Die Liebe zur Literatur wies ihr den Weg in die Freiheit. Roman
E-Book, Deutsch, 430 Seiten
ISBN: 978-3-7517-4230-6
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lucca Müller, geboren 1968 in Köln, hat Germanistik, Philosophie, Italienisch und Theaterwissenschaft studiert. Sie arbeitet seit über zwanzig Jahren als Drehbuchautorin für verschiedene Fernsehserien.
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1 Aufbruch
Adele, Winter 1805
Der Vater stand in der offenen Ladeluke oben im Speicher. Seine hagere Gestalt verdeckte den Blick auf den hölzernen Hebekran, mit dessen Hilfe die Waren von den Schiffen unten auf dem Fleet vier Stockwerke hoch in den Lagerraum gehievt wurden. Er wandte Adele den Rücken zu und blickte in die Tiefe. Sie wunderte sich, dass er sich nicht festhielt. Seine Arme baumelten lose neben dem Körper. Nun beugte er sich vor und streckte die Arme nach hinten, wie um das Gleichgewicht zu halten. Er schien unten etwas zu suchen. Plötzlich hatte sie Angst um ihn. Am Abgrund zu stehen, war gefährlich. Wenn die Ware gelöscht wurde, achtete der Vater stets darauf, dass die Lagerhelfer gesichert waren. Sie selbst durfte nie auch nur in die Nähe der Luke kommen, die so groß war, dass drei Männer aufrecht nebeneinander arbeiten konnten. Sie hatte den Drang, ihn zu warnen, doch sie rang den Impuls nieder. Den Vater sprach man nicht an, das hatte die Mutter ihnen eingeschärft. Man wartete, bis man zum Reden aufgefordert wurde, was in letzter Zeit nur noch selten geschah. Der Vater flößte ihr zunehmend Scheu ein, dabei war sie früher sein Liebling gewesen. Er war sanfter zu ihr als zu Arthur oder selbst zur Mutter und hatte ihr oft Geschenke mitgebracht. Seit der langen Reise benahm er sich aber seltsam. Er beachtete sie kaum noch, starrte meist nur missmutig vor sich hin. Die Mutter beteuerte, es liege nicht an ihr. Den Vater plagten Sorgen. Bei den Mahlzeiten saß er schweigend am Kopfende, die Stirn in Falten gelegt. Adele hätte ihn gerne aufgeheitert, aber sie getraute sich nicht. Selbst ihr großer Bruder, der sich sonst nie einschüchtern ließ, blieb stumm. Lediglich die Mutter plauderte unentwegt, wobei der Vater meist gar nicht zuhörte. Manchmal nickte er an den falschen Stellen. Sobald er fertig gegessen hatte, stand er auf und zog sich in sein Schlafzimmer zurück. Unschlüssig stand Adele im riesigen Lagerraum. Eigentlich hätte sie gar nicht hier sein dürfen. Seit Arthur beim Spielen die Seidenballen ruiniert hatte, war ihnen der Speicher untersagt. Mehr noch als die Strafe des Vaters fürchtete sie die Gespenster. Hier oben spukte es. Die Geister flüsterten miteinander, man konnte sie hören. Einmal hatte eine eisige Hand sie rücklings an der Schulter gepackt, worauf sie schreiend weggerannt war. Da hatten die Gespenster eine Teekiste vom obersten Regalbrett geworfen. Nur um Haaresbreite hatte das Geschoss sie verfehlt. Seitdem wagte sie sich nicht mehr unters Dach. Aber heute hatte sie nicht widerstehen können. Das Schokoladenkonfekt war eingetroffen. Drei Kisten, frisch aus Belgien. Erst ein einziges Mal hatte sie davon naschen dürfen, an ihrem siebten Geburtstag. Den köstlich süßen Geschmack spürte sie heute noch auf der Zunge, nach über einem Jahr. Wenn sie ganz vorsichtig war, würden die Geister sie nicht bemerken, und der Vater auch nicht. Sie raffte ihr Kleid zusammen, damit es nicht am Boden raschelte. Lautlos schlich sie durch den Speicherraum auf die Kisten mit dem Konfekt zu, die kleiner und aus besserem Holz waren als die anderen. Adele sah sie schon, sie standen an der Wand, einige Schritte neben der Öffnung, von deren Kante aus der Vater noch immer nach unten starrte. Beinahe war sie am Ziel, da knarrte ein Dielenbrett unter ihren Füßen. Reglos hielt sie den Atem an. Aber der Vater hatte sie schon bemerkt. Er wandte sich um. Sie zog den Kopf ein, ihre Hände umklammerten ihre Ellenbogen. Sein Blick senkte sich in ihre Augen. Um dem Donnerwetter zuvorzukommen, stammelte sie eine Entschuldigung, doch die Art, wie der Vater sie ansah, ließ sie verstummen. Diesen Ausdruck hatte sie noch nie an ihm gesehen. Als wäre er gar nicht hier, sondern unerreichbar fern, in einer anderen Welt, die nur noch fadendünn mit dem Diesseits verbunden war. Sie erschrak: Das war ja ein Geist! Panisch rannte sie zum Ausgang und rüttelte an der Tür, die wieder einmal klemmte. Sie warf sich dagegen, doch der Fluchtweg blieb verschlossen. Den Tränen nahe, drehte sie sich um, erwartete grauenerregend kalten Gespensteratem in ihrem Nacken, meinte schon, die eisigen Hände zu spüren, die sie an der Schulter packten. Doch das Gespenst in Gestalt ihres Vaters wandte sich wieder von ihr ab. Mit dem Rücken zu ihr verharrte es wie festgenagelt in der Ladeluke. Sein Umriss zeichnete sich gegen das Abendrot ab. Adele fand es seltsam, dass das Gespenst nicht durchsichtig war. Es sah einem echten Menschen zum Verwechseln ähnlich. Statuenhaft unbewegt ragte es in der Öffnung auf. Die Haare, grau wie die des Vaters, flatterten im Wind. Etwas an dem Anblick zog Adele in den Bann. Sie vergaß, dass sie eben noch hatte fliehen wollen. Mit einem Mal verschwand ihre Angst, und ein unbestimmtes Gefühl von Erwartung erfasste sie. Das Wesen flüsterte, ein leises Murmeln, fast wie ein Gebet. Der Vater würde niemals beten, er glaubte nicht an Gott. Das Gespenst breitete die Arme aus. Im Gegenlicht erinnerte es an einen Priester beim Segen. Plötzlich flog es los. Kerzengerade kippte es nach vorne, erst langsam, dann schneller, wie eine umstürzende Säule. Zuletzt lösten sich die Füße vom Grund, dann wurden auch sie unsichtbar. Von dem Geist blieb nur ein dünner Nebelstreif zurück, der vom Wind davongeblasen wurde. Plötzlich ließ die Tür sich wieder öffnen. Benommen stieg Adele die Treppen hinunter. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Auf dem Absatz oberhalb der Wohnräume sank sie auf die Stufen. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, fragte sie sich, was sie gerade gesehen hatte. War es Einbildung gewesen? Ihr Französischlehrer sagte immer, sie habe zu viel Fantasie. Das sei nicht gut für ein Mädchen, meinte er. Wenn sie ihrer Mutter davon erzählte, zwinkerte die ihr verschwörerisch zu. »Monsieur Jacques beherrscht seine Sprache, aber sonst versteht er nicht viel.« »Da steckst du!« Adele erschrak. Sophie, das Kindermädchen, stand vor ihr. »Ich habe dich schon gesucht. Du musst die Hände waschen. Es gibt gleich Abendessen.« »Ich war nicht auf dem Speicher!« Sie errötete, kaum dass sie es gesagt hatte. Man durfte nicht lügen. Die rundliche Frau mit dem freundlichen Gesicht musterte sie aufmerksam. »Ist alles in Ordnung, Kind?« Sophie war kein gewöhnliches Kindermädchen. Sie konnte Gedanken lesen, jedenfalls ihre Gedanken. Adele konzentrierte sich auf die Astlöcher in den Bodendielen und versuchte, das Erlebte aus dem Kopf zu verbannen. Sophie setzte sich neben sie. Auch sie war Französin, aber viel netter als der Lehrer. »Du kannst mir alles sagen.« Adele beschloss, ihr zu vertrauen. »Hast du schon mal ein Gespenst gesehen?« »Du warst also doch auf dem Speicher.« Sie nickte kleinlaut. Sophie strich ihr beruhigend über die Wange. »Gespenster spuken nicht tagsüber.« Das leuchtete ihr ein. Wenn es aber kein Geist gewesen war, sondern der Vater selbst, wieso war er dann plötzlich verschwunden? Beim Abendessen blieb sein Platz am Kopfende des Tisches frei. Adele fasste sich ein Herz. »Wo ist Vater?« »Er hütet das Bett«, sagte die Mutter. »Er fühlt sich nicht gut.« Also hatte sie auf dem Speicher nicht ihn gesehen. Und auch keinen Geist. Was aber dann? Ihre Verwirrung wuchs. »Ist kein großer Unterschied«, meinte Arthur und nahm sich einen Nachschlag vom kalten Braten. Die Mutter wies ihn unerwartet heftig zurecht. »Sprich nicht so über deinen Vater!« »Aber ist doch so.« Arthur blieb unbeeindruckt. »Er sitzt nur da und schweigt.« »Darf ich ihn vor dem Schlafengehen kurz besuchen?«, fragte Adele. »Lieber nicht«, erwiderte die Mutter. »Er könnte ansteckend sein.« Am nächsten Morgen rief sie sie noch vor dem Frühstück zu sich. »Ich muss euch etwas Trauriges sagen, Kinder. Euer Vater ist tot.« Sie standen am Bett des Vaters. Darin lag wächsern und fahl eine Gestalt, die ihm ähnelte und die doch nicht er war. Ein weißes Laken bedeckte das Wesen bis zur Brust. Darüber waren die Hände wie zum Gebet gefaltet. Niemand sagte etwas. Adele hielt sich dicht bei der Mutter. Die Gestalt gruselte sie. Nun war der Vater wirklich ein Gespenst. Jeden Moment erwartete sie, dass er plötzlich die eingesunkenen Augen aufriss. Der Mund stand bereits leicht offen. Ihr Bruder Arthur zeigte auf einen Fleck, der sich um den Kopf herum auf dem Kissenbezug abzeichnete. »Wieso sind seine Haare nass?« Verwirrt starrte Adele auf die grauen Strähnen. Tatsächlich glänzten sie feucht. Wurden Gespenster nass? »Vielleicht ist er ins Wasser gefallen«, murmelte sie ratlos. Ihre Mutter wandte sich abrupt zu ihr um und musterte sie forschend. Mit zusammengezogenen Brauen blickte der große Bruder die Mutter an. »Ich dachte, er war krank?« »Das stimmt auch«, bestätigte sie. »Deshalb ist er gestern ja früher aus dem Kontor hochgekommen als sonst.« Adele sah plötzlich wieder die wie zum Flug ausgebreiteten Arme der Gestalt auf dem Dachboden. »Die Speicherluke stand offen …«, flüsterte sie. Arthur starrte sie durchdringend an. »Was willst du damit sagen?« Sie wusste jetzt gar nichts mehr. In ihrem Kopf war alles voller Nebel. Hilflos zuckte sie mit den Achseln. »Was meint sie damit? Ist Vater gestürzt?«, fragte der Bruder die Mutter misstrauisch. »Das Kind ist völlig verstört, Arthur. Merkst du das nicht?« »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, beharrte er. »Wie kommt sie darauf?« »Nun hab doch Respekt, Arthur. Dort liegt euer Vater!« Der...