E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Márai Die vier Jahreszeiten
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96003-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit Anmerkungen versehen von Ernö Zeltner
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-492-96003-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sonntage in Paris, der Duft einer Orange oder die Vergeblichkeit des Schreibens: Nirgendwo ist der große ungarische Romancier Sándor Márai wahrhaftiger und unmittelbarer als in seinen tagebuchartigen Miniaturen und den Gedanken über das Glück und die Vergänglichkeit, das Reisen und sein Leben mit den Büchern...
Sándor Márai, 1900 bis 1989, gehörte zu den gefeierten Autoren Europas, bis er 1948 mit seiner Emigration nach Italien und in die USA in Vergessenheit geriet. Mit der Wiederentdeckung des Romans »Die Glut« wurde er 1998 weltweit gelesen und als einer der bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts erkannt. Der Niedergang des europäischen Bürgertums zählt zu seinen wichtigsten Motiven.
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MIT DEM GEHEIMNIS LEBEN Mit einem Geheimnis leben wie Menschen vergangener Zeiten, die alles erzählten, niederschrieben oder gestanden, nur das eine nicht, das in ihrem Herzen brannte; leben wie einst die Dichter oder die Gardeoffiziere, die sich wegen eines Missverständnisses duellierten, diesen einen Namen aber nicht einmal auf der Folterbank preisgaben – und Folterbänke gibt es viele! –, leben mit einem Siegel auf Herz und Mund, zum Himmel aufschauen, über alles reden, nur über das eine schweigen, bis in den Tod. Schweigen, wie Puschkin es tat. Ein Gedicht, einen Roman darüber schreiben? Ja. Sich der Psychoanalyse anvertrauen? Niemals. DEM SCHICKSAL ENTGEGEN Oh, die Schwachköpfe, die nicht ans Schicksal glauben! Sie wissen nicht, dass jeder Vorsatz, jegliche Kabale und Kniffe vergeblich sind, eines Abends im Dämmerlicht wird sich ein Schatten über die besonnte Szenerie des Lebens legen; was gestern unter deiner Hand noch tadellos und akkurat zusammenstand, kann heute schon zu Schutt zerfallen, was gestern tiefe Empfindung, eine innige Verbundenheit war, ist heute zähflüssiger Brei und Last, was gestern noch voll Schwung daherkam, rafft sich am Morgen danach gerade noch zu müdem Schlurfen auf! Dem Schicksal ins Auge sehen, das dem Rhythmus des Lebens ausgleichend entgegenwirkt. Der furchtbare, verwirrende Augenblick, wenn ganz ohne »Grund«, ohne einen »Fehler« die Balance des Lebens kippt, rund um deine Person nichts bleibt als ein rauchender Trümmerhaufen und über dir der graue Himmel und stumme Götter! Wohin strebst du so anmaßend und stolz, du Tor? Verneige dich und antworte ruhig: »Dem Schicksal entgegen, dem Schicksal entgegen.« DOPING Soll ich mit dir gehen, abends um sieben, die Drei-kleinenFerkel ansehen? Gut, ich komme mit. Und überhaupt, wie du siehst, bin ich schon ganz ergeben. Doch glaube nur nicht, dass diese Ergebenheit dir gilt. Ich füge mich, weil du mir leid tust. Du tust mir leid, weil auch du – wie die ganze Welt, wie die Zypressen und der Vesuv, wie die Betäubung oder das Aspirin, wie die Sterbenden oder der Regen, wie all das – nur Doping bist für mich, künstliche Droge, mit der ich mich zu meinem ewigen Wettstreit rüste. SOUVENIR Durchgefroren kam ich heim in der Nacht und verlangte vor dem Schlafengehen ein heißes Bad. Während sich das dampfende Wasser in die Wanne ergoss, ging mir durch den Kopf, dass immer jenseits der gezähmten Natur auch eine andere noch ihre Zähne zeigt, die echte, die wir schon fast vergessen haben – in diesem frostigen nächtlichen Augenblick schwimmen Walrosse und Wale unter den Eisschollen des Nordmeers, auf den Schneefeldern gehen im Mondschein mächtige Eisbären auf Jagd. All das ist zeitlos, ohne Kalender, ohne Weihnachten, und es gibt keinen Grund und auch keine Anzeichen dafür, dass sich daran etwas ändern wird. Irgendwo ist noch die Unendlichkeit mit wirklicher Kälte, wirklicher Hitze und vielleicht sogar den passenden Menschen dazu. Plötzlich empfand ich Heimweh. NIZZA Nach Nizza sollte man im Winter reisen, erst nachdem man Großvater und beruflich etabliert ist. Man muss dann auf der Englischen Promenade sitzen, über den Liberalismus nachsinnen und redlichen Geschäftspartnern Ansichtskarten schreiben. Nizza ist die schönste Winterkulisse bürgerlicher Arriviertheit. Das Meer gibt sich hier sanft; ganz so, wie die Ansichtskarten von Nizza es zeigen. In den Kartenzimmern wird Whist gespielt. Ältere Damen mit Sonnenschirmen aus lilafarbener Seide, ein Aktienpäckchen irgendeiner Southamptoner Werft für Kriegsschiffe im Ridicule, watscheln gemessen unter den verschneiten Palmen. Abenteurer kommen zwischen zwei Coups zum Verschnaufen aus Monte Carlo herüber. Nizza ist tugendsam und alt. Könige und Königinnen, denen der Sinn nicht mehr nach Eroberungsfeldzügen steht, kommen hierher, Basler Patrizier, die wie bei der Hauptversammlung bereits am Vormittag auf der Promenade in schwarzen Gehröcken paradieren, erschöpfte Croupiers und Damen zwischen vierzig und fünfzig in der Panik beginnenden Welkens. Nizza ist im Fin de Siècle verharrt. Es ist nicht en vogue, hat aber Geld, und selbst die Kutscher sind hier Dandys. Unbedingt muss man hin; ich werde dort sein, wenn ich Großvater und arriviert bin. BILANZ Ich schließe die Augen und blicke geschwind auf das verflossene Jahr zurück. Die Ernte war mittelmäßig. Gemeint ist natürlich die von mir eingebrachte. Der Roman war verhagelt, doch die verfassten Artikel im Schnitt so lala. Mein Theaterstück kam wieder nicht an. Das Rauchen habe ich mir fast abgewöhnt, bis ich merkte, dass es sich nicht lohnt, denn nächstes Jahr kommt – vielleicht doch – der Weltkrieg, und jede Vorsichtsmaßnahme, jedes Opfer wäre umsonst gewesen. Meine körperliche Verfassung hat sich nicht wesentlich geändert; jeden Morgen stelle ich fest, dass ich lebe. Darüber bin ich – immer noch – erfreut. Über den Tod habe ich nichts Neues in Erfahrung bringen können. Nur dass es ihn gibt: Davon bin ich von Jahr zu Jahr mehr überzeugt. In der Liebe habe ich erfahren, dass sie für mich eine neue Nuance bereithält, etwas, was ich bislang nicht kannte, was interessanter als das Abenteuer, aufregender als die Entführung aus dem Serail ist. Und dieses Etwas ist die Zärtlichkeit. Sehr interessant. Ich will keine Liebe von siebzig Grad mehr schenken und auch nicht bekommen, begnüge mich mit der Zärtlichkeit. Im letzten Jahr las ich ein Buch über das Leben in der Tiefsee und erfuhr Neues über die Welt. Auch einige Dutzend Romane habe ich gelesen, sie sagten mir nichts Neues. In Ausübung seines Metiers stumpft der Mensch etwas ab. Sieht manchmal nur noch Sätze und Attribute statt Gefühle und Wahrheiten. Man müsste das Stottern erlernen. Oft ist Stottern mehr als natürlicher Redefluss. Ein Schriftsteller, der nur noch gute Sätze zu Papier bringen kann, ist irgendwie unmoralisch. Die Damen trugen hochgezogene Hüte. In Spanien tobte der Bürgerkrieg. Einer meiner Freunde, von dem es auf der Welt nur ein einziges Exemplar gab, ist gestorben. Ein Vermögen habe ich im letzten Jahr nicht gemacht, auch keine Schulden. Habe nur etwas weniger verdient, als ich benötigt hätte, um dem Leben auch ein wenig Farbe und Freundlichkeit zu geben. Es war nicht historisch, dieses Jahr, eher bürgerlich, ohne besondere Freuden und Tragödien. Ich verabschiede mich von ihm ohne innere Ergriffenheit und habe das Gefühl, dass ich ihm noch nachweinen werde. JOD Jetzt wohne ich hoch oben am Berg, und überall ringsum feiert man, wie ein historisches Ereignis, den Winter. Bei Morgengrauen um fünf erwache ich und schaue in den schwarzen Nebel. Die Lichter unten in der Stadt flackern bei Tagesanbruch nur noch kraftlos, als wären sämtliche Absichten und Kräfte erloschen. Ich merke, dass der Kratzer, diese harmlose Abschürfung, derentwegen ich heraufgekommen bin auf den Berg, ein klein wenig – einen Millimeter – tiefer ist, als ich geglaubt habe. Sie wird verschorfen. Mit dem Nebel, dieser weichweißen Gaze, will ich sie polstern. Und das Blattwerk hat die Farbe von Jod. VERLUST Gelegentlich bleibe ich auf der Straße stehen, greife in die Tasche, mir ist, als hätte ich etwas verloren. Daheim ziehe ich die Schubladen auf, lese Briefe, durchstöbere die Taschen alter Kleidungsstücke. Ein andermal ertappe ich mich dabei, dass ich Menschen anrufe, sie unter einem Vorwand ausfrage und über etwas anderes rede. Irgendetwas habe ich verloren. Wache nachts gegen drei auf, und plötzlich begreife ich: Das Träumen habe ich verloren! Nicht das nächtliche Träumen, dieses Nebenprodukt des Schlafes, diese kunterbunten süßen Ungereimtheiten, die sich aus den Abfällen des Tages, aus dem Dunst meiner verschütteten Sehnsüchte zu konfusen Erscheinungen verdichten. Vielmehr die traumhafte Empfindung, dass jenseits der Wirklichkeit ein Sinn existiert, den man nicht in Worte kleiden kann. Was war das für ein Träumen? Warum tut es so weh, dass es entschwunden ist? Warum suche ich danach? War es die Jugend? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich beraubt worden bin. EGER Nach Eger* kam ich gegen Abend und sah sofort, dass es eine Stadt war; keine wie Budapest oder Berlin, eine echtere; eine Stadt wie Chartres, Késmárk* oder Nürnberg. Als ich an der Basilika vorbeikam, waren bereits die Laternen angezündet; die Seitengässchen belebten sich mit blauen und braunen Schatten. Allerlei Priestervolk spazierte ziellos umher. In den Ladengewölben, ihre Mauern waren außen mit gelber Ölfarbe bepinselt, saßen Handschuhmacher und Apotheker in dieser eigenartigen Heimlichkeit, wie Kaufleute eben nur in echten Städten zu sitzen pflegen, sie, die vorsichtige Anhänger der Freiheit sind und in der Wintersaison im Kasino literarische Abende veranstalten. In der Stadt wurden ständig die Glocken geläutet. Beim Haus des Propstes stand eine junge Frau vor dem ewigen Licht mit gefalteten Händen und betete; in Eger beten die Menschen noch in natürlicher Haltung, auch auf öffentlichen Plätzen. Am Abend ging ich ins Kino. Der Billeteur hatte türkisch geschnittene Augen. DUZEN Es sind jene enthusiastischen Augenblicke, wenn der Mensch plötzlich ohne Übergang die Welt in aller Zärtlichkeit zu duzen beginnt, um dann verwirrt festzustellen, wie die Welt, mit steifem Hut auf dem Haupt, blinzelnd über die Schulter nach hinten blickt und näselnd bemerkt: »Pardon? Ach, Sie sind es? Sehr erfreut.« GEGENREFORMATION Der bürgerliche Schriftsteller lebt heute im Zeitalter der Gegenreformation. Inquisitoren verhören ihn,...