E-Book, Deutsch, Band 7019, 378 Seiten
Reihe: Thriller, Krimi und Mystery
Müller-Hahnefeld Lovetube
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-070-3
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 7019, 378 Seiten
Reihe: Thriller, Krimi und Mystery
ISBN: 978-3-95719-070-3
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Adam steht an seinem dreißigsten Geburtstag der Tristesse seiner Existenz gegenüber. Sein Job in einer neurotischen IT-Firma langweilt ihn, seine feministische Freundin lebt neuerdings enthaltsam und seine Versuche in den Exzess auszubrechen, erschöpfen sich in deprimierenden One Night Stands. Als er sich in die junge Influencerin Jenjalee verliebt, ändert sich sein Leben schlagartig. Wie aus dem Nichts taucht das mysteriöse Tech-Unternehmen Dyne auf und versucht Adam mit unorthodoxen Methoden zu rekrutieren. Er soll mit dem Launch eines techorganischen Sextoys die Welt revolutionieren. Noch ahnt er nicht, welche düstere Wandlung die westliche Welt durch den Lovetube nehmen soll.
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Eine gut zehn Meter lange, dreckige Glasröhre markierte den Ausgang von DizTek. Manche sprachen davon, dass der Weg in die Firma sie daran erinnerte, ein Einkaufszentrum aus den Neunzigern zu betreten. Andere verglichen die Röhre mit einem begehbaren Meeresaquarium, in dem irregewordene Haie auf der Flucht vor sich selbst um die Besucher schwammen. Dicke Regentropfen prasselten auf die gewölbten Scheiben, die Staub und Blütenpollen vom Glas lösten und in das verwilderte Rosenbeet spülten. Als Adam mit müden Schritten über die in partieller Nässe schattierten, abgelaufenen Marmorplatten in die Röhre trat, erkannte er den dicksten Mann, den er je gesehen hatte, zusammen mit dem dünnsten Mann, den er je gesehen hatte. Es waren die CEOs der Chromstahl AG, die seit einem allgemein als positiv empfundenen Kennenlernmeeting zu den vielversprechendsten Leads des aufstrebenden Jungvertrieblers Thomas zählten. „... und die Babs wollte also unbedingt Terrakotta. Also haben wir die Wand Terrakotta streichen lassen und jetzt ist sie rosa.“ Der Dicke lachte laut auf, als sie an Adam vorbeigingen. Er grüßte freundlich, doch der Dünne fuhr fort. „... sie meinten, es lag an der Grundierung und daran, dass die Tapete darunter Farbe zieht und deswegen eher der Rosaton durchkommt.“ Adam drehte sich kurz nach ihnen um und ärgerte sich: An einem Tag, an dem er eine perfekt auf das Blau des Anzugs abgestimmte Krawatte trug, erwartete er mehr Anerkennung. An den grundsätzlichen Entwürfen seines Lebens zweifelnd, trat er aus der Röhre ins Foyer. Der Ausbau der Büros im Erdgeschoss zog sich nun schon über mehrere Monate. Eine Leiter, Schubkarre, Kabelrollen und mannshohe Pakete mit Deckenplatten standen achtlos zurückgelassen in einer Ecke und erweckten den unvorteilhaften Ersteindruck einer südeuropäischen Baustelle in einem in der Rohbauphase aufgegebenen Spekulationsbau. Tatsächlich wirkte das Foyer so rustikal, das man geneigt war, diese allzu offensichtlichen Missstände von DizTek zu trennen und die Schuld dafür bei einem anderen Mieter im Gebäude oder dem Eigentümer zu vermuten. Doch es gab keine weiteren Mieter. Und DizTek war Eigentümer dieser Müllhalde. Rosenfeld, seines Zeichens Gründer und CEO von DizTek, war mit der handwerklichen Qualität der bisherigen Arbeiten einer rumänischen Baufirma derart unzufrieden, dass er seit einigen Wochen Vergleichsangebote für die weiteren Bauabschnitte einholte und es wohl noch Monate dauern würde, bis ihm eine Entscheidung gelang. Adam entschied sich gegen die Treppe und für den behäbigen Glasfahrstuhl. Die rot leuchtende digitale Stockwerkanzeige versprühte den futuristischen Touch einer Zukunftsphantasie aus den frühen Neunzigern, war jedoch im Laufe der Jahre albern geworden. Adam durchschritt den langen Gang, an dessen Seiten sich Glaswände mit schallabsorbierenden Holzschiebetüren erstreckten, und lief auf die stählerne Treppe im Mittelgang zu, die den Flur wie die Businessversion einer Justizvollzugsanstalt wirken ließ. Hinter der Treppe befand sich der Meetingraum: Ein von allen Seiten einsehbarer Glaskasten, mit einem großen Tisch in der Mitte, Flipchart, trauriger Zimmerpflanze und einem in die Jahre gekommenen Flachbildfernseher, dessen Kabel offen an der Glaswand herabhingen. Der Raum ließ sich mit Rollos abdunkeln, sodass zumindest gelegentlich der Blick in das Terrarium, wie der Raum intern genannt wurde, verborgen bleiben konnte.
*
Adam schob die Holzschiebetür zu seinem Büro auf, setzte sich an seinen Schreibtisch, fuhr den Rechner hoch und blickte durch die Scheibenwand in Rosenfelds benachbartes Büro. Rosenfeld begrüßte ihn grimmig nickend und drehte sich so ein, dass er mit seinem Rücken den Blick auf seine beiden Monitore verdeckte. Kaum dass Adam saß, sprang er auch schon wieder auf, um sich einen Kaffee zu holen. An manchen Tagen war der erste Kaffee der einzige Grund für Adam, um aufzustehen. Mohammed und Malte standen vor dem Geschirrspüler und räumten in verschiedenen Varianten Gläser und Tassen im oberen Fach umher. Sie befanden sich in einem für Netzwerkadministratoren nicht unüblichen Optimierungsprozess, und während langsam der saure Kaffee des Vollautomaten die Juniper-Networks-Tasse füllte, beobachtete Adam Mohammed betont auffällig dabei, wie er Malte eine seiner Meinung nach effizientere Einräumkombination anbot. In seiner Hand hielt er eine schwarze Kaffeetasse. Doch auch die neue Kombination erwies sich nicht als Lösung. Die Tasse passte einfach nicht. Daraufhin stellte er sie ab und schichtete erneut Gläser und Tassen um und versuchte, sie nun zwischen zwei Unterteller zu schieben, womit er diese jedoch so nach oben schob, dass sich die Spülmaschine nicht mehr zuschieben ließ. „Wäre es nicht einfacher, wenn ihr die Tasse mit der Hand spült?“ „Es geht hier schon lange nicht mehr um die Tasse“, raunte Malte gereizt und sortierte alle Tassen auf die linke und die Gläser auf die rechte Seite, bis sich schließlich nach einigen Henkeldrehungen eine Lücke ergab, in die die Tasse passte. Malte klopfte Mohammed tröstend auf die Schulter und Adam ließ noch einen doppelten Espresso zu seinem Café Crema hinzu. Malte lief an Adam vorbei und drehte sich noch einmal kurz zu ihm um. „Ach so, Adam, bevor du es wieder nicht mitbekommst: Steffen ist nicht mehr da!“ „Wie nicht mehr da? So ganz weg?“ „Heute Morgen lag an seinem Platz nur eine ausgedruckte Mailkommunikation von Rosenfeld mit rot markierten Textpassagen.“ „Er hat Worte wie Rumgeficke und Scheißdreck daneben geschrieben ... ich glaube, das war als Kündigung gemeint. So langsam wird es luftig in der Technik ...“, ergänzte Mohammed und schlurfte mit gesenktem Haupt den Gang entlang. Wahrscheinlich war er der Nächste.
*
Thomas hängte seine regennasse, kürzlich von einem Markenoutlet auf 900 Euro reduzierte Hugo-Boss-Winterjacke an den verchromten Kleiderhaken neben der Büroschiebetür. Beiläufig begrüßte er Adam, als er mit fest nach hinten gestreckten Schulterblättern an ihm vorbeistolzierte, seinen grauen Kaschmirpullover dynamisch über seinen Kopf gleiten ließ und über die Lehne seines ergonomisch geformten, mit rot-schwarzem Büffelleder bespannten Bürostuhls warf. Er fuhr seinen Laptop hoch, grinste Adam kurz an, sagte selbstzufrieden: „Schicker Anzug“, und bog in den Gang in Richtung der Kaffeemaschine ein. Adam erwiderte angestrengt das Grinsen und rieb sich danach die schmerzenden Augen. „Wow, schicker Anzug!“, sagte Kathrin und verschwand im Nachbarbüro. Er wollte etwas sagen, doch sie hörte ihn schon nicht mehr. Zu konzentriert wiederholte sie mantraartig in einem geflüsterten Monolog Vertragsnummern. So versuchte sie, einen Tag zu strukturieren, der sie durch zahllose Anrufe führen würde, in denen sie Kunden daran erinnerte, dass sie zahlen mussten. Im Grunde tat sie nichts anderes: Sie erklärte Menschen, dass es wichtig war, pekuniäre Mittel gegen den Fachblick eines Nerds in Richtung bunter Kabel und grün blinkender LEDs einzutauschen. Das war ihr Leben, und ihre Erfolgserlebnisse bestanden darin, dass noch mehr Nerds noch öfter auf LEDs und Kabel blickten und nebenher ein paar Updates aufspielten. Kathrin führte ein trauriges Leben, das sie nur durch Dating-Apps, wasserdichte, remote steuerbare Sextoys und einer sehr bald folgenden Benzodiazepinabhängigkeit erträglich scheinen lassen konnte. Und bei alledem nahm sie sich auch noch unerträglich ernst, was das Ganze noch trauriger machte. Adam öffnete TikTok. Jenjalee hatte ein neues Video hochgeladen. Sie war phänomenal: Eine jener Frauen, die allein durch ihre Mimik gewaltige Dopaminmengen in das Belohnungssystem ihrer Zuschauer spülen konnte. Wenn sie ihre riesigen, wunderschönen Kulleraugen aufmachte oder in einem Video einen skeptischen Blick in ein warmherziges Lächeln aufweichen ließ, spürte Adam ein Prickeln in seinem Bauch. Es musste jedem ihrer 200.000 Follower so gehen. Ihr Körper war nur eine Projektionsfläche für die Songs und Sprachschnipsel anderer, die sie interpretierte, und obwohl man nichts von ihr wusste, nicht einmal ihre Stimme kannte, verliebte man sich innerhalb von Sekunden in sie. Immer wenn Adam eine solche Frau irgendwo auf der Welt sah, kam ihm in den Sinn, dass sie mit irgendjemandem fickte. Das Bild eines Mannes, der mit solchen Frauen schlief, war für Adam gleichgesetzt mit einer gottgleichen Ikone, einem Mann jenseits jeglichen erreichbaren körperlichen und geistigen Niveaus, eines jener Einzelindividuen, die durch ihre schiere Existenz den Fortschritt der gesamten Menschheit zu beeinflussen vermochten. Es mussten Übermänner sein, Männer von dem Format wie die Herren, die einst Sklaven zum Bau von Pyramiden im alten Ägypten koordinierten, Techrevolutionäre, die heute das waren, was die Feldherren vergangener Jahrhunderte zu sein versuchten. Es waren Männer wie ... Alex. Doch was um alles in der Welt meinte sie mit diesen weißen Bildern? Das war schon alles sehr albern.
*
Für den Nachmittag stand das Meeting mit der Virtual Person GmbH in Adams ansonsten überwiegend mit den Terminen von Kollegen gefülltem Outlook-Kalender. Es war im Grunde unzweckmäßig, einem hippen Start-up wie Virtual Person im Anzug zu begegnen. Es erschien Adam jedoch sinnvoll, overdressed aufzutreten, um so seine Inkompetenz zu kaschieren. Virtual Person...