E-Book, Deutsch, 262 Seiten
Nadai / Koch / Canonica … und baute draus ein großes Haus
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7445-0963-3
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) zur Aktivierung von Erwerbslosen
E-Book, Deutsch, 262 Seiten
ISBN: 978-3-7445-0963-3
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
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Die Politik der Aktivierung macht nicht halt vor Menschen mit gravierenden gesundheitlichen und sozialen Problemen. In der Schweiz wurde das Problem der Arbeitsmarktintegration dieser schwer vermittelbaren Erwerbslosen 'mit komplexer Mehrfachproblematik' zum Ansatzpunkt für Projekte zur interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ) zwischen der Arbeitslosenversicherung, der Invalidenversicherung und der Sozialhilfe. IIZ zielt auf die effizientere und effektivere Eingliederung von Erwerblosen durch die Klärung von Zuständigkeiten und die bessere Koordination von Maßnahmen. Die vorliegende Ethnographie der Soziologin Eva Nadai und ihrer Co-AutorInnen Martina Koch und Alan Canonica untersucht am Beispiel von zwei IIZ-Projekten die Kooperation als Institutionalisierung des Ausnahmefalls: als Versuch, die Zusammenarbeit innerhalb eines fragmentierten Systems der sozialen Sicherung für eine kleine Zahl von Ausnahmefällen als Routine zu etablieren. Dabei wird deutlich, dass sich ein Handlungsmuster des situativen Pragmatismus herausbildet, das einige der Probleme fortschreibt, die man mit IIZ bekämpfen will. Im Buch werden 14 Fallverläufe vorgestellt, die explizit belegen, dass sich die Arbeitsmarktintegration nicht beschleunigen lässt und die Unterstützung oft weiterhin unkoordiniert abläuft. Die Studie wirft einen ungewöhnlich kritischen Blick auf die Widersprüche der IIZ-Strategie und auf die Schweizer Sozialpolitik und entschlüsselt, wie die Kooperation dennoch zu einem Rationalitätsmythos wurde.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Wirtschaftspolitik, politische Ökonomie
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Wirtschafts- und Finanzpolitik
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Volkswirtschaftslehre Allgemein Beschäftigung, Arbeitslosigkeit
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wirtschaftssoziologie, Arbeitssoziologie, Organisationssoziologie
Weitere Infos & Material
1. Die Latten und der Zwischenraum: Kernakteure von IIZ
Die Entwicklung des Sozialstaats setzte in der Schweiz später und zögerlicher ein als in anderen westlichen Industriestaaten. So baute die Schweiz den Sozialstaat noch nachholend aus, als in anderen OECD-Staaten bereits Stagnation und Rückbau vorherrschten (Moser 2008). Die Schweiz lässt sich überdies nur schwer in die bekannte Typologie der Wohlfahrtsregimes von Gøsta Esping-Andersen einordnen (Carigiet/Opielka 2006; Nollert 2007).6 Zum einen führt die föderalistische politische Struktur dazu, dass die Kantone und Kommunen in gewissen sozialpolitischen Feldern über beträchtlichen Spielraum verfügen, z. B. bei der Sozialhilfe (vgl. 1.2). Zum anderen wurden die einzelnen Zweige der sozialen Sicherung zu historisch unterschiedlichen Zeitpunkten geschaffen (Studer 1998) und enthalten z. T. Elemente verschiedener Regimetypen (Nollert 2007: 159). In zweierlei Hinsicht unterscheidet sich die Schweiz aber nicht von anderen hoch entwickelten Sozialstaaten: in der zunehmenden Ausdifferenzierung von Sicherungssystemen und sozialstaatlichen Dienstleistungsangeboten sowie im Siegeszug des Aktivierungsparadigmas. Aktuell umfasst die soziale Sicherung zehn Sozialversicherungen – von A wie AHV (Alters- und Hinterlassenenversicherung) bis U wie Unfallversicherung – und die steuerfinanzierte öffentliche Sozialhilfe.7 Im Folgenden stellen wir nur die drei wichtigsten Systeme zur Absicherung bei Erwerbslosigkeit vor, die zugleich die zentralen Akteure von IIZ sind: die Arbeitslosenversicherung (ALV), die Sozialhilfe und die Invalidenversicherung (IV). Im internationalen Vergleich weist die Schweiz nach wie vor relativ niedrige Quoten von registrierten Arbeitslosen, Sozialhilfebeziehenden oder Invalidenrentnern auf. Die Arbeitslosenrate pendelt seit Mitte der 1990er Jahre zwischen rund zwei bis fünf Prozent im Jahresdurchschnitt mit einem Spitzenwert von 5.2 Prozent im Jahr 1997 (SECO 2014: 22).8 Rund ein Fünftel der Betroffenen fällt in die Kategorie der Langzeitarbeitslosen. Die Erwerbslosenquote, die auch Personen umfasst, die sich nicht bei der Arbeitslosenversicherung melden – sei es mangels Ansprüchen oder aus anderen Gründen – liegt systematisch höher (Streckeisen 2012: 52). In unserem Untersuchungszeitraum betrug die Quote zwischen 3.4 bis 4.3 Prozent (BFS 2012a). Eine landesweite Statistik zum Sozialhilfebezug existiert erst seit 2004; die Sozialhilfequote liegt seither relativ konstant bei rund 3 Prozent der Wohnbevölkerung (BFS 2012b).9 Rund vier Fünftel der Fälle beziehen länger als ein Jahr Leistungen, fast ein Drittel sogar mehr als vier Jahre (BFS 2012c). Die Quote der Invalidenrentner bewegt sich seit der Jahrtausendwende zwischen 4.4 und 5.3 Prozent (BSV 2012: 22).10 Als alarmierend empfunden wurde aber die Zunahme der Leistungsempfänger/innen in jedem dieser drei Zweige der sozialen Sicherung, die in unterschiedlichem Ausmaß und mit zeitlichen Verschiebungen in den 1990ern registriert und im politischen Diskurs regelmäßig mit dem Adjektiv „explosionsartig“ versehen wurde. Immerhin rund ein Fünftel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bezieht mindestens einmal Leistungen der Arbeitslosenversicherung, der Invalidenversicherung oder der Sozialhilfe (Fluder et al. 2009: 109), und sowohl die ALV wie die Sozialhilfe verzeichnen einen Trend zu einer längeren Bezugsdauer. Der Blick auf die steigenden Kosten und der Eindruck einer Verfestigung von Leistungsbezug führten im Einklang mit Entwicklungen in anderen europäischen Ländern zu einem Umbau des sozialen Sicherungsnetzes in Richtung Aktivierung. 1.1 Vermittlungsfähigkeit: die Arbeitslosenversicherung
Die Einführung einer Arbeitslosenversicherung (ALV) wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts per Volksinitiative gefordert (und in der Abstimmung abgelehnt), aber erst Jahrzehnte später vollzogen: per dringlichem Bundesbeschluss wurde in den 1970er Jahren eine Pflichtversicherung realisiert, 1984 dann das Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG) in Kraft gesetzt (Magnin 2005: 86 f.; Tabin/Togni 2013; Togni 2009). Der Vollzug des Bundesgesetzes liegt bei den Kantonen, welche die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) betreiben, die für die Beratung, Vermittlung und Kontrolle der Arbeitslosen zuständig sind, während die Arbeitslosenkassen die Verwaltung der Beiträge und die Auszahlung der Taggelder übernehmen. Anspruchsberechtigt für Arbeitslosentaggelder ist, wer für die Dauer von mindestens zwölf Monaten innerhalb der letzten zwei Jahre vor Eintreten der Arbeitslosigkeit Beiträge entrichtet hat und „bereit, in der Lage und berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen und an Eingliederungsmaßnahmen teilzunehmen“ (Art. 15, Abs. 1 AVIG). „Bereit sein“ bezieht sich auf die Verfügbarkeit, „in der Lage sein“ auf die physischen und psychischen Voraussetzungen (Arbeitsfähigkeit), und das Kriterium „berechtigt“ betrifft bei Ausländerinnen und Ausländern das Vorhandensein einer gültigen Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung (Magnin 2005: 190). Die drei Merkmale, „bereit, in der Lage und berechtigt“ konstituieren zusammen die zentrale Voraussetzung für den Leistungsbezug: die „Vermittlungsfähigkeit“ der versicherten Person, mithin die prinzipielle Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt. Vorgängige Beitragszahlungen und Vermittlungsfähigkeit lassen sich indes nur dann tatsächlich in Unterstützung ummünzen, wenn überdies die Bereitschaft zur Teilnahme an Eingliederungsmaßnahmen vorhanden ist. Diese wird unter dem Titel der „Mitwirkungspflicht“ eingefordert, die ein wesentlicher Mechanismus zur Durchsetzung des Aktivierungsparadigmas ist. In der Schweiz wurde die Maxime der Aktivierung zuerst in der beitragsfinanzierten Arbeitslosenversicherung eingeführt, im Unterschied zu anderen westlichen Wohlfahrtsstaaten, die zuerst Empfänger von bedarfsabhängigen Sozialleistungen der Pflicht zur Gegenleistung unterwarfen (Magnin 2005: 13). Aktivierende Elemente wie Beschäftigungsprogramme waren im Gesetz zwar schon lange vorgesehen; sie wurden jedoch erst ab Mitte der 1990er Jahre als Reaktion auf den für die Schweiz ungewöhnlich hohen Anstieg der Arbeitslosenzahlen mit Nachdruck durchgesetzt. Eine Teilrevision des Gesetzes verschärfte 1996 die Bezugsbedingungen entscheidend und machte die Teilnahme an Bildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen zur Pflicht. Die reine Stempelkontrolle wurde durch Kontroll- und Beratungsgespräche in den neu eingerichteten Regionalen Arbeitsvermittlungszentren abgelöst. Die Anspruchsberechtigung wurde zeitlich verkürzt, die Regeln über zumutbare Arbeit verschärft, härtere finanzielle Sanktionen eingeführt und die Kontrolle der „Arbeitsbemühungen“ (Nachweis über die Stellensuche) ausgedehnt. Zum Zeitpunkt unserer Untersuchung hatte ein Arbeitsloser innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jahren Anspruch auf maximal 400 Taggelder in der Höhe von 80 Prozent des versicherten Verdienstes bzw. 70 Prozent für Personen ohne Unterhaltspflicht gegenüber Kindern; ältere Personen ab 55 Jahren konnten bis 520 Taggelder beziehen.11 Arbeitslose müssen „zur Schadensminderung grundsätzlich jede Stelle unverzüglich annehmen“, sofern diese den Kriterien über zumutbare Arbeit nicht widerspricht (Art. 16 AVIG). Zumutbar ist zum einen geographische Mobilität, d. h. ein Arbeitsweg von je zwei Stunden Hin- und Rückfahrt täglich. Zum anderen muss auch soziale (Abwärts-)Mobilität akzeptiert werden: eine Stelle mit geringeren Qualifikationen und einer Lohneinbuße bis zu 30 Prozent gilt als zumutbar. Die Bestimmungen zur arbeitsinhaltlichen Angemessenheit und ausbildungsadäquaten Beschäftigung eröffnen den RAV-Beratenden einen erheblichen Ermessensspielraum.12 In der Regel müssen die Arbeitslosen mindestens acht Bewerbungen pro Monat nachweisen und diese Pflicht zur aktiven Stellensuche setzt bereits vor dem Eintritt der Arbeitslosigkeit ein: Bewirbt sich ein zukünftiger Arbeitsloser nicht schon während der Kündigungsfrist seiner letzten Stelle für neue Stellen, können bereits zu Beginn der Unterstützung „Einstelltage“ verfügt werden. Im Hinblick auf die Verbesserung der Vermittlungsfähigkeit wurde in den letzten Jahren eine breite Palette an „arbeitsmarktlichen Maßnahmen“ (AMM) in den Bereichen Bildung und Beschäftigung geschaffen. Als Bildungsmaßnahmen gelten individuelle oder kollektive Kurse zur Umschulung, Weiterbildung oder Eingliederung sowie Übungsfirmen und Ausbildungspraktika. Zu den Beschäftigungsmaßnahmen zählen kollektive Programme öffentlicher oder privater, nicht gewinnorientierter Institutionen, individuelle Berufspraktika in Unternehmen oder in der Verwaltung sowie „Motivationssemester“ für Jugendliche ohne eine Berufsausbildung. Zusätzlich verfügt die ALV über einen Katalog an „speziellen Maßnahmen“, wie z. B. zeitlich befristete Einarbeitungs- oder Ausbildungszuschüsse als Anreize für Arbeitgeber oder Reisekostenzuschüsse an Arbeitslose, um deren Bereitschaft zu geographischer Mobilität zu erhöhen. Personen, die sich in einer Schulungs- oder Beschäftigungsmaßnahme befinden, gelten im Übrigen als „registrierte nichtarbeitslose Stellensuchende“ und werden in der Arbeitslosenstatistik nicht als arbeitslos gezählt. Für die betroffenen Arbeitslosen wird die abstrakte Versicherung greifbar in den monatlichen Auszahlungen und mehr noch in Gestalt der Personalberatenden der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren. Wer Leistungen der Arbeitslosenversicherung bezieht, ist verpflichtet, sich monatlich beim RAV zu melden. Der offizielle...