Müller | Musik der Engel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 263 Seiten

Müller Musik der Engel

Eine Kulturgeschichte
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7965-5129-1
Verlag: Schwabe Verlagsgruppe AG Schwabe Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Kulturgeschichte

E-Book, Deutsch, 263 Seiten

ISBN: 978-3-7965-5129-1
Verlag: Schwabe Verlagsgruppe AG Schwabe Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wo von Engeln gesprochen wird, ist von Musik die Rede. Das Motiv zieht sich durch die Musikgeschichte und durch alle Gattungen. Volkslied, Choral, Chanson, Oper, Operette und große Kompositionen für Chor und Orchester – sie alle kennen den Gesang der himmlischen Heerscharen. Warum singen und musizieren Engel? Diese Frage erscheint umso relevanter, vergegenwärtigt man sich das grosse Interesse moderner Gesellschaften am religiösen Phänomen der Engel. Bei aller religionswissenschaftlichen Beschäftigung mit der Funktion des Engel-Booms bleiben jedoch Leerstellen: Ausgeklammert ist neben dem Motiv der musizierenden Engel der interreligiöse Aspekt der Engelsmusik. Anhand von ausgewählten Themenkreisen und Musikbeispielen zeigt Wolfgang W. Müller, welche Bedeutung und Funktion das Bild der musizierenden Engel für das religiöse Bewusstsein und für das Verständnis von Musik hat. Unter religionsphilosophischer, theologischer, interreligiöser und musikalischer Perspektive geht er der Gestalt der singenden Engel kenntnisreich auf den Grund.

Müller Musik der Engel jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


3. Das Motiv der Sphärenmusik
Der Diskurs über die Existenz und Wirkweise der Engel ist kein Sondergut christlicher Theologie und auch nicht auf die drei monotheistischen Religionen beschränkt. Die vorchristliche Rede von Engeln als Boten und Zwischenwesen, wie sie in antiken Kosmologien und Theologien zu finden ist, steht in Verbindung mit der Vorstellung einer kosmischen Harmonie. Diese manifestiert sich im Modell der Sphärenmusik und war im antiken Weltbild weitverbreitet. Ein Nachhall dieser Vorstellung liest man noch in Goethes «Faust. Eine Tragödie» (1808). Der Erzengel Raphael singt in der Szene «Prolog im Himmel»: «Die Sonne tönt nach alter Weise / in Brudersphären Wettgesang / und ihre vorgeschriebene Reise / vollendet sie mit Donnergang. // Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke, / wenn keiner sie ergründen mag: / die unbegreiflich hohen Werke / sind herrlich wie am ersten Tag.»97 Der Begriff der Sphärenmusik intendiert die Vorstellung einer harmonischen Ordnung des Weltalls. Griechische Naturphilosophen wie Heraklit (um 520–460 v. Chr.) und Empedokles (um 495–435 v. Chr.) greifen auf mythologische Vorstellungen zurück und sehen den Lauf der Welt und des Kosmos als ein harmonisches Wechselspiel von Entstehen und Vergehen. Eine der ersten Systematisierungen und Verbindungen mit dem Musikalischen dieser Anschauung liefert der griechische Philosoph und Mathematiker Pythagoras (um 570 v. Chr. – 510 n. Chr.). Pythagoras und seine Schule bestimmen das Verhältnis zwischen Himmel, Erde und Seele zum einen durch das Konzept der Harmonie, zum anderen durch Zahlen, die Erkenntnis ermöglichen. Die Pythagoreer verstehen die Philosophie und die Musik als höchste Formen der Seelenläuterung. Die kosmologische Ordnung manifestiert sich für Pythagoras in der Harmonie und dem Wettgesang der Sphären und Gestirne. Harmonie als metaphysisches Konzept vollbringt die Versöhnung von Gegensätzen. Die Ordnung, die den Kosmos zusammenhält, ist keine statische, sondern eine dynamische. Die Bewegungen der Himmelskörper und jene Kräfte, die sie antreiben, bilden zusammen ein harmonisches Ganzes. Die Vorstellung von Harmonie wird in diesem Konzept mit Zahlen verbunden. Die Zahl ist ein Erkenntnisprinzip, sie strukturiert und ordnet die Dinge. Somit kann die Musik als bewusst gestaltete und gegliederte Zeit verstanden werden – und als Wissenschaft. Ist die Zahl das Prinzip aller Dinge, so ist die Musik – als Teil der mathematischen Wissenschaft – im Bereich der Proportionenlehre anzusiedeln. Harmonie und Zahl als Pfeiler der pythagoreischen Lehre vereinigen Begrenztes und Unbegrenztes, Gerades und Ungerades. In diesem Zusammenspiel kommt nun der Musik eine bedeutsame Rolle zu, denn sie spiegelt, so das antike Theoriekonzept, die kosmische Harmonie. Die Beziehung der Töne untereinander lässt sich in Zahlen ausdrücken und kann als Manifestation dieser Harmonie gelesen werden. Musik versteht sich dabei aber nicht nur als Aufeinanderfolge von Tönen, sondern auch als Ausdruck der musikalischen Intervalle. Die Harmonie findet sich ebenfalls in der menschlichen Seele, deswegen kommt der Musik in der antiken Seelenkunde eine so wichtige Funktion zu. Im Moment der Katharsis kann die Musik in der Seele reinigend und heilend wirken. Der Musik wachsen durch diese Theorie neue Bereiche zu, nämlich eine ethische und eine pädagogische Dimension. Diese mehrfache Relevanz wurde in der Folge für das Musikverständnis der westlichen Welt maßgeblich. Als ein Dauerbrenner in der Debatte um das Konzept der Sphärenmusik erweist sich die stets kontrovers behandelte Frage nach ihrer Hörbarkeit. Wer kann die kosmische Musik hören und verstehen? Der Mensch oder andere Wesen oder Engel und / oder weitere kosmische Gestalten? Für die Weiterentwicklung einer Systematisierung der Musik im Rahmen einer kosmischen Ordnung stehen Platon († 348/347 v. Chr.) und Aristoteles († 322 v. Chr.). Sokrates erhält in der Schrift «Phaidon» von Kebes folgenden Rat: «O Sokrates, mach und treibe Musik!» (Phaidon 61a, 3 f.). Mit Platon und Aristoteles wird nicht nur der kosmologische und psychologische Sinn der Musik thematisiert, sondern es wird auch von der mathematischen, ethischen und ästhetischen Dimension der Musik gesprochen. Beide antiken Denker verorten diesen Wissenschaftsbegriff in der Ästhetik. Platon und Aristoteles etablieren den Begriff der Musik (musiké) sowohl als künstlerischen als auch als wissenschaftlichen Terminus. Diese Traditionskette des hellenistischen Denkens wird im römischen Kulturraum von dem Philosophen und Rhetoriker Cicero (106–43 v. Chr.) übernommen und ausgebaut: «Schaust du nicht, in welche Tempel du gekommen bist? In neun Kreisen oder besser Kugeln ist alles verbunden. Der eine ist der himmlische, der äußerste, der alle übrigen umfasst, der höchst Gott selbst, die übrigen einschließend und umfassend […]. Als ich dies voll Staunen betrachtete, sagte ich, während ich mich fasste: ‹Was ist hier? Was ist dieser so gewaltige und süße Ton, der meine Ohren erfüllt?› Das ist jener Ton, der, getrennt durch ungleiche, aber doch in bestimmtem Verhältnis sinnvoll abgeteilte Zwischenräume, durch Schwung und Bewegung der Kreise selber bewirkt wird und, das Hohe mit dem Tiefen mischend, verschiedene Harmonien ausgeglichen bewirkt. Jene acht Bahnen, von denen zwei die dieselbe Kraft besitzen, bewirken sieben durch Zwischenräume unterschiedliche Töne, eine Zahl, die der Knoten fast aller Dinge ist.»98 In der Antike und im Mittelalter wird die Frage der Engelsmusik traditionell mit den Spekulationen zur Sphärenmusik verbunden. Auch der spätantike römische Denker Boethius (* um 480/485) steht in der Tradition dieser antiken Musikspekulation. In seiner epochalen Schrift «De musica libri quinque» (um 500 entstanden) unterscheidet er zwischen musica mundana (kosmischen Musik), musica humana (menschlichen Musik) und musica instrumentalis (Instrumentalmusik). Die musica instrumentalis artikuliert die Harmonie im Menschen, während die musica humana auf die Harmonie im Körper und in der Seele zielt. Die musica mundana umfasst die Harmonie, die im gesamten Kosmos waltet und zur Wohlordnung des Ganzen beiträgt. «Die Sphärenmusik ist die einzig wahre Musik, die anderen Arten sind nur ein Abglanz derselben, insofern sie an ihr teilhaben und an die Harmonie des Kosmos erinnern.»99 Boethius geht bei seiner spekulativen Betrachtung über die Musik von einem anagogischen, das heißt weiterführenden Potenzial aus.100 Dabei kann von einer Struktur ausgegangen werden, die von einer mehr oder minder harmonischen Zusammensetzung einfacher Elemente bestimmt ist. Die neuplatonische Sicht gilt nicht nur für die Töne, sondern auch für die zwischen ihnen obwaltenden Intervalle. Der Philosoph greift auf die antike Vorstellung der Skalen- und Intervallberechnungen zurück. Diese Berechnungen gelten nicht nur für die musikalische Ordnung, sondern spiegeln zugleich die harmonische Struktur des Kosmos. Daher kann Boethius von einer immateriellen Zugangsweise zum Musikalischen sprechen, das für die Erziehung und Themen der Ethik eine propädeutische Funktion besitzt. Die Leistung der Musiktheorie Boethius’ besteht in der «Erweckung des inneren Auges».101 Die Musiktheorie mündet in ein Studium der Seele, das heißt in die Untersuchung der untersten Seinsstufen (Hypostasen), die dem irdischen Werden und Vergehen zwar grundsätzlich enthoben sind, aber beides verwalten und bestimmen. Die Musik(theorie) wird als Wissenschaft der aufeinander bezogenen Bereiche definiert: Die musica sonora (klingende Musik) führt zur musica humana und zur musica mundana. Bei der kosmischen Musik fügen sich die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammen. Dem damaligen Weltverständnis entsprechend bezieht Boethius die Sphärenmusik nicht nur auf die Himmelskörper und ihre Bewegungen, die als gleichmäßig und formschön vorzustellen sind, sondern auch auf die Abfolge der Jahreszeiten und andere zyklisch geordnete Bewegungen. Die kosmische Musik ist für Boethius Vorbild für die menschliche Musik,102 sie verbindet Leib und Seele. Der höchste Erkenntnisgegenstand der musica mundana ist die Allseele, die der Schöpfergott als Urseele und als primäre Mischung erschaffen hat. Die musica mundana zielt auf die Erkenntnis der Seele ab. Dadurch wird auch der Vorrang der musica mundana vor der musica humana deutlich. Beide betrachten die körperliche Seite der Musik. Die kosmische Musik handelt von den wohlgeordneten und regelmäßigen Bewegungen der dem Menschen übergeordneten und unvergänglichen Wesenheiten, das heißt der beseelten Planeten. Der Mensch ist nach Platons «Timaios» kein «unbeschriebenes Blatt», sondern kann, da er als leibgeistiges Wesen mittels der Seele supranaturale Töne versteht, hören. In allen genannten Aspekten...


Wolfgang W. Müller ist emeritierter Professor für Dogmatik und war bis 2021 Leiter des Ökumenischen Instituts an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Er ist Herausgeber der Reihe Text und Normativität (TeNOR) und hat zahlreiche Publikationen zu Theologie und Musik veröffentlicht.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.