E-Book, Deutsch, 208 Seiten, Sonstiges
Moser Die heilende Kraft des Vagus
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7110-5357-2
Verlag: ecoWing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie uns der Wundernerv Entspannung und Gesundheit schenkt
E-Book, Deutsch, 208 Seiten, Sonstiges
ISBN: 978-3-7110-5357-2
Verlag: ecoWing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Die vernachlässigte Kraft des Schlafs
Nicht umsonst wird unsere Gesellschaft als »Leistungsgesellschaft« bezeichnet. Zahlreiche Autoren haben gezeigt, dass wir handeln, als wären wir von einem »Tempo-Virus« befallen17, dass Leistungsanforderungen und der damit verbundene Stress vollkommen überbewertet werden und dass das Zeitsparen höchst kontraproduktiv sein kann18. Andere Autoren plädieren als Gegenmodell für eine »Entdeckung der Langsamkeit«19 oder überhaupt für weniger Aktivität20. Der Herzinfarkt, eine Krankheit, deren Ursache sehr viel mit Stress und Überbelastung zu tun hat, wurde zeitweilig auch als »Managerkrankheit« bezeichnet, weil sie fast schon eine Auszeichnung des klassischen Managers darstellte – eine Art »Willkommen im Club«. »Ich bin im Stress« galt und gilt als ausreichende Entschuldigung für knappe Kommunikation und mangelndes Interesse an anderen Menschen. Insgesamt betrachtet, wurden im Laufe der Zeit durch sogenanntes »Zeitmanagement« zahlreiche Puffer wie Kaffeepausen, Gespräche mit anderen Mitarbeitern, Pausen im Nachtdienst von Ärzten und überhaupt Zeiten, in denen Menschen beschaulich ihrer Tätigkeit nachgehen konnten, systematisch entfernt oder verkürzt und rationalisiert und, noch schlimmer, durch bürokratische Tätigkeiten wie Dokumentation oder Qualitätsmanagement ersetzt. Das Ergebnis entspricht in keiner Weise den versprochenen positiven Erwartungen, wie Sie vielleicht selbst schon erfahren haben. Langsam stellen immer mehr Menschen fest, dass Effizienz nicht durch Zeit- und Qualitätsmanagement beliebig steigerbar ist, dass soziale Kompetenz und sinnvolle Betätigung wichtiger für den beruflichen Erfolg sowie das erlebte Lebensglück sind als eine schnelle Karriere und rücksichtsloses Handeln. Es erscheint vor diesem Hintergrund verständlich, dass auch die Physiologie und Medizin sich über viele Jahre vorwiegend mit der menschlichen Leistungsfähigkeit und ihren Bedingungen beschäftigt hat. Einer meiner Lehrer, der Chronobiologe Gunther Hildebrandt, meinte dazu, dass wir heute in der Medizin vorwiegend eine »Physiologie des Tages« hätten und dass eine »Physiologie der Nacht« mindestens ebenso wichtig wäre, um die menschliche Gesundheit richtig zu verstehen. Erst in den letzten Jahren wurde die Bedeutung des Schlafs in der Medizin immer mehr erkannt. Die neuen Erkenntnisse haben aber bis heute kaum Eingang in die ärztliche Praxis gefunden. So weiß man, dass Tumore bei schlafgestörten Tieren wesentlich rascher wachsen als bei solchen mit gutem Schlaf. Doch welcher Krebsarzt fragt seine Patienten, ob sie wohl gut schlafen und was er oder sie tun könne, um diesen Schlaf zu verbessern? Guter Schlaf kann nicht nur gegebenenfalls vor einer Krebserkrankung und vor kardiovaskulären Erkrankungen schützen, sondern verbessert auch das Gedächtnis, die kognitive Performance, die körperliche Leistungsfähigkeit, die Aufmerksamkeit und die Stimmung, stellt also einen umfassenden »Gesundmacher« dar. Schlechter Schlaf verkürzt die Telomere (die Endstücke der Chromosomen, die diese zusammenhalten), fördert Entzündungen und beeinträchtigt die Tätigkeit der Immunzellen. Medikamentöse Schlafhilfen können im Falle von Psychosen oder Depressionen kurzfristig hilfreich sein, sind aber für chronische Schlafstörungen keine gute Lösung, wenn man die Gesamtgesundheit in Betracht zieht. In einer Studie mit jeweils über 10.000 Patienten stieg die Sterberate, je nach Stärke der Schlafmedikation, um das Drei- bis Fünffache (!), die Wahrscheinlichkeit von Krebserkrankungen stieg um 35 Prozent, je nach Dosis der Dauermedikation. Die meisten medizinischen Arbeiten, die heute über den Schlaf berichten, stellen als Erstes die Behauptung auf, dass die Wissenschaft nicht wisse, was die Funktion und Bedeutung des Schlafs sei. Angesichts der überwältigenden Befunde der gesundheitsfördernden Wirkung des Schlafs ist diese Behauptung ziemlich unverständlich.21–32 Guter Schlaf ist durch eine hohe Vagusaktivität charakterisiert. Man könnte den Vagusnerv sogar als den »Steuermann des Schlafs« bezeichnen. So wie der Schlaf durch rhythmische Wechsel zwischen verschiedenen Phasen wie REM-Schlaf und Non-REM-Schlaf geprägt ist (wir werden auf diese gleich nochmal zurückkommen), ist auch die Aktivität der vegetativen Nerven durch solche rhythmischen Wechsel charakterisiert. Insbesondere in den Tiefschlafphasen ist der Vagusnerv aktiv und erzeugt die rhythmischen Schwingungen, die Regeneration und Heilungsprozesse immer begleiten.33 Im Gegensatz zum Vagus ist die Aktivität des Sympathikus nicht rhythmischmusikalisch, sondern eher stochastisch, das heißt, zufällig, chaotisch. Der Schlaf ist ein geheimnisvoller Zustand, keineswegs ein passives, inaktives Dahindösen, sondern ein aktiver Prozess, der in zwei wesentliche Phasen gegliedert ist: Ziemlich bald nach dem Einschlafen fallen wir in eine Ruhigschlafphase, die beim gesunden Schläfer die meiste Erholung des Tages bringt. In dieser Phase öffnen sich Lymphgefäße im Gehirn, die eine »chemische Reinigung« desselben bewirken.34 Es schwingt nun in ganz langsamen Rhythmen, die auch in den Gehirnströmen beobachtet werden können. Stoffwechselprodukte, die Alzheimererkrankungen, Parkinson etc. verursachen können, werden ausgeschwemmt und das Gehirn wird gereinigt. Noch vor wenigen Jahren war nicht bekannt, dass es dieses »glymphatische System« gibt, und der Hinweis auf Lymphgefäße im Gehirn hätte die Anatomieprüfung im Medizinstudium mit einem Rauswurf beendet. Erst um 2012 hat man das glymphatische System entdeckt, das nur beim lebenden Gehirn und nur während des Schlafs geöffnet ist, und derzeit wird intensiv an diesem Selbstreinigungssystem unseres Gehirns geforscht.35–38 Frequenzanalyse der Sympathikusaktivität (chaotisch) und der Vagusaktivität (rhythmisch-musikalisch) in den Herzschlagrhythmen. In dieser ersten Ruhigschlafphase werden auch Wachstumshormone aktiviert, die den Zellen des Immunsystems das Startsignal für Vermehrung und Aktivität geben. Damit verstärkt sich die Tätigkeit des Immunsystems und unsere körperliche Abwehr wird aktiviert. Deshalb haben unsere Vorfahren den Schlaf vor Mitternacht, der heute meistens etwas verspätet stattfindet, auch für besonders wichtig erachtet. Auch die »Entmüdung« unseres Körpers schreitet in dieser Zeit am stärksten voran. Das »glymphatische System«, reinigende lymphatische Gefäße im Gehirn, wurde erst um 2012 entdeckt, da es beim toten Gehirn und tagsüber geschlossen ist. Es öffnet sich in den Ruhigschlafphasen und spült das Gehirn nachts durch. Auf die Tiefschlafphase folgt eine sogenannte »REM-Phase«, die nach den schnellen Augenbewegungen benannt ist (Rapid Eye Movement), die während dieser Phase auftreten. Die REM-Phase ist mit der Bildung des Langzeitgedächtnisses verbunden. Wird sie gestört, kann dies Störungen des Langzeitgedächtnisses zur Folge haben. Wir können auch davon ausgehen, dass in dieser REM-Phase die Tagesereignisse geordnet werden. Das erleichtert dem Gehirn den Zugriff auf Situationen, aus denen es für die Zukunft etwas lernen kann. Die Ordnung der Tagesereignisse ist ein aktiver, energieverbrauchender Prozess, weshalb der REM-Schlaf auch von einer höheren Herzfrequenz begleitet wird und dem Wachzustand ähnlicher ist als dem Tiefschlaf. In dieser Zeit finden auch die meisten Träume statt und wenn wir in einer REM-Phase geweckt werden, können wir uns am besten an unsere Träume erinnern. Was passiert nun nach dieser jeweils ersten Tiefschlaf- und REM-Phase weiter? Die beiden Phasen wechseln einander, bei ausreichender Schlafdauer, insgesamt fünfmal ab. Jeder der fünf Schlafzyklen, die beim gesunden Schlaf insgesamt auftreten, besteht aus einer Reinigungsphase, in der auch die Vagusaktivität ansteigt, und einer Ordnungsphase, in der der Sympathikus stärker wird. Jeder Zyklus dauert etwa 90 Minuten, sodass insgesamt sieben bis acht Stunden Schlaf als normal gelten können. Es wird zunächst immer gereinigt, dann geordnet – wie auch bei einem guten Hausputz. Die Zeit der Reinigung (Tiefschlafphase) wird gegen Morgen immer kürzer, die Zeit der Ordnung (REM-Schlaf) immer länger. Die Ordnungsphase ist wie gesagt auch diejenige, in der wir lebhaftere Träume haben (REM-Phase). Am Morgen haben wir dann ein wesentlich besser geordnetes und frisch gereinigtes Denkorgan. Aus diesem Grund empfehle ich bei Seminaren auch immer, ärgerliche E-Mails, die am Abend einlangen, nicht sofort zu beantworten, sondern bis zum nächsten Morgen damit zu warten. Sie ersparen sich selbst viel Ärger, wenn Sie solche E-Mails mit einem frisch gereinigten und gut geordneten Gehirn beantworten. Der Tanz des Herzens – die Messung der...