E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Márai Schule der Armen
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96008-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Leitfaden für Menschen mit geringem Einkommen
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-492-96008-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.
Weitere Infos & Material
1
Am zweckmäßigsten beschäftigt man sich mit der Armut vom philosophischen Standpunkt aus, schon wegen der einfachen Tatsache, daß in den meisten zivilisierten Staaten jeder, der sich mit der Armut in einer ganz gewöhnlichen Tonart und rein praktisch auseinanderzusetzen versucht, früher oder später hinter Schloß und Riegel endet.
Als erstes wollen wir also feststellen, daß die Armut, vom rein philosophischen Standpunkt aus betrachtet, der normale menschliche Zustand ist. In der Tat, nur die Einfältigen und die berufsmäßig böswilligen Schwätzer können behaupten, daß neuartige wirtschaftliche Theorien oder gar ein hingeworfenes politisches Schlagwort von einem Tag auf den anderen die großen Massen aus dem Zustand der Armut herausheben könnten.
Nur sanfte Träumer oder zu allem entschlossene Fanatiker können dummerweise behaupten, daß die die Erde bevölkernde, im großen und ganzen gutmütige, im Tragen ihrer Leiden ungemein geduldige und in ihrer Gesamtheit talentlose menschliche Rasse sofort glücklich wird und nicht länger arm ist, sobald eine Lehre oder ein Schlagwort, zum Beispiel die Chorgesänge der Heilsarmee oder die Dogmen von Marx, sich mit dem nötigen Nachdruck über die ganze Welt verbreiten. Dies können nur Soziologen oder Menschen glauben, die man für ihre Stellungnahme eigens bezahlt. Ein vernünftiger Mensch dagegen, und vor allem jene, in denen noch der sittliche Mut lebt (was bedeutet, daß sie weder von extrem links noch von extrem rechts Geld annehmen), vermögen Theorien, die mit der Wahrheit so wenig zu tun haben wie Pontius Pilatus mit dem Kredo, nur mit Schamröte im Gesicht anzuhören.
Nach welchem Schlüssel die Menschen unter sich die Produkte und die Bodenschätze der Welt aufteilen, durch welche friedlichen oder gewaltsamen Mittel sie den Verteilungskoeffizienten einer ihre eigenen Interessen begünstigenden Korrektur unterwerfen wollen, mit diesem zweifelsohne sehr aktuellen Problem hat jedoch die Armut – als natürlicher Zustand des Menschen – überhaupt nichts zu tun. Die Menschen haben sich an die Armut gewöhnt und betrachten sie als Selbstverständlichkeit. Prominente Persönlichkeiten erklären ihnen von Zeit zu Zeit, warum sie eigentlich arm sind, und die Menschen hören sich dies meist sogar gläubig an, das ist aber auch alles.
Vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet ist es aber vollkommen gleichgültig, ob die Menschen in hoffender Erwartung eines neuen Wirtschaftssystems die Leiden der Armut ertragen, damit eine Bank oder ein industrielles Unternehmen eine höhere Dividende ausschüttet, aus religiöser Überlegung oder aber im Dienst eines romantischen und nebulösen Schlagwortes: zum Beispiel die Freiheit, die Kolonisierungspolitik oder gar ein Streichholztrust. Wie immer wir auch diese Schlagwörter variieren, die Wahrheit läßt sich schwer verheimlichen, daß nämlich die Menschen arm sind, daß nur eine ganze kleine Fraktion der Milliarden von Erdenbewohnern reich ist. Und wenn auch der Staat zeitweise von den Reichen die Rolle des Kapitalisten übernimmt, bleibt doch die Armut der großen Massen in China, in Lappland oder auch in Nischnij Nowgorod gleich.
Die Begründung, warum und zu welchem Zwecke die Menschen hier oder dort arm sind – so bestechend diese Argumentation auch klingen mag –, kann nichts an der Dauerhaftigkeit der geheimnisvollen Institution der Armut ändern. Es gibt selbst in Jahrmarktsbuden kein dankbareres Publikum als das einer Volksversammlung, auf der Redner erklären, warum die Menschen bis jetzt an Armut litten, und sodann bei Vorgaukelung eines fernen Zieles die Anwesenden auffordern, durch begeistertes Akzeptieren neuer Opfer und Entbehrungen dieses Ziel zu verwirklichen. Nun tobt die Zuhörerschaft vor Begeisterung, denn es wird ihr ein Vorwand geboten, auch weiterhin unverändert, vielleicht noch in gesteigertem Maße, arm zu bleiben. Dieser Zustand ist ihr anscheinend so zur zweiten Natur geworden, daß sie sogar von Zeit zu Zeit Revolutionen entfacht und Massenmorde veranstaltet, um die Institution der Armut noch unbedingter und allgemeiner zu verankern.
Ob die großen Menschenmassen in hundert Jahren so arm sein werden wie vor hundert Jahren, darüber kann man in Kursen für berufsmäßige Propagandaredner oder in literarischen Salons debattieren, einen vernünftigen Menschen jedoch, der es wagt, der Wahrheit unerschrokken ins Gesicht zu blicken, interessiert diese Frage so wenig wie die Diskussion von Geologen über das Thema, ob der Spiegel des Pazifischen Ozeans in tausend Jahren um zehn Zentimeter höher oder niedriger liegen wird. Der menschliche Ozean wird, wie immer das bestehende Wirtschaftssystem auch heißen mag, ganz bestimmt auf dem gleichen Niveau der Armut verharren. Vom moralischen Standpunkt aus beurteilt, gibt es nichts Natürlicheres als diese Feststellung.
Ein alter Herr von ausgezeichneter Beobachtungsgabe machte mich einst in einem Café in Buda darauf aufmerksam, daß die Tiere auch arm sind. Wie jede Wahrheit machte mir auch diese einfache Feststellung klar, daß man nach dem Geheimnis der Armut nicht im Wörterbuch abgeleierter Theorien, sondern in der Wirklichkeit suchen muß. Verblüfft stellen wir dann aber fest, wie sehr sich die wirkliche Natur der Dinge vom Wunschbild unserer Einbildung unterscheidet. Wenn wir uns überlegen, daß es, abgesehen von den Ameisen, den Bienen und den Termiten, in der ganzen Welt kein anderes Lebewesen gibt, welches die Hortung von Gütern als Lebensaufgabe betrachtet und sich an den Besitz der durch Fleiß, Arbeit, List oder Gewalt erworbenen Güter klammert, dann wird uns eindeutig klar, daß die Armut der natürliche Zustand der Geschöpfe ist und daß selbst die obenerwähnten Insekten nur unter dem Zwang einer langweiligen Gesellschaftsordnung ihre monotone Tätigkeit ausüben.
Es ist schwer vorstellbar, daß zum Beispiel die Kraft und Energie eines Löwen, die Skrupellosigkeit einer Hyäne oder die Blutgier eines Wolfes nicht Schritt halten könnten mit den Eigenschaften eines mittelmäßig begabten fünfzigjährigen zuckerkranken Lederfabrikanten, wenn sie ein Vermögen zusammenraffen wollten. Sie wollen aber nicht, und darauf kommt es an. Nicht einmal die Hyäne, dieses niedrigste aller Tiere, bekanntlich vom Aas lebend, denkt im Traum daran, daß man aus dem Fett der toten Tiere Seife sieden und durch den Handel mit dieser Seife reich werden könnte.
Diese vollkommene Gleichgültigkeit der Hoch- und Niedergestellten in der Tierwelt dem Besitz gegenüber wird jeden denkenden Menschen davon überzeugen, daß die Armut – gleich der Luft, die sie atmen – die natürliche Atmosphäre aller Lebewesen ist. Wer hat je von einem Königstiger gehört, der auf die Nachricht hin, daß seine Aktien an der Frankfurter Börse einen Kurssturz erlitten haben, Selbstmord beging, oder von einer Hyäne, die sich aus Verzweiflung aufgehängt hat, als sie eines Tages bemerkte, daß ein Mißgünstiger den von ihr mit sorgsamer Voraussicht vergrabenen Antilopenkadaver in der Nacht herausgescharrt und verschleppt hat? Der Elefant im Tiergarten nimmt zwar die ihm dargebotenen Kupfermünzen an, trompetet sie aber mit einer verächtlichen Gebärde gleich wieder vor die Füße seines Wärters.
Die Tiere, die gleich Menschen die Fähigkeit in sich tragen, ein Vermögen zu erwerben, verachten aufgestapelte Güter. Diese nicht zu leugnende und auffallende Erscheinung mahnt bei der Analyse der menschlichen Armut und des Reichtums zu einer gewissen Vorsicht.
Wenn wir auch die Armut als den natürlichen, wahren und ewigen Zustand der Lebewesen betrachten, so wäre es geradezu albern zu behaupten, die Armut sei etwas Gutes oder ein angenehmer und beglückender Zustand. Selbst das Leben ist nichts besonders Gutes und das Glück schon gar nicht der Endzweck des Seins, eine Ansicht, zu der sich auch Rilke bekannte. »Es ist wirklich nicht wichtig, glücklich zu sein.« Um so weniger kann das Glück der Endzweck der Existenz sein, als diese überhaupt keinen Endzweck hat. Die Armut ist ein ebenso zweckloser, selbstbedingter Zustand wie das Leben, dessen Produkt sie ist.
Nur ganz simple oder von Fanatismus verblendete Menschen können verkünden, die Armut sei die unmittelbare Folge des im allgemeinen gierigen, gewalttätigen und rücksichtslosen Verhaltens der Reichen gegenüber den Armen. Eine der schädlichen Folgen von verantwortungsloser Verbreitung politischer fixer Ideen ist, daß Irrlehren entstehen können, nach denen die allgemeine und ewige Armut die Konsequenz von Raubzügen irgendeiner wilden Interessengemeinschaft oder einer blutdürstigen Interessengruppe sei.
Der Minierarbeit dieser falschen Propheten verdanken wir es, daß der Arme manchmal auf den Gedanken kommt, seine Armut so aufzufassen, als wäre sie die Folge der Verschwörung einer unterirdisch arbeitenden Mafia, einer geheimen Gesellschaft wilder und raublustiger befrackter Aktionäre, die sich ausschließlich zu dem Zweck in Trusts oder Holdings zusammengeschlossen haben, um die Armen auszuplündern.
Wir wollen das natürliche Recht und die durchaus gesunde Anlage der Reichen, die sie unwiderstehlich treibt, ihr Vermögen mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu vermehren und sich mit den Armen nur so weit zu beschäftigen, wie es ihren Interessen entspricht, keinen Augenblick bestreiten. Glücklicherweise sind die Reichen gesund und kräftig, sonst könnten sie nicht begütert bleiben, im Gegensatz zu den Mittellosen, die selbst in ihren unübersehbaren Massen hilf- und kraftlos sind.
Da es so viele Arme gibt und so wenige Reiche, wäre es jenen infolge ihrer überwältigenden numerischen Mehrheit bei den verschiedensten Gelegenheiten ein leichtes gewesen, den Reichen alle Vorteile und Güter abzunehmen, an die sie sich...