E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Biografien
Der Mensch - sein Leben - seine Botschaft
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Biografien
ISBN: 978-3-87996-439-0
Verlag: Neue Stadt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Peter Münster, Jahrgang 1951, war langjähriger Schulleiter im badischen Rheinfelden und Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg, Autor mehrerer Werke zu Glaubensfragen und profunder Albert-Schweitzer-Kenner. Bis zu seinem Tod im Jahr 2011 hat er sich, soweit es seine Erkrankung erlaubte, für Schweitzers Anliegen eingesetzt, viele Jahre auch im Deutschen Albert-Schweitzer-Hilfsverein.
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Einstimmung: Was für ein Mensch!
„Auf die Frage, ob ich pessimistisch oder optimistisch sei, antworte ich, dass mein Erkennen pessimistisch und mein Wollen und Hoffen optimistisch ist.“ Diese Selbstcharakterisierung Albert Schweitzers findet sich im Schlusskapitel seiner Autobiografie „Aus meinem Leben und Denken“, die er im März 1931 in Lambarene abschloss. Den hier angesprochenen Spannungsbogen zwischen einem Pessimismus, den ihm die Erkenntnis der Welt auferlegte, und dem Optimismus, den er aus der Kraft schöpfte, Gutes tun zu dürfen und zu können, hat er selbst ausführlicher erläutert: „Pessimistisch bin ich darin, dass ich das nach unseren Begriffen Sinnlose des Weltgeschehens in seiner ganzen Schwere erlebe. Nur in ganz seltenen Augenblicken bin ich meines Daseins wirklich froh geworden. Ich konnte nicht anders, als alles Weh, das ich um mich herum sah, dauernd mitzuerleben, nicht nur das der Menschen, sondern auch das der Kreatur … Auch in der Beurteilung der Lage, in der sich die Menschheit zurzeit befindet, bin ich pessimistisch.“ Das klingt hoffnungslos und so gar nicht nach Lebensoptimismus, Lebensbejahung, ließe man es so allein stehen. Die Unausrottbarkeit des Elends und Bösen in der Welt, die harte Wirklichkeit des Fressens und Gefressenwerdens, wie sie sich uns in der irdischen Natur offenbart, die drohende sittliche Verrohung und geistige Abstumpfung unter den Völkern – all dies hat Schweitzer in klarster Erkenntnis wahrgenommen. Und diese Erkenntnis musste ihn pessimistisch stimmen. „Dennoch bleibe ich optimistisch.“ Das schrieb er nur wenige Zeilen weiter, und dieses „Dennoch“ klingt geradezu kraftvoll, kämpferisch, zukunftsorientiert und hoffnungsvoll. „So sehr mich das Problem des Elends in der Welt beschäftigte, so verlor ich mich doch nie in Grübeln darüber, sondern hielt mich an den Gedanken, dass es jedem von uns verliehen sei, etwas von diesem Elend zum Aufhören zu bringen. So fand ich mich nach und nach darein, dass das Einzige, was wir an jenem Problem verstehen könnten, dies sei, dass wir unseren Weg als solche, die Erlösung bringen wollen, zu gehen hätten … Als unverlierbaren Kinderglauben habe ich mir den an die Wahrheit bewahrt. Ich bin der Zuversicht, dass der aus der Wahrheit kommende Geist stärker ist als die Macht der Verhältnisse. Meiner Ansicht nach gibt es kein anderes Schicksal der Menschheit als dasjenige, das sie sich durch ihre Gesinnung selbst bereitet. Darum glaube ich nicht, dass sie den Weg des Niedergangs bis zum Ende gehen muss. Finden sich Menschen, die sich gegen den Geist der Gedankenlosigkeit auflehnen und als Persönlichkeiten lauter und tief genug sind, dass die Ideale ethischen Fortschritts als Kraft von ihnen ausgehen können, so hebt ein Wirken des Geistes an, das vermögend ist, eine neue Gesinnung in der Menschheit hervorzubringen. Weil ich auf die Kraft der Wahrheit und des Geistes vertraue, glaube ich an die Zukunft der Menschheit. Ethische Welt- und Lebensbejahung enthält optimistisches Wollen und Hoffen unverlierbar in sich. Darum fürchtet sie sich nicht davor, die trübe Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.“ Hier hebt sich die Spannung zwischen dem Pessimismus des Erkennens und dem Optimismus des Wollens und Hoffens auf: Schweitzer blieb nicht stehen bei seiner pessimistischen Welterkenntnis. Er vertraute auf die Kraft der Wahrheit, auf ein elementares ethisches Denken, das unter dem Begriff „Ehrfurcht vor dem Leben“ zum tragenden Fundament seiner Philosophie und seines Handelns wurde. Mögen das Elend in der Welt, die unfassbare Not und das unschuldige Leiden vieler Menschen und Tiere, die zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten unter den Völkern, das schreckliche Übel der Kriege auch noch so sehr unser pessimistisches Erkennen heraufbeschwören und begründen: Wir haben die Aufgabe und die Kraft, unser Möglichstes zu tun, um das Elend zu mindern, vom Leiden zu befreien, uns mitgeschöpflich gegenüber Menschen, Tieren und Pflanzen zu verhalten. Und je mehr Menschen sich auf diese Aufgabe besinnen, je mehr Einzelne denkend die Ehrfurcht vor allem Leben für ihr eigenes Dasein verinnerlichen, desto berechtigter ist die Hoffnung auf eine Zukunft der Menschen. Schweitzer hat dies getan, und er zählt durch sein geistiges und praktisches Lebenswerk völlig zu Recht zu einer der bedeutendsten Gestalten des 20. Jahrhunderts. Was an ihm am meisten beeindruckt, ist wohl die Kongruenz zwischen seinem Denken und seinem Handeln, ist die Konsequenz, mit der er seine Ethik umgesetzt hat in mitmenschliche und mitgeschöpfliche Praxis. Er ist kritisiert worden als Theologe und Philosoph (am umfangreichsten durch Helmut Groos mit seiner voluminösen kritischen Würdigung „Albert Schweitzer – Größe und Grenzen“). Man hat gefragt, ob er überhaupt Christ im orthodoxen Sinne gewesen sei, hat ihm vorgeworfen, durch sein Verhalten in Lambarene als Kolonialist aufgetreten zu sein. Man hat ihn wegen der hygienischen Zustände in seinem Urwaldspital angegriffen, ihn gar wegen seines engagierten Eintretens gegen den unmenschlichen atomaren Rüstungswettlauf während des Kalten Krieges als ideologischen Steigbügelhalter des Kommunismus abzustempeln versucht. Schweitzer selbst hat auf Kritik an seinem geistigen und praktischen Lebenswerk in der Regel nicht reagiert, sich nicht verteidigt. Er sagte einmal, solche Kritik perle an ihm ab wie das Wasser am Federkleid einer Gans. Gerhard Rosenkranz, ehemaliger Rektor der Universität Tübingen, berichtet, Schweitzer sei durch den Rat seines Orgellehrers Widor zu dieser Haltung gegenüber Kritikern gelangt. Dieser habe ihm gesagt: „Schweitzer, ich weiß nicht, was aus Ihnen werden wird. Aber wenn Sie in der Presse angegriffen werden, dann antworten Sie nicht.“ Schweitzer selbst meinte, er habe sich seitdem an das chinesische Sprichwort gehalten: „Wer nicht fechten will, mit dem kann man nicht fechten.“ Wer seine Lebensleistung sieht, wer daran denkt, wie ausgefüllt sein Alltag war, der wird diese Haltung verstehen können und gutheißen. Schweitzer war sich seines Weges sicher, er ist ihn konsequent und in sich ruhend gegangen, trotz aller Höhen und Tiefen, die seinen Lebensweg ja auch markiert haben. Er hat gelitten am Leid und Weh in dieser Welt, schon als Kind und Jugendlicher, erst recht als Erwachsener. Aber er ist nicht in der Resignation vor diesem Elend der Welt verharrt, sondern hat in aufrichtiger Menschenliebe und Lebensbejahung auf das Leiden der afrikanischen Mitmenschen reagiert, hat seine Verantwortung für die Mitgeschöpfe in Ehrfurcht vor allem Lebendigen angenommen. Das macht ihn so glaubwürdig und über die in manchen Punkten sophistische Kritik erhaben. Karl Barth, einer der großen protestantischen Theologen des vergangenen Jahrhunderts und als Hauptvertreter der dialektischen Theologie gewiss nicht auf der Linie des liberalen Theologen Albert Schweitzer (die beiden haben sich in milder Polemik gegenseitig als Häretiker bezeichnet), sagte in seiner letzten Vorlesung an der Basler Universität im Wintersemester 1961/62 über den Urwalddoktor: „Könnte ein so problematischer Theologe wie Albert Schweitzer nicht – immer gerade vom Gegenstand der Theologie her gesehen – das bessere Teil erwählt haben und mit ihm die ersten Besten, die da und dort ohne alle theologische Besinnung versucht haben, Wunden zu heilen, Hungrige zu speisen, Durstige zu tränken, elternlosen Kindern eine Heimat zu bereiten?“ Barths Frage ist rhetorisch: Gewiss hat Schweitzer den besseren Part erwählt, indem er seine „umstrittene“ Theologie, seine von manchen akademisch für nicht ausgereift gehaltene Philosophie durch ein praktisches Christentum in konsequenter Nachfolge Jesu veredelt hat! Der Verzicht auf eine abgesicherte (und vermutlich glänzende) Universitätskarriere, seine bewusste Entscheidung für den hingebungsvollen Dienst am bedürftigen Mitmenschen in Afrika verliehen seinem geistigen Werk eine so hohe Glaubwürdigkeit, dass alle Kritik an ihm zweitrangig wirkt. Er wollte nicht das wohlsituierte Leben als Theologieprofessor, sondern suchte zielstrebig und fand die Einheit von Denken und Handeln. Das einfache und doch so wirkmächtige Jesus-Wort „Du aber folge mir nach“ (Matthäus 9,9) war theologisch der entscheidende Impuls, der Schweitzers Leben die Richtung wies. Harald Steffahn hat seine erste Schweitzer-Biografie aus dem Jahre 1974 unter diesem Titel erscheinen lassen und darin einfühlsam und glänzend belegt, wie sehr Albert Schweitzers Leben und Werk durch den Mann aus Nazareth geprägt waren: „Der Einfluss, den Jesus auf Schweitzers geistiges Werden von Kindheit an ausgeübt hat, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Eine große innere Nähe überbrückte Zeiten und Räume, und am Ende lesen sich Mitleid und Opferbereitschaft, Dankbarkeit und Verzicht in Schweitzers Leben wie Gleichnisse aus dem Neuen Testament.“ Schweitzer selbst beendete sein großes theologisches Hauptwerk „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ (1913) mit den Worten:...