irgendwie erwartbaren Raumes erfolgt. Das gilt für einfachste Tatsachen wie für den Erwerb einer Butterbreze in einem Geschäft 5 bis hin zu kontroversen Diskursen. Wir sind geübt darin, in solchen Kontroversen die Argumente der anderen Seiten gut einschätzen zu können. Selbst Sätze, denen wir radikal misstrauen oder die wir verachten, flößen Vertrauen in die Welt ein, wenn sie aus dem »richtigen« Mund kommen. In der vertrauten Welt kommen nicht nur gute Freunde vor, sondern auch gute Feinde. Und was hier für die Frage von Personen angedeutet wird, gilt erst recht für Rollen und Rollenverhalten. Von einem Polizisten lassen wir uns zwar nicht gerne, aber doch nach dem Ausweis fragen, vom Servicepersonal eines Restaurants eher nicht – es sei denn, es gehört zu erwartbarem Verhalten, wie es während der Pandemie selbstverständlich wurde, nicht nur den Impfnachweis zu erbringen, sondern auch zu dokumentieren, dass der Impfausweis zu meiner Person gehört. Wir lassen uns auf restringierte Formen der Kommunikation ein, wenn wir als Klienten oder Agenten tätig sind. Bestimmte Höflichkeitsregeln gelten dann nicht. Und wir können auch verstehen, warum jemand, der ökonomisch argumentiert, andere Schlüsse zieht als jemand, der einen politischen Satz sagt. Wir können meistens eine Rechtsregel von einer moralischen Regel unterscheiden, und wo das nicht gelingt, ist sogar die Empörung darüber, dass das Recht weniger Gerechtigkeit als normative Konsistenz herstellt, ein Element aus dem Arsenal sagbarer Sätze, die die Welt kalkulierbar machen. Diese lebensweltlichen Sicherheiten basieren also keineswegs auf Konfliktlosigkeit oder gar Harmonie, sie sind vielmehr ein Korrelat von Erwartbarkeit, selbst wenn das Erwartete schrecklich ist. Um diesen Mechanismus zu verstehen, sei die Lektüre von Eugen Kogons Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager empfohlen, das schon 1946 erschienen ist.6 Dieses Buch ist nicht nur ein Dokument der nationalsozialistischen Verbrechen, sondern auch eine soziologische Analyse des Lebens im Lager, das einerseits von den ungeheuerlichsten Schrecklichkeiten geprägt war, andererseits auch über die Zeit hinweg so etwas wie lebensweltliche Strukturen entwickelt hat – selbst wenn dies in der Normalisierung der Erwartung besteht, jederzeit und ohne weiteren Anlass ermordet werden zu können. Für mich jedenfalls gehörte schon als junger Student die Lektüre dieses Buches zu den eindringlichsten Lektüren überhaupt, weil es einerseits das Undenkbare auf den Begriff gebracht hat, aber auch Einsichten darüber vermittelte, wie sich selbst in den extremsten Ausnahmesituationen Erwartbarkeiten etablieren. Selbst unter radikalster Todesdrohung kann man kaum ohne lebensweltliche Erwartbarkeit leben – ich schreibe absichtlich Erwartbarkeit und nicht Sicherheit, weil es sich dann doch zu zynisch anhören würde. Aber es vermittelt etwas von der Funktion des Vertrauten – das ja nur die Voraussetzung für Vertrauen ist. Die Funktion des Vertrauens ist die Berechenbarkeit der Welt, es bestätigt die oft unbesehenen Hypothesen, die wir über die Welt haben. Es beinhaltet das Wissen über Prozesse und Strukturen, über Personen und Stereotype, über Rollen und Handlungstypen, über die Welt, wie wir sie als solche anerkennen. Vertrauen entlastet von der zu deutlichen Nachfrage und simuliert eine Welt, die kontinuierlicher und sicherer ist als die Welt, wie sie wohl ist. Vertrauen entlastet, genauer hinschauen zu müssen – was uns wiederum zur Handlungskoordination führt. Wir vertrauen, dass die Zahlen auf einem Bildschirm unser Geld sind, und wenn wir es uns auszahlen lassen, vertrauen wir darauf, dass der auf den Geldscheinen gedruckte Betrag den Wert des Geldes verbürgt, der selbst wiederum weniger von der ausstellenden Behörde (Zentralbank etc.) abhängig ist, sondern von einem Marktgeschehen mit entsprechend niedrigen Inflationsraten. Sieht man genauer hin, wird man feststellen, wie voraussetzungsreich das Selbstverständliche ist. Unsere Rentenansprüche stehen nur auf dem Papier, die Rechts-vor-links-Regel ist eine sehr fragile Lebensversicherung, vor allem, wenn man sie aus der Perspektive eines Radfahrers im Angesicht eines 36-Tonners betrachtet. Dass der andere, den ich nicht kenne, sich an dieselben Regeln hält wie ich, ist nicht ausgemacht, wird aber vorausgesetzt, dass kontroverses Reden nicht in Gewalt umschlägt, ist ebenfalls nicht ausgemacht – und welche Bedeutung all das hat, wissen wir spätestens dann, wenn sich die Dinge nicht so verhalten, wie wir es »immer schon« erwarten.7 Kontrolle Vertrauen sei gut, Kontrolle besser – heißt es bisweilen. Nur ist Vertrauen gewissermaßen das funktionale Korrelat dafür, dass sich die Dinge nicht kontrollieren lassen. In ein Flugzeug zu steigen, setzt das Vertrauen sowohl in die technische Wartung des Flugzeugs als auch in die Kompetenz des Piloten oder der Pilotin voraus, aber auch in die technische Infrastruktur der Flugüberwachung und nicht zuletzt in die psychische Gesundheit der...


ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem »Mit dem Taxi durch die Gesellschaft«, in der kursbuch.edition erschien zuletzt »Das große Nein. Eigendynamik und Tragik gesellschaftlichen Protests«.

PETER FELIXBERGER (*1960) ist Herausgeber des Kursbuchs und Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: »Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?«

SIBYLLE ANDERL (*1981), ist Astrophysikerin und Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschien "Das Universum und ich. Die Philosophie der Astrophysik."


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