Eine offene Wunde der Schweizer Geschichte
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-03810-464-3
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Geschichte, die 1979 zur Entstehung des Kantons Jura führte, war eine bewegte. Der Wiener Kongress 1814/15 schlug das Gebiet des heutigen Kantons Jura und des Berner Juras dem Kanton Bern zu. Damals ahnte kaum jemand, dass damit ein jahrzehntelanger Konflikt losgetreten würde, der bis heute aktuell ist. Die Separatistenbewegung und ihre Jugendorganisation Béliers sorgten für ständige Provokationen. Die bernische Obrigkeit reagierte während Jahren mit verbaler und oft auch polizeilicher Unerbittlichkeit. In den 1960er-Jahren trat eine Terrorgruppe mit den Namen Front de Liberation Jurassien (FLJ) auf. Mit Anschlägen auf Militärdepots, Brandanschlägen auf Bauernhäuser und Sprengstoffattacken verbreitete der FLJ Angst und Schrecken. Hauptakteur war der Weinhändler Marcel Boillat.
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1 Von Terror und Vergebung
Abb. 1 Monique Ummel-Schlup erlebte die FLJ-Brandstiftung am elterlichen Bauernhof Sous-la-Côte 1963 als 24-Jährige aus nächster Nähe. Er ist damals aus der Gefangenschaft abgehauen. Einfach so rausspaziert aus der halboffenen Walliser Haftanstalt Crêtelongue. Und nun, zum Jahrestag des Gefängnisausbruchs, sitzt er im Restaurant La Chevauchée in Lajoux in den jurassischen Freibergen. Marcel Boillat, Jura-Terrorist. Er trägt ein schwarz-blau-rot-weisses Grosskarohemd und seine Haare sind wirr frisiert. Das Säli ist zum Bersten voll an diesem Freitagabend im März 2017. Gut 100 Männer und Frauen, vornehmlich ältere Semester, sind einem Aufruf von Weggefährten Marcel Boillats gefolgt. Es geht darum, dessen heroischer Taten zu gedenken und vor allem das 50-Jahr-Jubiläum von Boillats Ausbruch aus der Walliser Strafvollzugsanstalt zu feiern. Marcel Boillat hatte sich in den 1960er-Jahren als Mitglied der Terrororganisation Front de Libération Jurassien (FLJ) zahlreicher Straftaten schuldig gemacht. Begonnen hatte alles mit überpinselten Berner Wappen entlang der Strassen im Berner Jura. Weiter ging es mit Brandanschlägen auf Bauernhäuser und mit Sprengstoffanschlägen gegen militärische Einrichtungen sowie gegen Ziele, die berntreuen Exponenten gehörten. Es war die Zeit, als die jurassischen Bezirke Freiberge, Pruntrut und Delsberg noch keinen eigenen Kanton Jura bildeten, sondern Teil des Kantons Bern waren. Zu diesem bernischen Landesteil Jura gehörten auch die drei südlichen Jura-Bezirke Moutier, Courtelary und La Neuveville (die auch heute noch Teil des Kantons Bern sind) sowie das Laufental, das jetzt zum Kanton Basel-Landschaft gehört. Die FLJ-Aktivisten wurden später festgenommen und mussten sich vor dem Bundesstrafgericht verantworten. Boillat wurde zu acht Jahren Haft verurteilt. Aber so lange Zeit wollte er nicht im Gefängnis verbringen, und mithilfe von Freunden gelang ihm am 19. Februar 1967 die Flucht. «Es ist die Pflicht eines jeden Häftlings, aus dem Gefängnis zu flüchten», sollte Marcel Boillat später einmal zum Besten geben. Boillat gelangte schliesslich nach Spanien, wo ihm politisches Asyl gewährt wurde und wo er bis zu seinem Tod im April 2020 lebte. Und nun also, im Restaurant Chevauchée in Lajoux, wird diese Flucht gefeiert. Die meisten Anwesenden haben als jurassische Separatisten gegen den Kanton Bern gekämpft, dem der Jura und das Laufental 1815 vom Wiener Kongress angehängt worden waren. Zuerst wird Sangria kredenzt, Boillat gibt Interviews. Dem jungen Journalisten einer regionalen Fernsehstation gesteht er, dass sein Gehör zu wünschen übrig lasse. «Wissen Sie, in meinem Alter ist man ein bisschen taub, sacré Bon Dieu!» Später lässt der portugiesische Wirt ausgerechnet eine Art Berner Platte servieren. Ein altgedienter Separatist meint augenzwinkernd, dieses Gericht heisse hier La Choucroute; sei also auch für jene essbar, die immer noch keine Liebe zu Bern entwickeln könnten oder wollten. Vor dem Auftischen wird Marcel Boillat, dem aus Spanien angereisten Star des Abends, Redezeit eingeräumt. Er geniesst es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen, und kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Berichtet, was man vorzukehren hat, damit angesägte Gefängnisgitterstäbe weiterhin singen; fällt mit groben Worten über jurassische Regierungsräte her; verlangt, dass der noch bernisch gebliebene Teil des Juras dem Kanton Jura angeschlossen werde. Und er stellt sich auf die Seite jener, die nun im Jura gegen Windkraftanlagen kämpfen statt wie in den 1960er-Jahren gegen einen Armeewaffenplatz. Wer dafür sein Land verkaufe, dem gehöre zwar nicht mehr das Haus abgefackelt wie zu FLJ-Zeiten, wohl aber die Trinkwasserzufuhr gekappt, droht Boillat. Und Boillat erzählt eine seiner Lieblingsgeschichten. Sein Mitkämpfer Jean-Marie Joset und er seien eines Sonntagmorgens im Juli 1963 nach Bern gefahren. Zum Bärengraben. Joset habe zuerst ganz normale Rüebli runtergeschmissen. Später habe er, Boillat, besonders präparierte nachgeschickt. Vergiftete. Boillat glüht beinahe vor Erregung, als er des Langem und Breiten skizziert, wie das bernische Wappentier umgebracht wird von den Terroristen des FLJ! Allerdings ging die Rechnung nicht auf. Die Bären, berichtet Boillat, hätten die vergifteten Rüebli nicht geschluckt, sondern wieder ausgespien. «Die Bären waren intelligenter als der Front de Libération Jurassien», sagt er unter dem Gelächter seiner Anhänger in Lajoux. In seinem 1998 erschienenen Buch über den FLJ hatte Boillat noch geschrieben, die Bären seien gescheiter gewesen als die bernische Kantonsregierung. Er möge Tiere zwar, hält Boillat fest, aber seine Tierliebe sei dem Drang unterlegen, dem Symbol der bernischen Hegemonie über die Jurassier den Garaus zu machen. Ob sich dies wirklich so zugetragen hat, ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Schriftliche Belege fehlen. Auch dem Sohn des damaligen Bärenwärters ist nie etwas Derartiges zu Ohren gekommen. Marcel Boillat hat den Vorfall über die Jahre mehrmals geschildert, zum Beispiel im Jahr 1966 einem Reporter der damaligen National-Zeitung. Jean-Marie Joset äusserte sich nie öffentlich dazu. Möglicherweise auch, weil ihm – im Unterschied zu Boillat – Niederlagen peinlich waren. Boillat, aufgestachelt durch das Beifallklatschen und das Lachen des Publikums, macht sich in Lajoux am Jubiläumsabend auch über die Opfer seiner damaligen Verbrechen lustig. Unter anderem über die Familie, die jenen Bauernhof namens Sous-la-Côte bewirtschaftete, den er im Juli 1963 angezündet hat. Ein Mitglied dieser Familie sitzt zwei Meter von Boillat entfernt im Saal: Monique Ummel geborene Schlup. Die Bauernfamilie Schlup, bestehend aus den Eltern Ernest und Esther Schlup geborene Gerber und den sieben Kindern Monika (nach ihrer Heirat nennt sie sich Monique), Rosemarie und Catherine sowie Ernest, Jean, Kurt und Fred, verbrachte den Abend des 18. Juli 1963 gemeinsam in der Wohnstube. Monika, das älteste der sieben Kinder, war damals 24 Jahre alt. Zwei von Monika Schlups Brüdern waren zuvor noch im nahe gelegenen Wald gewesen. Sie erzählten, dort einen Mann gesehen zu haben. Später sollte ihnen klar werden, dass es sich um Marcel Boillat gehandelt haben muss. Auf dem Hof von Schlups gab es Ställe für Gastpferde. An diesem Abend wartete die Familie auf zwei Pferde, die noch gebracht werden sollten. Als die Hunde bellten, gingen Schlups davon aus, dass die Männer mit den beiden Pferden unterdessen in der Nähe waren. Schon etwas früher hatten sich zwei andere Männer zum Bauernhof Sous-la-Côte geschlichen: Marcel Boillat und Jean-Marie Joset, selbsternannte Kämpfer der Terrororganisation namens Front de Libération Jurassien. Ein paar Tage zuvor hatten sie die Örtlichkeit erkundet. Am Abend der Tat sahen sie das Scheunentor weit offen stehen, und es war Marcel Boillat, der in die Scheune eindrang, während Joset in der Nähe in Deckung ging, um Boillat nötigenfalls warnen zu können. Im Innern der Scheune sah Boillat im Schein seiner Taschenlampe ein Häufchen Heu. Er schüttete mitgebrachtes Benzin darüber und zündete das Heu an. Weil Boillat und Joset beobachtet hatten, dass zwei Reiter mit Pferden beim Hof angekommen waren und zudem etwas zuvor auch ein Auto, wussten sie, dass die Familie Schlup nicht im Schlaf von den Flammen überrascht würde. Warum aber war das Scheunentor an jenem Abend noch sperrangelweit offen? Die Antwort gab Bauer Ernest Schlup später dem Untersuchungsrichter. Er habe auf die zwei Pferde gewartet, die vorübergehend in einem der Ställe untergestellt werden sollten. Die zwei Reiter hätten sich verspätet und seien erst um etwa 22.30 Uhr eingetroffen. Bereits auf dem Hof war zu diesem Zeitpunkt ein dritter Mann, der die Reiter im Auto zurückfahren sollte. Das Scheunentor habe man ausnahmsweise erst schliessen wollen, wenn die Pferde versorgt waren. Als die beiden Pferde im Stall abgesattelt und abgerieben wurden, sei aus der Scheune ein auffälliges Geräusch zu hören gewesen. Sein Sohn Ernest, die beiden Reiter, der Chauffeur und er selber seien zur Scheune gerannt, wo der Sohn das Feuer entdeckt habe, berichtete Bauer Schlup. Die restlichen Familienmitglieder, die unterdessen zu Bett gegangen waren, habe er sofort geweckt. Dann habe er die Feuerwehr alarmiert. Die ganze Familie und die Besucher hätten mit Wassereimern versucht, die Flammen zu löschen. Die Löschversuche blieben erfolglos. Die Bilanz der Feuersbrunst: Scheune und Ställe wurden vollständig zerstört, das bäuerliche Wohnhaus stark beschädigt. Der Sachschaden wurde auf 800000 Franken geschätzt. Pferde und Vieh waren schon seit 19 Uhr auf der Weide. Ein Stier und ein Kalb, die im Stall geblieben waren, konnten aus den Flammen gerettet werden. Und die Zeit reichte auch, um einen Teil des Mobiliars in Sicherheit zu bringen. Aus den Akten des Bundesstrafgerichts geht hervor, dass alles Vieh der beiden abgebrannten Höfe gerettet werden konnte. Das hinderte einen berntreuen Lokalpolitiker von Moutier im Oktober 2018 nicht daran, sich im Bund «an den Geruch der verbrannten Tiere» zu erinnern. Die Familie Schlup hatte den Bauernhof Sous-la-Côte 1961 in Pacht genommen. Nach der Brandstiftung 1963 wohnten Schlups neben dem abgebrannten Bauernhaus in einer Baracke, die das Militär aufgestellt hatte. Monique Ummel-Schlup hat sich von der Seele geschrieben, was an jenem Abend geschah und wie es dazu gekommen war. Oder besser, sie hat es aufschreiben lassen von ihrem Sohn Jean-Marc. Sie erinnert daran, wie der Kanton Bern das Heimwesen Sous-la-Côte dem Eidgenössischen Militärdepartement verkaufte. Ihre Eltern, die Pächter also,...