E-Book, Deutsch, 658 Seiten
Reihe: ISSN
Beobachtungen zur Genese von frühen und späten Textzuständen
E-Book, Deutsch, 658 Seiten
Reihe: ISSN
ISBN: 978-3-11-119468-4
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Darius Müller, Kirchliche Hochschule Wuppertal.
Zielgruppe
Scholars in the fields of theology, church history / Theolog/-innen, Kirchenhistoriker/-innen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Teil I: Voraussetzungen
1 Einführung
Wie keine andere Schrift des Neuen Testaments polarisiert die Johannesapokalypse (Apk) durch ihren außergewöhnlichen Inhalt, indem sie auf spektakuläre Weise vom eschatologischen Handeln Gottes erzählt. Wer es wagt, sie zu öffnen, wird durch ihre eigentümliche Bild-, Motiv- und Sprachwelt immer wieder zu einer intensiven Auseinandersetzung herausgefordert. Dies gilt nicht nur für die rezipierende Gegenwart, sondern auch für die unzähligen Kopistinnen und Kopisten,1 die vornehmlich in Form von Handschriften beharrlich ihren Wortlaut über die Jahrhunderte im Bemühen um größtmögliche Sorgfalt reproduzierten und so die Offenbarung Jesu Christi vor allerlei weltlichen Verlustgefahren durch Schimmel, Wurm, Feuer und Wasser bewahrt haben. Bekanntlich zeichnet sich die Überlieferung der Apk durch diverse Eigentümlichkeiten im Vergleich zu den übrigen neutestamentlichen Schriften aus. Alle Nutzer und Nutzerinnen werden unmittelbar in der Einleitung zur wissenschaftlichen Standardausgabe, Nestle-Aland28, des Neuen Testaments auf diesen Umstand hingewiesen:
Die Überlieferung der Apokalypse weist im Vergleich mit den übrigen neutestamentlichen Schriften viele Besonderheiten auf. Zu diesen Besonderheiten gehört, dass der Text der byzantinischen Mehrheit in zwei unterschiedlichen Traditionssträngen vorliegt.2
Obwohl auch andere neutestamentliche Bücher wie die Apostelgeschichte eine auffällige Textgeschichte haben,3 findet sich in der Einleitung von NA28 nirgendwo ein vergleichbarer Hinweis zur Überlieferungssituation einer Schrift. Allein dieser Umstand verdeutlicht die Sonderrolle der Apk in der neutestamentlichen Texttransmission. Das auffälligste Merkmal ist die Tatsache, dass im Vergleich zu den übrigen Schriften des Neuen Testaments für die Apk kein weitgehend einheitlicher Text durch die Mehrheit der Handschriften überliefert wird. Anstelle eines Mehrheitstextes, der textgeschichtlich als ‚Byzantinischer Text‘ bezeichnet werden darf,4 zerfallen die Apk-Handschriften in mehrere klar differenzierbare Gruppen. Dieser Umstand hat gravierende Auswirkungen auf sämtliche Bereiche der Textherstellung: von der Auswahl der für die Edition maßgeblichen Handschriften bis zur Wiedergabe der Bezeugung einzelner Varianten im kritischen Apparat.5
Die größte Herausforderung besteht allerdings in der Darstellung der Textgeschichte sowie der damit einhergehenden textkritischen Bewertung der Handschriften in ihrer Funktion als Zeugen für den Apk-Text. Obwohl zur Mitte des 20. Jahrhunderts viele Fragen zur Texttransmission der Apk gelöst schienen und deswegen auch von Kurt Aland keine Text-und-Textwert-Auswertung angestrebt worden ist, durchzieht die Textkonstitution des NA28 zahlreiche ungelöste Probleme und fragwürdige Textentscheidungen.6 Trotz aller Bemühungen den Apk-Text zu bereinigen und ihn auf eine verlässliche textgeschichtliche Grundlage zu stellen, konstatiert Martin Karrer angesichts der Fülle an verbliebenen Unwägbarkeiten, „wie unvollendet die im 19. Jh. begonnene Korrekturarbeit“7 letztendlich geblieben ist. Nicht zuletzt ziehen neue Handschriftenfunde wie P98 und die Fortschritte der modernen Informationstechnologie vermeintlich sichergeglaubte Erkenntnisse in Zweifel und lassen nach konsistenteren Erklärungsmodellen für die Textgeschichte der Apokalypse fragen.
2 Ausgangssituation
Herman C. Hoskier8 und Josef Schmid9 heben durch ihre epochalen Arbeiten zur griechischen Überlieferung der Apk den Weg zur gegenwärtigen Textfassung von Nestle-Aland28 bereitet und die textgeschichtliche Grundkonzeption geschaffen, auf deren Basis seitdem sämtliche Handschriften inklusive neuer Funde profiliert werden.10 Während Hoskier insbesondere das Handschriftenmaterial erschloss und eine umfangreiche Kollation aller ihm erreichbaren Handschriften vorlegte, widmete sich Schmid vor allem Fragen nach der Textgeschichte, um so die Textkonstitution zu begründen.
Im Kern besteht Schmids textgeschichtliches Erklärungsmodell – das noch näher zu besprechen sein wird (siehe Teil I: 4.2.3) – aus der Annahme von vier unabhängigen Texttypen, die er gelegentlich auch als „Stämme“ bezeichnete:11 Die Hauptzeugen für den sog. A-Text, der in seinen Augen den mit Abstand besten Zeugen der Apokalypse darstellt, sind die Zeugen GA 02 und 04 sowie der Text, den der Ausleger Oecumenius seinem Kommentar zugrunde gelegt hat;12 letzterer ist am besten in der Minuskel 2053 erhalten geblieben. Daneben identifizierte Schmid den S-Text als zweiten alten Stamm der Apokalypse-Überlieferung, der primär durch P47 und 01 bezeugt wird. Da von P47 jedoch ein Großteil des Textes fehlt, lässt sich dieser Texttyp nicht mit derselben Sicherheit feststellen wie der A-Text. Schließlich gibt es noch zwei Texttypen, auf die sich der Großteil der jüngeren Minuskel-Handschriften aufteilt, nämlich den Koine- und Andreas-Text. Durch die Sigla