Ein Konzept für lebenswerte Städte
E-Book, Deutsch, 194 Seiten
ISBN: 978-3-89581-628-4
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carlos Moreno (*1959) lehrt als Professor an der Pariser Universität Sorbonne und ist Leiter des Lehrstuhls ETI (Entrepreneurship Territory Innovation). 2015 stellte er auf der UN-Klimakonferenz in Paris das Konzept der »15-Minuten-Stadt« vor, welches im UN-HABITAT World Cities Report 2022 empfohlen und von der Pariser Bu?rgermeisterin zur tragenden Säule ihrer zweiten Amtszeit erklärt wurde.
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Einführung Stadtrecht und Existenzrecht Beginnen möchte ich mit einer Würdigung des Philosophen Edgar Morin, dessen Ideen und Schriften mich sehr geprägt haben. Im September 2018 hatte ich anlässlich der Vorbereitung einer Tagung zum Thema »La Fabrique de la Ville« [Die Herstellung der Stadt]13 die Gelegenheit, eine bisher unveröffentlichte Rede von ihm mitzuschneiden, in der er über die Komplexität der Stadt und des urbanen Lebens nachdenkt. Mit seiner freundlichen Genehmigung zitiere ich hier einen Ausschnitt, der die Problematik veranschaulicht, die ich in diesem Buch behandle: Wesentlich ist der komplexen Denkweise und dem komplexen Wissen, dass sie vereinzelte, fragmentierte und parzellierte Erkenntnisse zu einem Ganzen verweben. Das setzt voraus zu wissen, wie dieses Verweben gelingen kann. Darin liegt das Problem. Das oberste Gebot lautet Kontextualisierung. Eine Stadt lässt sich nur in ihrer spezifischen sozialräumlichen Komplexität und in ihrem weiteren, nationalen und sogar globalen Kontext begreifen, denn durch digitale Netzwerke und moderne Informationstechnologien sind Städte heute unmittelbar miteinander verbunden. Das in der Gegenwart vorherrschende Paradigma des Reduktionismus schränkt »die Stadt« jedoch regelmäßig ein auf Fragen der Architektur, der Stadtplanung und der Verkehrsströme. Doch die Stadt ist vielfältig, und der Mensch in der Großstadt lässt sich nicht auf diese Faktoren reduzieren. Was der Stadt wesentlich ist, ist die Gesamtheit der positiven und negativen Eigenschaften des urbanen Lebens. Dies schließt nicht nur sämtliche Interaktionen ein, sondern auch alle Rückkopplungseffekte. In diesem Sinne gilt: Das Individuum lebt in der Gesellschaft, aber auch die Gesellschaft lebt in ihm, und, analog: Wir leben in der Stadt, aber auch die Stadt lebt in und durch uns. Insbesondere in den Städten sehen wir uns vor komplexe, oft widersprüchliche Anforderungen gestellt. Und dazu müssen wir wissen, wie wir mit dieser Komplexität umgehen können. Es genügt nicht, komplexe Zusammenhänge zu erfassen. Es braucht zugleich eine Methode, sie zu handhaben. Und die lässt sich nicht einfach improvisieren. Ich selbst habe viele Jahre der Ausarbeitung einer solchen Methodik der Komplexität gewidmet. Das muss man bedenken, es braucht methodische Schritte, wenn es um komplexe Probleme geht, insbesondere im Bereich des Urbanen. Kleine, mittlere und große Städte sind heute Lebensmittelpunkte der Mehrheit der Erdbevölkerung. Indem sie Menschen an bestimmte Lebensräume binden, reihen sie sich ein in eine lange Geschichte der Menschheit, die im fünften Jahrtausend v. Chr. ihren Anfang nahm, als erste Siedlungen* organisiert und nach Plan entstanden: in Mesopotamien, am Nil, am Jordan, am Ganges, im Industal und am Ufer des Balkh-Âb, am Gelben Fluss und in der Hochebene Mexikos, in Etrurien. Etwas später entwickelten sich in Griechenland und in Rom erste Agglomerationen, die der heutigen Vorstellung von »Stadt« schon nahekommen. Die Entstehung der Stadt war eng mit der Entwicklung der Agrikultur verknüpft, und so entstanden komplexe Wechselbeziehungen zwischen Region, Stadtraum und Ökosystem. Sesshaftwerdung, landwirtschaftliche Nutzung, Überschussproduktion standen am Anfang, aber auch neue soziale Funktionen, die sich ergaben durch die Ausdifferenzierung von Arbeit in handwerkliche Bereiche, Handel und Tausch, Verwaltung und Gesetzgebung, militärische Aufgaben und territoriale Verteidigung sowie religiös-transzendentale Belange. Etymologisch entwickelte sich der französische Begriff »ville« für Stadt aus dem lateinischen Wort »villa«, was zunächst einfach »Haus in ländlicher Region, bäuerlicher Hof« bedeutete. Im fünften und sechsten Jahrtausend v. Chr. wuchsen solche »villas« zu Agglomerationen von bis zu fünfzig Gebäuden zusammen. Daraus wurden »villages« – Dörfer – später »villes«, also Städte, wie wir sie heute kennen. Der vorliegende Text geht den Beweggründen und Entwicklungen nach, welche die Bereitschaft, sich mit anderen Menschen ein Territorium und dessen Ressourcen zu teilen, im weiteren Verlauf nahmen. Sich ein Territorium im antiken Griechenland zu teilen, bedeutete etwa, sich an einem gemeinsamen Projekt zu beteiligen, das ein Zusammenleben nach bestimmten Regeln und einen kollektiv geteilten Lebensstil einschloss. Das gemeinschaftliche Teilen war eng gebunden an einen bestimmten Ort, einen konkreten Entwurf des Menschen, einen spezifischen sozialen Verband – die Polis, der Stadt-Staat, auf Französisch »cité«, abgeleitet vom lateinischen »civitas«. Die Bezeichnung verweist nicht auf den physischen Ort der Siedlung, sondern auf eine Gemeinschaft von Menschen, den »politischen [= staatenbildenden] Lebewesen«, wie es Aristoteles in seiner Schrift Politik ausdrückt. Das zoon politicon schließt sich aus freien Stücken und autonomer Entscheidung mit anderen »um eines Gutes willen« – nämlich das gute Leben – zusammen. Stadt und Mensch sind durch gemeinsame Regeln des Zusammenlebens und dem Streben nach Vervollkommnung des guten Lebens auf der Grundlage von Tugenden wie Gerechtigkeit und Moral miteinander verbunden. Politik ist, was sich durch die Befolgung von Gesetzen und Regeln als Recht im Zusammenleben der Gemeinschaft verfestigt. Als Teilhabende an den Entwicklungen in der Polis nehmen die Menschen als Bürger Gestalt an: »Außerdem ist der Zweck und das Ziel das Beste. Die Autarkie ist aber das Ziel und das Beste.« Die Polis ist klar verortet, doch als Stadt existiert sie weder durch diese territoriale Verankerung noch durch geografische Merkmale, so grundlegend sie auch sein mögen, wie die Beispiele von Athen oder Sparta zeigen. Als Stadt existiert sie allein durch die Anwesenheit denkender, sprechender »politischer« Lebewesen in ihr, die sich am gemeinsam bewohnten Ort freiwillig auf die Einhaltung von bestimmten Regeln geeinigt haben. Aristoteles schreibt: Daß ferner der Mensch in höherem Grade ein staatenbildendes Lebewesen ist als jede Biene oder sonst ein Herdentier, ist klar. Denn die Natur macht, wie wir behaupten, nichts vergebens. Der Mensch ist aber das einzige Lebewesen, das Sprache besitzt. Die Stimme zeigt Schmerz und Lust an und ist darum auch den anderen Lebewesen eigen (denn bis zu diesem Punkte ist ihre Natur gelangt, daß sie Schmerz und Lust wahrnehmen und das einander anzeigen können); die Sprache dagegen dient dazu, das Nützliche und Schädliche mitzuteilen und so auch das Gerechte und Ungerechte.14 Die »Stadt Athen« stand also ursprünglich für »die stadt-staatliche Gemeinschaft der Athener«, so wie »Sparta« ein Kürzel für »die stadt-staatliche Gemeinschaft der Lakedaimonier« war. Dies verweist auf eine Gestaltung des Zusammenlebens, die weit über die etymologische Herleitung von »ville«/Stadt als einer Ortschaft mit Gebäuden und darin lebenden Menschen hinausging. Die Dialektik von »Ansammlung von Häusern« und »Stadt als Gemeinschaft von Bürgern« ist heute, im Zeitalter der Städte und der ubiquitären Vernetzung, noch immer existent. Ob wir von kleinen, mittleren oder Großstädten sprechen, von Ballungsräumen, Metropolregionen oder Megastädten – stets stellt sich die Frage nach der Art der Beziehung zwischen städtischem Raum, Region und Ökosystem und der Stadt als Gemeinwesen mit sozialen Regeln, Gesetzen und Gewohnheiten. Vor etwas mehr als fünfhundert Jahren imaginierte der englische Gelehrte Thomas Morus eine fabelhafte Stadt, in der das Zusammenleben der Menschen perfekt nach genau definierten Bereichen, Regeln und Sitten geordnet war. In Ableitung und Negation des griechischen Worts »topos«*, gab er seiner Geschichte den Titel Utopia15 – ein Ort, den es nirgendwo gab. Der von Morus geprägte Begriff steht seitdem für die Vorstellung eines glücklichen Lebens an einem Ort, an dem Arbeit, Erholung, Vergnügen und Muße in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, ein Ort, an dem Gemeinschaftssinn ein hoher Wert ist, freie Menschen im Einklang mit der Natur leben und selbst entscheiden, an welchen Gott sie glauben. Er beschreibt jedoch auch die Grenzen und Schwächen der menschlichen Natur, verurteilt den Krieg, fordert transparente Verfahren und Bestrafung für Regelbrecher, immer im Bestreben, die Grundlagen einer idealen Gesellschaft sichtbar werden zu lassen, in welcher der Mensch im Dienste des Menschen lebt und handelt. Doch leider sind menschliche Errungenschaften voller Widersprüche und bringen allzu oft ihr Gegenteil hervor. Aus Utopie wird Dystopie, aus dem Traum ein Albtraum, und schon entsteht ein Kosmos, der weit entfernt von dem ist, was sich der große Humanist Thomas Morus für seine Insel vorstellte.16 Der Grat zwischen Utopie und Dystopie ist wahrhaft schmal in einer Welt voller Widersprüche. Unter dem Stichwort »Recht auf Stadt«, das auf den Soziologen Henri Lefebvre zurückgeht, werden heute urbane Widersprüche und Konflikte gebündelt, unter anderem die Forderung nach angemessenem Wohnraum in sozialräumlich segregierten städtischen Gesellschaften. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich Städte in einem Klima wirtschaftlichen Wachstums und technischen Fortschritts, das Entfremdungseffekte erzeugte und dazu führte, dass viele Stadtbewohner heute unter kaum mehr würdigen Verhältnissen leben müssen. Wirtschaftliche Krisen verschärfen die soziale Ausgrenzung und die Kluft zwischen Arm und Reich; zudem hat die Corona-Pandemie den armutsgefährdeten Teil der Bevölkerung stärker belastet. Sieht so unsere Zukunft aus? Die Frage stellt sich, wie wir in unserem hypervernetzten Kosmos verhindern...