Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-641-22213-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Elvira Muj?i?, 1980 im heutigen Serbien geboren, hat in Bosnien und Kroatien gelebt, bis sie mit zwölf Jahren als Flüchtling nach Italien kam. Sie schreibt auf Italienisch, übersetzt aus dem Serbischen, Kroatischen und Bosnischen und ist Autorin mehrerer Romane und Theaterstücke. Elvira Muj?i? lebt in Rom.
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Wie es anfing
»Hallo?« »Ich bin’s …« »Du klingst komisch, was ist los?« »Nana ist tot …« »Red keinen Blödsinn!« »Den Tod nennst du einen Blödsinn!« »Aber … wie ist es denn passiert?« »Wie soll’s schon passiert sein. Sie ist siebenundachtzig.« »Mir wird schlecht …« »Scherz! Sie ist nicht tot. Ich wollte dich nur fragen, ob du mir das Geld für die Zugfahrkarte leihst …« »Mir ist fast das Herz stehengeblieben!« »Ich mach doch seit Jahren immer denselben Scherz!« »Was soll das denn für ein Scherz sein! Du weißt doch, was für eine schreckliche Zeit ich durchmache, bei allem, was mir passiert ist, und du kommst mir mit so was …« »Was ist denn passiert?« »Ich hab mich doch getrennt, außerdem hatte ich ein Gerstenkorn und musste zum Augenarzt …« »Ah ja, stimmt, du und deine umgekehrte Geschichte …« »Wieso umgekehrt?« »Was, wieso? Denk doch nach – sie hat so angefangen, wie sie aufhören musste, und sie war vorbei, als sie hätte anfangen müssen.« »Meinst du?« »Was weiß ich. Außerdem ist es egal, jetzt ist es sowieso vorbei. Was ist jetzt? Gibst du mir das Geld für den Zug?« »Ich kauf einen Fahrschein und schicke ihn dir … und übrigens gibt es Leute, die mit siebenundachtzig noch Gleitschirm fliegen.« »Ja, ja, das tun sie alle!« Vielleicht hatte mein Bruder recht. Nein, er hatte ganz bestimmt recht: Es war eine umgekehrte Beziehung. Als ich einen neuen Mitbewohner bekam, den ich intensiv hasste, was er mit gleicher Leidenschaft erwiderte, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass eines Tages eine Liebesgeschichte daraus würde. Nie hätte ich mir vorgestellt, dass ein verstopftes Klo der Zündfunke einer Liebe werden könnte. Aber so sind umgekehrte Geschichten eben, sie fangen da an, wo man es am wenigsten erwartet. Es konnte nicht funktionieren, und Vorzeichen hatte es zuhauf gegeben: Ich war für wilde Streiks, und er dagegen. Er wählte gemäßigt, ich extrem. Ich rauchte zwanzig Zigaretten am Tag, er keine einzige. Aber wir hatten uns eingeredet, wir könnten einander entgegenkommen, uns irgendwo auf halbem Weg treffen. Aber es half alles nichts, obwohl er mir mit zehn Zigaretten täglich durchaus entgegengekommen war. Wir haben Häuser, Viertel, Städte, ganze Länder zwischen uns gebracht. Wir haben uns so weit voneinander entfernt, bis wir uns nicht mehr sehen konnten. Dann war wieder jeder nur er selber, und ich wusste nichts mehr anzufangen mit meiner Vorstellung von Paarbeziehung, die schön sein mochte, sicher auch gut verpackt, aber vollkommen für die Katz. Ich war in meiner Utopie gefangen und fand keinen Bach, nicht mal ein Rinnsal, auf dem ich ihr hätte entkommen können, hinunter ins Tal flutschen, wo ich mich sortiert und irgendwann wieder aufgerappelt hätte. Er hatte es geschafft, er war von einem Moment zum anderen nicht mehr da, einfach so, ohne Vorwarnung. So musste man es machen, einfach verschwinden. Ich habe gewartet und ziemlich oft die Nacht zum Tag gemacht. Ich verbrachte viel Zeit mit Leuten, die so drauf waren wie ich, die abendelang die Lage analysierten und nicht fassen konnten, dass es aus war. Leute, die mit orthodoxen Priestern telefonierten und sich Psalmen vorlesen ließen, als wären es Horoskope oder Tarotkarten. Irgendwann war es dann so weit: Das ursprünglich klare Bild hatte seine scharfen Konturen eingebüßt. Geblieben war mir die Empfindung einer Sehnsucht, während die eigentliche Sehnsucht sich verflüchtigt hatte. Es dauerte eine Weile, bis ich gelernt hatte, damit zu leben. Den Sommer mit der Familie verbringen zu müssen, das heißt: keinen Plan im Leben haben. Ich war das blasse Abbild einer unzufriedenen Sechzehnjährigen, die mit der Mutter Ferien macht. Nur war ich leider doppelt so alt. Ein ganzer Monat mit lauter Leuten, die man nolens volens liebt. Die einzigen Menschen, von denen du glaubst, dass sie in derselben Mannschaft spielen wie du, immer auf deiner Seite stehen. Vor allem aber musste ich endlich mal wieder was Gehalt- und Geschmackvolles zwischen die Zähne bekommen. Seitdem es aus war, irrte ich wie ein ausgemergeltes Gespenst durch die Supermärkte, inzwischen rührten mich schon manche Kekssorten zu Tränen, ganz zu schweigen von Büffelmozzarella. Ich konnte Liebe und Hunger nicht mehr unterscheiden. Ich neige zur Idealisierung, erzähle mir Märchen, behalte nur das Schöne, und Streit oder hysterische Anfälle vergesse ich einfach. Daher habe ich auch von unseren Familienurlauben nur noch den ersten und den zweiten Tag in Erinnerung; vom dritten Tag an versackten wir in gegenseitigem Unverständnis und unterdrücktem Zorn. Der erste Tag: Hunderte Kilometer, die man hinter sich bringen muss, keine Frage nach dem Warum, innerlich aber erfüllt von einem durch nichts gerechtfertigten Jubel. Trotz aller Hindernisse, trotz endlosem, nervtötendem Hin und Her von Nachrichten zwecks Koordinatentausch und Mitfahrplanung, trotz diverser Drohanrufe in dem Tenor: »Wenn du den letzten Zug verpasst, gehst du zehn Kilometer zu Fuß, damit du’s weißt!«, trafen meine Brüder und ich normalerweise zugleich gegen Abend ein. Einer von uns verschlief immer und verpasste deshalb den Zug oder hatte eine Fahrkarte für den falschen Tag oder wurde, obwohl peinlichst genau die Anweisungen für den gewissenhaften Reisenden befolgend, von den üblichen Bahnverspätungen heimgesucht. Irgendwie schafften wir es dann aber doch, leicht derangiert, leicht angesäuert, leicht außer Atem und ziemlich erschöpft, aber kaum hatten wir das Haus betreten, wurden wir vom Duft der mütterlichen Kochkunst eingelullt und narkotisiert, und alle Erschöpfung fiel mit einem Schlag von uns ab. Mit diesen geballten Empfindungen unter der Haut ging ich zu Fuß zum Bahnhof Termini, um mit dem ersten Zug nach Norden zu fahren und alles hinter mir zu lassen. Ich hoffte auf Heilung, oder besser, ich verordnete mir Heilung bis zum Ende des Sommers. Ich stieg ein und suchte mir einen Platz im bequemen und maßlos teuren Frecciarossa, dem »roten Pfeil«, wie unser Hochgeschwindigkeitszug heißt. Ich schloss die Augen: Wenigstens bis Bologna war die Strecke eine einzige Aufeinanderfolge von Tunnels, danach empfing den Reisenden die weite Po-Ebene mit ihrer eigenartig flüchtigen Atmosphäre, während man mit 300 Stundenkilometern dahinsaust und vergeblich versucht, mit dem Blick irgendetwas festzuhalten. Der Pfiff ertönte, und Sekunden später setzte der Zug sich in Bewegung. Langsam verließen wir den Bahnhof, der Widerschein der Sonne ließ die Oberleitungen gleißen, als bestünden sie aus Edelmetall. Der Zug nahm Fahrt auf. Ich hatte das Gefühl, als sauste ich selber, mit meinem Körper, durch den Raum und löste mich in der Luft auf – ich konnte zusehen, wie Teile von mir im Fahrtwind davonflogen. Es erschien mir das Bild des gedeckten Tisches im Haus der Mutter, so wie immer zum Mittagessen am Tag nach der Ankunft – einer Mahlzeit, die dauernd zwischen Jubel und Tragödie schwankt: Entweder es wird eine Art Volksfest daraus, wenn wir alle wenigstens bis ein Uhr aufgestanden sind und einander halbwegs mit Toleranz begegnen. Oder es wird ein Chaos aus Türenknallen, Geschrei und erkaltendem Essen. Nachdem wir uns nicht sehr oft sehen, passiert es eigentlich recht selten, dass sich alle auf dieselbe Wellenlänge einstimmen. Sehr gern aber denke ich daran, wie es ist, wenn es gelingt – wenn ich aufwache und Stille im Haus ist, nur von nebenan kommt das Knarzen der Betten, in denen sich meine Brüder hin und her wälzen, bereit zum Aufstehen, um den Tag nicht zu verderben. Im Schlafanzug, ohne Umweg über das Bad, steuere ich, immer dem Geruch folgend, das Esszimmer an. Ich öffne die Tür, bin erst mal geblendet vom Licht der großen Fenster, aber dann erkenne ich den Tisch und entdecke mit fokussiertem Blick meine Mutter und Nana, und ich setze mich, noch mit schlafverklebten Augen, und schenke mir ein Tässchen Kaffee ein, gerade genug, um die Bewusstseinsebene zu erreichen, die es braucht, um die bevorstehende Zeremonie uneingeschränkt zu würdigen. Binnen einer halben Stunde stützen wir alle unsere Ellenbogen auf das ockergelbe Tischtuch, und die Mutter stellt die Teller auf den Tisch. Auf meinem liegt nur der Kopf des Lamms: ein großer tiefer Teller, in der Mitte ein halber Schädel, und in einem seiner Hohlräume, schön zur Schau gestellt, das, was mir neben der Zunge das Liebste ist, das Gehirn. Ich esse es in jeder Form, aber mein Lieblingsrezept ist im Ofen gebacken, in seinem natürlichen Habitat. Weiß, mit einer zarten Maserung in Grau. Ich nehme seine weiche, schwammähnliche Konsistenz wahr. Ich betrachte es bewundernd, koste es mit den Augen. Behutsam steche ich mit der Gabel hinein und nehme mir einen winzigen Bissen, der sich im Handumdrehen auflöst und am Gaumen ein flauschiges, samtiges Gefühl hinterlässt. Mir gegenüber machen sich meine zwei Brüder die Kartoffeln streitig, weil sie Lamm nicht wirklich zu würdigen wissen, was meines Erachtens daher rührt, dass sie ihre Kindheit nicht in Bosnien, sondern in Italien verbracht haben. Zelig war sogar mal eine Zeit lang Vegetarier und hat uns monatelang das Gefühl gegeben, wir seien Barbaren ohne jede Moral, weil wir uns von Tieren ernähren, die wir von den Wiesen reißen, auf denen sie fröhlich herumtollen könnten, obwohl wir nur zu gut wissen, dass die Tiere, die wir essen, in beengten luftlosen Massenställen schmachten, und überhaupt sind wir...