E-Book, Deutsch, 163 Seiten
Reihe: Geschichte kompakt
Müller / Puschner Die Revolution von 1848/49
4. bibliogr. aktualisierte Auflage 2012
ISBN: 978-3-534-72317-1
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 163 Seiten
Reihe: Geschichte kompakt
ISBN: 978-3-534-72317-1
Verlag: wbg Academic in Herder
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Ausgehend von einer Analyse der politischen und sozialen Krise Deutschlands im Vormärz verfolgt Franz Lorenz Müller die Hauptstränge der mannigfachen revolutionären Veränderungsprozesse zwischen März 1848 und Juli 1849. Der Fokus richtet sich dabei nicht nur auf die politische Revolution des liberalen Bürgertums, die mit einer Fundamentalpolitisierung und Kommunikationsrevolution einherging, sondern ebenso auf die Forderungen und Aktionsformen von Bauern, Arbeitern, städtischen und ländlichen Unterschichten sowie von unterprivilegierten Schichten (Frauen, Juden). In einem abschließenden Kapitel erörtert er eingehend die Revolutionswende im Herbst 1848, die Verfassungsarbeit der Paulskirche, die Reichsverfassungskampagne sowie die Niederwerfung des pfälzischen und badischen Aufstands im Sommer 1849. Der Autor legt damit einen straffen, gut lesbaren und dennoch detailreichen und differenzierten Überblick zu den deutschen Revolutionen von 1848/49 vor.
Frank Lorenz Müller, geb. 1970, studierte in Berlin und Oxford Geschichte und Englisch. Promotion 1999; seit 2002 ist er Lecturer für Neuere Geschichte an der Universität St. Andrews /Schottland. Veröffentlichungen (u.a.): Britain and the German Question. Perceptions of Nationalism and Political Reform 1830-1863 (2000).
Autoren/Hrsg.
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2. Die soziale Frage: Bevölkerungswachstum, Gewerbe und Pauperismus
Die Autorität des monarchischen Obrigkeitsstaats wurde in den Jahrzehnten vor 1848 nicht allein in der Arena des im engen Sinne Politischen herausgefordert. Die politische Krise des Deutschen Bundes im Vormärz entwickelte sich vor dem Hintergrund einer beständigen Verschlechterung der Lebensverhältnisse für große Teile der Bevölkerung. Ein unglückliches Zusammenwirken von Bevölkerungswachstum und Wirtschaftsentwicklung führte zur Entstehung einer schweren sozialen Notlage, die Zeitgenossen mit dem neuen Begriff „Pauperismus“ bezeichneten. Selbst Bevölkerungsschichten, die von den Anliegen des vormärzlichen Liberalismus und Nationalismus weitgehend unberührt geblieben waren, wurden von diesem physischen Elend politisiert und mobilisiert. a) Die Bevölkerungsentwicklung
Die Hauptursache für die soziale Notlage des Pauperismus war die Unfähigkeit der deutschen Wirtschaft, den wachsenden Bedarf nach Erwerbstellen zu befriedigen. Die Grundtatsache, die dieses Missverhältnis bedingte, war ein steiles Anwachsen der Bevölkerung. Dieses gesamteuropäische Phänomen, von dem auch Deutschland erfasst wurde, begann um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Damals lebten in Europa rund 130 Mio. Menschen, um 1800 waren es bereits 185 Mio., fünfzig Jahre darauf war die Zahl um weitere 80 Mo. gestiegen. In Deutschland erhöhte sich die Einwohnerzahl zwischen 1750 und 1800 von 17 auf 24,5 Mio. Fünfzig Jahre später war sie um weitere 40% auf 34,4 Mio. gestiegen. Hinter dem groben Zahlenmaterial dieses Gesamttrends verbergen sich vielfach verschiedene Ursachen und Erscheinungsformen. Vor Beginn der „Bevölkerungsexplosion“ hatte ein komplexes Netz aus obrigkeitlicher Regulierung, sozialen Konventionen und harten biologischen Realitäten die Balance zwischen Bevölkerungszahl und Nahrungsangebot gehalten. Sexualität und Schwangerschaft außerhalb der Ehe waren sozial scharf sanktioniert. Die Zahl der Ehen jedoch wurde begrenzt. Heiraten durfte nur, wer nachweislich eine Familie ernähren konnte, und Ehen wurden spät geschlossen. In der Ehe waren Geburtenziffer und Kindersterblichkeit hoch. Der leichte Geburtenüberschuss, zu dem es dennoch kam, wurde durch Seuchen, Hungersnöte und Kriege ausgeglichen. Diese Gleichgewichtssituation veränderte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts zugunsten eines beständigen Geburtenüberschusses. Hierfür war vorrangig die größere Anzahl von Erwerbstellen verantwortlich, die nach 1750 aufgrund der Kommerzialisierung der Landwirtschaft, der Entwicklung des protoindustriellen Heimgewerbes und der langfristig günstigen Gesamtkonjunktur entstanden. Dies führte zu Trends, die das Bevölkerungswachstum wiederum verstärkten. Die Sterblichkeit sank leicht ab, weil es weniger Seuchen gab und die besser ernährte Bevölkerung eine erhöhte Widerstandskraft gegen Krankheiten entwickelte. Mit der Zahl der Erwerbstellen stieg auch die Zahl der Ehen und somit die Geburtenziffer. Die während der Reformära getroffenen Maßnahmen (Bauernbefreiung, Freizügigkeit) und die weitere Vermehrung der „Stellen“ (Landesausbau in Ostelbien, Protoindustrialisierung in Schlesien) hielten den Wachstumsprozess auch im 19. Jahrhundert in Schwung. Der Überbegriff „Bevölkerungsexplosion“ bedarf regionaler wie schichtenspezifischer Differenzierung. In Preußen und Sachsen war das Bevölkerungswachstum am rapidesten: 1816 hatte Preußen circa 10,35 Mio. Einwohner, 1848 war diese Zahl auf 16,16 Mio. (d. h. um rund 56%) gestiegen. In der Provinz Ostpreußen belief sich der Zuwachs im selben Zeitraum sogar auf 63,6%. Das gewerbestarke Sachsen wuchs zwischen 1815 (1,179 Mio. Einwohner) und 1848 (1,87 Mio.) um 58,6%. In Bayern und Württemberg hingegen, wo Heiratsbeschränkungen in Kraft blieben und das ökonomische Klima weniger günstig war, stiegen die Zahlen deutlich langsamer. Zwischen 1816 und 1848 erhöhte sich die bayerische Bevölkerung um 26,4% auf 4,5 Mio., die württembergische um 24,1% auf 1,7 Mio. Ähnliche Unterschiede gab es zwischen den Schichten. Deutschlands Bevölkerungswachstum war vorrangig eine Expansion der ländlichen Unterschichten, dann erst städtischer Unterschichten und anderer Gruppen. Zwischen 1816 und 1848 stieg die Bevölkerung in der überwiegend ländlichen preußischen Provinz Westpreußen um 78,6%, im relativ stärker urbanisierten Rheinland „nur“ um 49,7%. Selbst das rasante Wachstum der Städte, das sich in diesen Jahren beobachten lässt, hing wegen der unhygienischen Verhältnisse in den Ballungsräumen stark von der Zuwanderung aus der ländlichen Umgebung ab. Zwischen 1815 und 1837 erhöhte sich die Berliner Bevölkerung um 93 000 Einwohner, von denen nur 25 000 auch dort geboren waren. Von 26 000 neuen Kölnern zwischen 1835 und 1849 kamen 14 000 von außerhalb. Die relative Verstädterung der vormärzlichen Gesellschaft ging nur langsam vor sich. 1816 lebten 27% der Preußen in Städten mit mehr als 2000 Einwohnern. 1848 war diese Zahl lediglich auf 28% gestiegen. Das Anwachsen der Städte war dennoch ein bedeutendes Phänomen: Zwischen 1800 und 1850/1 stieg die Bevölkerung in München von 40 000 auf 107 000, in Wien von 247 000 auf 444 000, in Hamburg von 130 000 auf 175 000 und in Breslau von 60 000 auf 114 000. Die Regierungen reagierten nur selten adäquat auf diese neuen sozialen Realitäten. Zwischen 1814 und 1848 wuchs Berlin von 150 000 auf 400 000 Einwohner; im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Zahl der Polizisten in der Hauptstadt lediglich um 77 auf 204. Im Revolutionsjahr zeigte sich, dass solche Versäumnisse vor dem Hintergrund des wachsenden sozialen Drucks, den die Bevölkerungsvermehrung erzeugte, nicht ohne Folgen bleiben konnten. b) Landwirtschaft, Handwerk und Industrialisierung
Der zweite entscheidende Faktor bei der Zuspitzung der sozialen Frage im Vormärz war die Entwicklung der deutschen Gewerbe. Landwirtschaft, Handwerk und die noch junge Industrie sahen sich mit der Aufgabe konfrontiert, den Bedarf einer größer werdenden Bevölkerung nach Nahrung, Gebrauchsgegenständen und Erwerbstellen zu befriedigen. Die Gewerbe waren direkt vom Bevölkerungswachstum beeinflusst und wirkten unmittelbar wieder auf dieses zurück. Angesichts sich wandelnder politischer, konjunktureller, technologischer und demographischer Bedingungen mussten die Gewerbe vor 1848 beträchtliche Veränderungsprozesse durchlaufen. Dies führte unweigerlich zu Spannungen und schuf Bevölkerungsgruppen, die sich als Verlierer fühlten oder glaubten, um ihr gutes Recht betrogen worden zu sein. Im Revolutionsjahr entwickelten diese Gruppen ein hohes Maß politischer Aktivität. Die Landwirtschaft, die im Jahr 1800 rund 62% der Arbeitskräfte beschäftigte und auch im Hinblick auf Produktionsvolumen und Produktionswert dominierte, blieb mit großem Abstand der wichtigste deutsche Wirtschaftssektor während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Verlauf der Jahrzehnte vor 1848 wurde die deutsche Landwirtschaft vor allem durch zwei eng miteinander verknüpfte Prozesse verändert: durch die politisch-rechtliche Bauernbefreiung und durch den wirtschaftlich-technologischen Agrarkapitalismus. Bei allen sozialen Notlagen, die diese Veränderungsprozesse mit sich brachten, gilt es zunächst festzuhalten, dass es der deutschen Landwirtschaft vor 1848 weitgehend gelungen war, einige wichtige Minimalziele zu erfüllen. Von vier schweren Krisenjahren (1816–7, 1845–7) abgesehen, war die Versorgung der rapide wachsenden Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln gesichert. Trotz vielfachen Elends kam es zu keinem massenhaften Verhungern wie in Irland. Produktivität und Gesamtproduktion stiegen beachtlich. In Preußen wurde der für die Ernährung der breiten Bevölkerung entscheidend wichtige Kartoffelanbau von 300 000 auf 1,4 Mio. Hektar erweitert. Zwischen 1800 und 1852 erhöhten sich die durchschnittlichen Hektarerträge für Weizen und Roggen um 19%, für Gerste um 38%. Im gleichen Zeitraum vergrößerte sich die genutzte Ackerfläche von knapp 14 auf 25 Mio. Hektar. Die Fleischproduktion, die 1810 240 000 Tonnen betragen hatte, erreichte 1847 892 000 Tonnen. Insgesamt kann man für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Verdopplung der gesamten Agrarproduktion annehmen. Diese Produktionszuwächse waren nur möglich, weil die Landwirtschaft auch einem zweiten Grundbedürfnis der ansteigenden Bevölkerung entgegenkam: dem nach Erwerbstellen. 1849 fanden circa zwei Millionen mehr Menschen Arbeit in der Landwirtschaft als fünfzig Jahre zuvor. Diese Erfolge waren zum Großteil das Ergebnis der Bauernbefreiung und des Agrarkapitalismus. Der Überbegriff „Bauernbefreiung“ umfasst alle Maßnahmen zur Abschaffung der feudalen Verpflichtungen, denen die Bauern unterlagen. Die Ablösung der Guts- und Grundherrschaft gewährte persönliche Freiheit und beendete Erbuntertänigkeit, Schollenbindung und Frondienste. Zudem wurde zumindest ein Teil des Bodens Privateigentum der Bauern. Die Motive für diese staatlich verfügten Reformen, die gegen den Widerstand der Grundherren durchgesetzt wurden, waren vielfältig. Feudale Landwirtschaft galt als unrentabel und widersprach den aufklärerischen und wirtschaftsliberalen Grundüberzeugungen der Reformbürokraten. Der preußische Minister Karl vom Stein setzte zudem hohe politische Erwartungen in die Schaffung einer breiten Schicht bäuerlicher Grundeigentümer. In Preußen war die Bauernbefreiung mit dem Fanfarenstoß des Oktoberedikts von 1807 begonnen worden. Die praktische Durchsetzung eines so ambitionierten Projekts stieß jedoch auf unendliche Schwierigkeiten und zeitigte regional sehr verschiedene Ergebnisse. Oft sahen sich die Bauern bei der Ablösung ihrer feudalen Pflichten von...