E-Book, Deutsch, Band 2658, 240 Seiten
Reihe: Aufbau Taschenbücher
Roman
E-Book, Deutsch, Band 2658, 240 Seiten
Reihe: Aufbau Taschenbücher
ISBN: 978-3-8412-1936-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Armin Mueller-Stahl, geboren 1930, ist nicht nur einer der erfolgreichsten deutschen Schauspieler überhaupt, sondern auch ein begnadeter Geiger, Maler und Erzähler. Bevor er zum Schauspielberuf wechselte, absolvierte er ein Geigen- und Musikwissenschaftsstudium, das er 1949 mit dem Examen zum Musiklehrer abschloß. Seit 1952 avancierte er mit unzähligen Theater- und Filmrollen zu den bekanntesten und beliebtesten Schauspielern der Defa. 1980 verließ er die DDR und setzte seine Karriere nicht nur in Westdeutschland, sonder auch international erfolgreich fort. Seit langem ist Armin Mueller-Stahl auch als Erzähler bekannt. 2004 erschien bei Aufbei seine Erzählung 'Hannah', 2006 sein Erzählungsband 'Kettenkarussell', 2011 'Die Jahre werden schneller. Lieder und Gedichte'.
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Unser Herr Jesus Christus in der Nacht da er verraten ward nahm er das Brot dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern und sprach nehmet hin und esset das ist mein Leib, der für euch gegeben wird solches tut zu meinem Gedächtnis Schmitter ist nicht zu beruhigen. Er weint, herzergreifend wie ein Kind. Nießwandt beugt sich über das Bett, streichelt Schmitters Haare, zärtlich, als wolle er sagen, sieh mich an, hier ist Heinz Nießwandt, dein Mitstreiter, der für dich durch dick und dünn geht, das weißt du, also hör auf, so zu tun, als ob du sterben wolltest, bleib noch ein bisschen, lass uns die Kurve später gemeinsam kratzen. Und Rohdorf denkt: Ich mag dich, Schmitter, obwohl ich dich kaum kenne, weil du mir vorlebst, was ich noch erleben werde, das Sterben nämlich. Seit ihrem ersten und letzten Zusammentreffen im Aufenthaltsraum sind nur vier Tage vergangen, zwei Schlaganfälle hatten ihn in dieser Zeit ereilt, und vielleicht macht Rohdorf jetzt betroffen, was er bei der ersten Begegnung gedacht hatte, dessen Körper ist schon perdu, aber dessen Geist hört nie auf. Sie spielten Schach, Rohdorf und Schmitter, Rohdorf war dran. Er kassierte einen Läufer, Schmitter einen Bauern. Warum? Er hätte doch einen Springer haben können. Was will er, was hat er vor, dieser Fuchs, Rohdorf glaubt an eine Strategie Schmitters, Fuchs, wie er ist. Schnell, fassen Sie an, Kleinschmied, holen Sie die Kneiffke, nun machen Sie schon, Rohdorf, rief Nießwandt, und Rohdorf sah erst jetzt Schmitters eingefallenes Gesicht, blass, die Augen starr … Während Rohdorf das Schachbrett zusammenklappte, die Figuren ins Holzkästchen einsammelte, bemühten sich Frau Dr. Kneiffke und Nießwandt um Schmitters Leben. Blasser Blutdruck, 260/200, Halbseitenlähmung, Schlaganfall. Am nächsten Tag, fast zur gleichen Zeit, wieder ein Schlaganfall, ein Gehirnschlag dazu oder nicht dazu, wie alt ist Schmitter, dreiundachtzig, nun, dann hat er sein Leben gelebt, und Rohdorfs Gefühle begnügten sich mit ganz und gar unverbindlichen Gedanken an Schmitters hoffentlich nahen Tod, dann ist das Pulver seines Lebens verschossen, mit acht Söhnen, ich bitte Sie, hat er für die Nachwelt gesorgt, sagte er, und Nießwandt, am Fenster stehend, schwieg. Nach etwa fünf Minuten erwiderte er, Sie tragen Ihre Gefühle nach innen, Sie müssen sich wenden lassen, passen Sie auf, dass Sie eines Tages da drinnen, er tippte auf die Herzgegend, nicht kaputtgehen, denn wenn Sie das Herz nur noch für den Kreislauf brauchen, sind Sie gestorben, obwohl Sie noch leben; dann sind Sie nur noch mit Ihrer Karriere, mit Ihrem Aufstieg beschäftigt … und wenn Sie auch gestorben sind, so leben Sie noch heute, hatte er mit feindlicher Selbstverständlichkeit hinzugefügt. Mit seiner Karriere beschäftigt, sicher, ach was, dachte er: Dennoch – eine seiner Bemühungen war beziehungsweise ist, sich von den Gefühlen unabhängig zu machen, störfrei zu machen, lieber keine als solche, die Wünsche wecken, die kaum zu erfüllen sind. Das Schöne hässlich und das Hässliche schön finden, das will er, in diesem Augenblick will er’s, das Abstoßende fasziniert ihn immer mehr, denkt er und blickt auf Schmitter, wer das Hässliche angeschaut mit Augen, ist dem Tode nicht mehr anheimgestellt, man ist an nichts gebunden außer an ihn, den Tod, und dumm, wie er ist, fängt er an, ihn zu üben, denn mit dem Sterben der Gefühle stirbt er wirklich etwas. Nun ist er gerührt, er wischt sich Augen und Nase – kann es mit Schmitter, den er gerade erst kennengelernt hatte, so profan, so trostlos zu Ende gehen? Nießwandt liebt Himmel und Erde gleichermaßen. Er sieht einen nahtlosen Übergang vom Leben zum Tod, er wird gar nicht erst sterben müssen, nur aus dem ekelhaften Körper raustreten und zusehen, wie aus dem vom Scheitel bis zur Sohle mit Psoriasis befallenen Korpus fruchtbarer Humus wird. Der Tod gehört zum Leben, sagte Nießwandt. Seit dem ersten Schlaganfall war Nießwandt ausschließlich damit beschäftigt, Schmitter das Sterben zu erleichtern. Er besorgte ihm neue Matratzen, die alten wären durchgelegen, eine Wassermatratze, damit der Rücken geschont wird, abends reibt er ihn mit Franzbranntwein ein, und heute morgen hat er die diesmal sehr unfreundliche Frau Dr. Kneiffke zur Freundlichkeit überlistet, indem er sie liegend begrüßte (normalerweise steht er am Fenster), wie ein Soldat, die Hand an der Stirn, sie zackig mit angelegtem Daumen an die Bettdecke reißt, den Arm präzise anwinkelt und, als wäre er mit der Hand in ein Spinnennetz gefahren und habe es zum Reißen gebracht, die öde Miene der Kneiffke sprengt und so herzhaft darüber lacht, dass sie nicht anders kann als mitlachen; diesen Moment hat er genutzt und sie gebeten, sich um Schmitter mehr als routinemäßig zu kümmern. Die Kneiffke hat es ihm zugesagt. An Rohdorf gewandt, sagte Nießwandt, wenn ich das nicht für Schmitter mache, würde meine Seele eines Tages die Motten kriegen. Manchmal hängt er durch, bemerkt Rohdorf; dann wirkt er dünnhäutig, dünnhäutiger, als er je zugeben würde, als könnten die Winde durch ihn durchpfeifen, der Verlust mag es sein, der Verlust seines geistigen Widersachers aus der 3b. Ihn muss er verkraften. Daran denkt Rohdorf, als Pfarrer Meyer den Kelch an Schmitters Lippen bringen will und Nießwandt ihn unterbricht. Kategorisch: Schmitter bitte zuletzt, wegen der Hygiene, verstehen Sie, und Pfarrer Meyer nickt. Rohdorf will weg von diesem Abendmahl. Nicht dabeisein. Es einfach im Kopfe verschwinden lassen, wie einen defekten Film in einer Vorführapparatur. Fliegende Bilder; ruckartiges Stehenbleiben; Filmriss; alles schwarz. Er denkt an das gestrige Gespräch mit Nießwandt. Nach dem Abendessen, Rohdorf trank Tee mit der linken Hand, um die Tasse mit den Lippen nicht dort zu berühren, wo alle andern es tun, Krankenhaus bleibt Krankenhaus, und Nießwandt räumte den Tisch auf. Trinken Sie einen Adlershofer mit? Ja. Nießwandt öffnet die knarrende Schranktür, bückt sich, Flaschenklappern. Rohdorf denkt: Alkoholiker, und Nießwandt erstarrt in der Haltung, so was wie: Hoffentlich war das Klappern zu überhören, ist seiner Haltung abzulesen, er hustet, zieht elegant eine Wodkaflasche aus dem Schrank, schließt die Tür, geht zum Nachttisch, holt eine Kerze aus der Schublade, baut sie und den Wodka feierlich auf den Tisch, macht das ungemütliche Deckenlicht aus, zündet die Kerze an, die einen bemerkenswerten Tanz aufführt, hin und wieder steif wie ein Zinnsoldat, dann ein Lufthauch, nun beweglich wie eine Bauchtänzerin, da kann man zusehen. Gemütlich ist es. Nießwandt blickt aus dem Fenster. Sternenklare Nacht, sagt er, morgen wird es schön. Ein Sputnik, dort, sehen Sie den Sputnik? Wo? Dort, sehen Sie nicht? Nein. Dort. Das ist ein Flugzeug. Ein Flugzeug keineswegs, das ist ein Sputnik. Also gut, von mir aus. Wissen Sie, wie viele Sterne es gibt? Nein. Nach heutigem Wissen hundert Millionen Billiarden, sagt Nießwandt, und jede zweite bis zehnte Sonne hat Planeten, und in jedem Planetensystem gibt es einen Himmelskörper, der für die Entstehung von Leben günstig ist. Stellen Sie sich dieses Gewimmel von Zivilisationen vor, und wenn Sie noch bedenken, dass die Erde anderthalb Millionen Arten von Lebewesen hervorgebracht hat, haben Sie eine Vorstellung, was da alles kreucht und fleucht, malen Sie für jeden Stern eine Null, und Sie werden ein Gefühl für den Himmel schon in den Fingerspitzen bekommen, sagt er, und gießt Wodka in die Zahnputzbecher. Zum Wohle. Na sdorowje. Nießwandt nimmt einen gewaltigen Schluck. Rohdorf stellt sich vor, der Alkohol schießt in den Magen, in die Oberschenkel, in die Zehen, die Brustmuskulatur schiebt einige Huster nach oben. Er schüttelt sich. Dann nimmt er einen Schluck. Es geschieht, wie vorgestellt. Alles Training, sagt Nießwandt, Sie müssen den zweiten Schluck gleich hinterher nehmen, und Rohdorf tut es; diesmal passiert gar nichts, so betäubt sind seine Arterien noch vom ersten. Angenehme Wärme zieht in den Körper, es geht ihm gut, so gut wie schon lange nicht, so Nießwandt, sagt er, jetzt bin ich bereit, über Leben und Tod oder Himmel und Hölle zu sprechen, je nachdem was anfällt. Zuvor dirigiert er seine Zunge über einen Eckzahn, dumpfer Zahnschmerz meldet sich, bloß nicht noch zum Zahnarzt, Kriegsmaterial, sagt der, jedesmal auf Rohdorfs Zähne klopfend, schönstes Kriegsmaterial, aber üppiges, durchblutetes Zahnfleisch, und Rohdorf, der wissen wollte, wofür das gut wäre, hörte, für ein späteres Gebiss. Neid. Nichts weiter. Denn Rohdorf hat erst zwei Plomben, in seinem Alter. Dennoch wünschte er: Dem Doktor mögen alle Zähne ausfallen, bis auf einen – für Zahnschmerz. Also Rohdorf fühlt sich stark genug für ein Streitgespräch, bereit, wenn nötig, Nießwandt die Sterne vom Himmel zu holen, die Worte stehen vor der Zunge Schlange, wie die Soldaten, um Nießwandts Themen eine Schmitters ebenbürtige Schlacht zu liefern. Wollen Sie eine Zigarre, fragt Nießwandt. Ja. Bitte. Danke. Hier Feuer. Für mich ist der Tod nichts anderes, sagt Rohdorf an der Zigarre saugend, als ein Zustand des Körpers, in dem eine Wiederbelebung nicht mehr möglich ist, ein Zustand, in dem das Gehirn seine Tätigkeit...