Müller | Der Tag X | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Müller Der Tag X

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-21155-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-641-21155-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der große Roman über den Aufstand am 17. Juni 1953, als 24 Stunden alles möglich schien

Das Leben der Gymnasiastin Nelly Findeisen wird mit jedem Tag komplizierter. Es reicht nicht, dass sie ihren Vater, der vor sieben Jahren nach Russland abkommandiert wurde, nie mehr sieht, auch ihre Mutter wird ihr zusehends fremder. Hinzu kommt ihr Engagement in einer kirchlichen Jugendorganisation, was im Frühjahr 1953 zum Rauswurf aus der Schule führt. Trost könnte sie bei dem jungen Uhrmacher Wolf Uhlitz finden, der sich in sie verliebt hat. Er will ihr helfen, legt sich dafür sogar mit seinem Vater an, entwendet staatliche Dokumente und landet im Gefängnis. Was Wolf nur vage ahnt: Die junge Nelly steht in einer geheimnisvollen Verbindung mit einem russischen Spion namens Ilja, der sie mit Nachrichten über ihren verschleppten Vater versorgt und den Austausch von Briefen mit ihm vermittelt. Wie Wolf träumt auch Ilja von einem Leben mit Nelly – aber als sich in Berlin und Halle die Unzufriedenheit mit dem Regime in Massendemonstrationen entlädt, hängt ihrer aller Leben an seidenen Fäden.

Titus Müller erzählt eindringlich und packend vom Leben der Aufbegehrenden und entfaltet authentisch und detailgenau das Panorama eines Aufstandes, der beispielhaft wurde.
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B E R L I N, 2 2. O K T O B E R 1 9 4 6 Als Faustschläge gegen die Tür donnerten, richtete das Mädchen sich im Bett auf und lauschte in die Dunkelheit. Sie hörte ihren eigenen Atem. Jetzt dröhnten Männerstimmen von der Straße herauf, und im Zimmer nebenan knarzte das Bett der Eltern. Nelly erhob sich leise und schlich auf nackten Füßen zum Fenster. Vor dem Haus stand ein Militärlastwagen, und Soldaten, die mit Maschinengewehren bewaffnet waren, blickten aufmerksam an der Fassade hoch. Ein Offizier rauchte, sie sah die Zigarettenspitze aufglimmen, bevor er die Zigarette auf die Straße schnippte und in russischer Sprache einen Befehl erteilte. Wieder erbebte die Tür unter Fausthieben. Nellys Brust schnürte sich zu, sie bekam kaum noch Luft. »Ich komme«, rief der Vater. Sie hörte das Flüstern der Eltern im Wohnungsflur, dann die Schritte ihres Vaters und das Aufschließen der Tür. Schwere Stiefel polterten in die Wohnung. Hastig sah das elfjährige Mädchen sich um. Schreibtisch? Bett? Schrank? Armselige Verstecke! Der Vorhang am Fenster? »Wer gibt Ihnen das Recht, hier einzudringen? Es ist drei Uhr in der Früh!« Vaters Protest ging in russischen Befehlen unter. Die Tür zum Kinderzimmer wurde aufgerissen, und ein Militärpolizist schaltete das Licht ein. Er rief zwei Uniformierte heran und zeigte auf Nellys Schrank. Sie nahmen Nägel aus einer kleinen Schachtel und nagelten mit groben Hammerschlägen die Schranktür zu. Zwei andere trugen den Schreibtisch hinaus. Sahen sie Nelly gar nicht? Sie lief zur Mutter, die aber auch nur ungläubig auf die Uniformierten starrte, die ihre Wohnzimmerschränke zunagelten. Vater redete leise mit dem Offizier. Der musste etwas Schlimmes gesagt haben, denn Vater wurde blass und sagte zu Mutter und ihr: »Zieht euch an.« Der Schrank, der Nellys gesamte Kleidung enthielt, wurde gerade hinausgetragen, und sie spürte, wie ihr Herz heftiger schlug. Sie würde die Sachen von gestern anziehen müssen, die über der Stuhllehne hingen. Die Badezimmertür schloss sich. Kurz darauf hörte Nelly ihre Mutter im Bad schluchzen. »Schnell«, sagte Vater, schob Nelly in ihr Zimmer zurück und schloss von draußen die Tür. Wo der Schreibtisch und der Schrank gestanden hatten, lagen jetzt Staubflusen. Nelly löschte das Licht, damit man sie nicht durch das Fenster sah, schlüpfte aus dem Pyjama und zog sich an. Anziehen bedeutete, man würde sie von hier wegbringen. Durften sie nicht länger in diesem herrschaftlichen Haus in der schönen Sternallee wohnen? Wurden sie gar ins Gefängnis gesteckt? Was hatten sie denn verbrochen? Sie zog die Kiste mit der Laterna magica unter dem Bett hervor. Ihre Traummaschine. Wenn für ein Kind eine Ausnahme gemacht wurde und sie die Laterna magica mitnehmen durfte, würden die leuchtenden Bilder ihr in der kalten Zelle Trost spenden. Aber gab es überhaupt Strom in Gefängniszellen? Notfalls musste sie sich die Bilder eben ohne künstliches Licht anschauen und sie einfach vor das vergitterte Fenster halten. Hoffentlich zerbrachen nicht unterwegs die Glasplatten. Zum letzten Mal sah sie sich ihr Kinderzimmer an. Sie nahm Abschied von der hohen, stuckverzierten Decke, die ihr das Gefühl gegeben hatte, in einem Schloss zu wohnen und eine Prinzessin zu sein, und nickte dem Puppenhaus zu, das auf dem blank gebohnerten Parkettboden stand. Dann schleppte sie die Kiste in den Flur. Zwei Uniformierte rollten gerade den Teppichläufer ein, schulterten ihn und gingen nach draußen. Aus der Küche trug ein Soldat eine Obstkiste voller Geschirr so achtlos heraus, dass die Tassen schepperten. Der Offizier, der draußen geraucht hatte, stand jetzt im Flur und warf Vater einen strengen Blick zu. »Der Wagen wartet.« Dass Vater nichts erwiderte, machte Nelly Angst. Sie stolperte ihm hinterher Richtung Haustür. Mutter stellte sich ihr in den Weg: »Was willst du mit dem alten Ding?« Ein junger Soldat, der mit seiner Maschinenpistole den Abtransport überwachte, lächelte. »Laterna magica? Schön«, sagte er in gebrochenem Deutsch. Mutter nahm ihr die Kiste aus der Hand. »Nelly«, sagte sie leise, ihr verheultes Gesicht kam ganz nah, »wir werden nach Russland verschleppt. Womöglich nach Sibirien. Du brauchst warme Kleidung, kein Spielzeug.« Sie stellte die Kiste auf den Boden. »Halt die Arme auf.« Nelly gehorchte. Mutter legte ihr die Wolljacke quer darüber und lud ein zweites Paar Schuhe darauf und den Schal, der an der Garderobe gehangen hatte. »Geh raus zum Auto«, sagte sie und verschwand in der Küche. Trotzig legte Nelly die Last ab. Sie öffnete die Kiste der Laterna magica und suchte ihre liebsten Glasbilder heraus: die Eisbären am Nordpol, den Dschungel und die Pyramiden in Ägypten. Die wickelte sie in die Wolljacke ein, ergriff die Schuhe und den Schal und ging zur Haustür. Der junge Soldat lächelte schon wieder. Er bückte sich zur Kiste hinunter und trug Nelly die Laterna magica hinterher. Vor dem Haus warteten zwei Armeelastwagen. Der eine war bis oben mit Möbeln gefüllt, darunter auch die von Nelly. Sie und ihre Eltern wurden zum zweiten Lastwagen geschickt. An beiden Seiten der Ladefläche waren Bänke angeschraubt. Darauf mussten sie Platz nehmen. Der junge Soldat reichte ihr die Laterna magica hinauf. Er blickte sie für einen Moment nachdenklich an, als würde Nelly ihn an jemanden erinnern. Vater nickte den anderen Leuten zu, unter denen sich einige Nachbarn befanden, die auch Nelly kannte: der nette Junggeselle und Physikprofessor Stolzing, der Ingenieur Polster, dessen Frau immer so hochnäsig an ihr vorbeiguckte und wenn überhaupt nur missmutig grüßte, und zwei, drei weitere Ehepaare, deren Gesichter ihr vage vertraut waren. Alle wirkten sie geschockt. Jetzt kam auch Mutter, begleitet von einem Soldaten. Sie trug ein Brot in der Hand und hatte die Manteltaschen voller Äpfel. Als sie auf den Lastwagen kletterte, fiel einer hinaus und rollte über die Straße, bis er im Dreck liegen blieb. Mutter starrte die Familien an, die dicht gedrängt auf den Bänken saßen. Jetzt heulte sie wieder auf, was Nelly wütend machte, und rief: »Das können die nicht machen!« »Doch«, sagte ein Mann trocken, »können die.« Der Ingenieur Polster warf einen erschrockenen Seitenblick auf die Militärpolizisten. Er machte eine beschwichtigende Geste. »Man hat uns versprochen …« »Versprochen?«, fuhr Mutter, die immer noch stand, dazwischen. »Was denn? Dass wir in Sibirien zu essen bekommen? Dass die Kinder zur Schule gehen dürfen? Und was ist mit den Versprechen, die wir letztes Jahr bekommen haben? Kapieren Sie doch! Die haben uns die schönen Häuser nur gegeben, um uns zusammenzupferchen, der Hirschgarten mit seinen schönen Villen war in Wahrheit unser Ghetto, die ganze Zeit!« Einer der Militärpolizisten stieg zu ihnen auf die Ladefläche. Er tippte auf die Maschinenpistole vor seiner Brust und sah Mutter aus kalten Augen an. Vater klammerte sich an sie, auch Nelly nahm ihren Arm und zog sie auf die Bank herunter. Wenn sie Mutter jetzt hochreißen und vom Lastwagen stoßen würden … Der Lastwagen fuhr an. Der Militärpolizist stand noch eine Weile, als könnte ihn die polternde Fahrt nicht im Geringsten aus dem Gleichgewicht bringen. Schließlich setzte er sich an das Ende der Bank. Die Gefangenen wichen furchtsam vor ihm zurück. Keiner von ihnen würde es wagen, während der Fahrt abzuspringen und zu fliehen. Auf allen Kreuzungen sah Nelly Militärjeeps und Wachposten. Der gesamte Hirschgarten war von Truppen der Roten Armee abgeriegelt worden. Ein Mann rannte über die Straße, drei Soldaten jagten ihm nach, holten ihn ein und knüppelten ihn nieder. Wie ein Sack Mehl wurde er in einen wartenden Jeep geworfen. Im Schein der Straßenlaternen wirkte das Geschehen wie ein gespenstisches Nachtstück, aufgeführt, während die Stadt Berlin schlief. Alle auf den Bänken im Lastwagen hatten das gesehen, was Nelly soeben beobachtet hatte, und versanken doch in Stille. Draußen hingen noch Werbeplakate von den Berliner Magistratswahlen, bei denen die SED eine schwere Niederlage erlitten hatte und von SPD und CDU auf den dritten Rang verwiesen worden war, womit laut Vater niemand gerechnet hatte. Am allerwenigsten die Machthaber in der Sowjetischen Besatzungszone. Aber in Berlin konnten sie die Wahlen nicht so stark wie anderswo beeinflussen, ganz Berlin wählte gemeinsam, die Menschen in der östlichen mit denen in den westlichen Besatzungszonen. Seit der Wahl lastete eine bleierne Schwere auf der Stadt, man hatte geahnt, dass etwas kommen würde, in der Schule hatte Nelly den Ernst der Lage an den Gesichtern der Lehrer ablesen können. Und jetzt wurde der Albtraum, vor dem sich alle gefürchtet hatten, Wirklichkeit. Als der Lastwagen am Bahnhof Köpenick hielt, presste Nelly ihre Laterna magica an sich. Hier in der Nähe, im Erpetal, hatte sie manches Mal mit ihren Freundinnen am Mühlenfließ gespielt, auch wenn sie danach ausgeschimpft wurde, weil sie sich so weit vom Haus fortgestohlen hatte. »Aussteigen!«, befahl der Militärpolizist. Sie kletterten von der Ladefläche. Der Bahnhof war abgeriegelt, es wimmelte von bewaffneten Rotarmisten. An eine Flucht war nicht zu denken. Die Gleise standen voller Eisenbahnwaggons, obwohl es...


Müller, Titus
Titus Müller, geboren 1977, studierte Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt« und veröffentlichte seither mehr als ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« brachte ihn auf die SPIEGEL-Bestsellerliste und wird auch von Geheimdienstinsidern gelobt.



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