Montasser | Das Glück der kleinen Augenblicke | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Montasser Das Glück der kleinen Augenblicke

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-492-97591-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es gibt diese Tage, die alles verändern. Einen solchen erlebt die Lektorin Marietta Piccini, als ihr ein herrenloses Manuskript in die Hände fällt. Es ist die Geschichte von Paul Swift, eines jungen Mannes, der durch eine kleine Unbedachtsamkeit alles Unglück der Welt auf sich gezogen hat. Was immer ihm aber widerfährt - er ist mit dem Talent gesegnet, stets das Gute darin zu sehen! Zunehmend fasziniert liest sie weiter und erkennt, dass der Held der Geschichte der unbekannte Autor selber ist! Marietta macht sich auf die Suche nach ihm und erlebt am Ende eine wunderbare Überraschung ...

Thomas Montasser arbeitete als Journalist und Universitätsdozent und war Leiter einer kleinen Theatertruppe. Mit den Romanen »Ein ganz besonderes Jahr« und »Monsieur Jean und sein Gespür für Glück« wurde er über Nacht international bekannt. Als Vater von drei Kindern lebt er mit seiner Familie in München, wo er mit seiner Frau eine kleine, aber feine Literaturagentur betreibt. Er liebt Swing, alte Bücher und Frühstück im Freien. Es gibt für ihn nichts Erholsameres, als ein gutes Buch zu lesen (außer natürlich: eines zu schreiben).
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ZWEI


Wie so oft hatte sich Marietta Piccini festgelesen. Sie hatte eigentlich nur für einige kurze Recherchen den großen Lesesaal der London Library aufgesucht, denn wie nicht anders zu vermuten war die junge Lektorin, die aus Gründen des Studiums nach London gegangen und dann aus Gründen der Liebe geblieben war, überaus gewissenhaft und ließ ihren Autoren keine Undeutlichkeiten und schon gar keine Ungenauigkeiten durchgehen. Zurzeit bearbeitete sie ein Manuskript für Raven Press, eine kurze Geschichte der Irischen See in Form eines verschollenen (und schließlich auf einem Leuchtturm im Norden der Isle of Skye aufgetauchten natürlich rein fiktiven) Logbuchs. Miss Piccini liebte solche Geschichten, in denen Phantasie und Realität auf traumtänzerische Weise ineinander verflochten waren. Allerdings schätzte sie es nicht, wenn an dem beschriebenen Ort nicht nur kein Leuchtturm stand, sondern ein Heizkraftwerk, oder wenn die handelnden Personen den falschen Akzent sprachen. Auch entsprach die Form des Logbuchs keineswegs den gebräuchlichen Formen von Logbüchern aus der betreffenden Zeit. Miss Piccinis unbestechliches Auge entdeckte jeden Mangel, jeden Makel, und sie suchte und fand auch meist Lösungen, die sie den Autoren gerne so verkaufte, dass diese das Gefühl hatten, sie seien selbst auf die Verbesserungsvorschläge gekommen. Denn es versteht sich von selbst, dass Marietta Piccini ein weiches Herz und alles Verständnis der Welt für die kleinen (und manchmal auch größeren) Fahrlässigkeiten der schreibenden Zunft hatte, von ihren Nöten ganz zu schweigen.

Dennoch war sie mit ihrer Arbeit an jenem Tag nicht zufrieden. Wichtige Werke, die sie hätte zurate ziehen wollen, waren nicht am Lager verfügbar, ihr Lieblingstisch im Lesesaal war besetzt – und in der Cafeteria hatte man sich – vermutlich aus Anlass irgendeines Jubiläums – dazu hinreißen lassen, eine Italienische Woche auszurufen. Das hieß: was Engländer eben für italienisch hielten. Und so sah sich Marietta Piccini in ihrer kleinen Pause, die sie sich täglich zwischen zwölf Uhr mittags und dreizehn Uhr gönnte, mit Strawberry-Tiramisu und Cream-Cappuccino konfrontiert. Gewiss Köstlichkeiten, aber für den italienischen Gaumen ungenießbar.

Die junge Lektorin beschloss, ihre Arbeit an diesem Tag im Freien fortzusetzen, denn es war einer der wenigen lieblichen Sommertage, die es in der Stadt gab, und gegenüber der Bibliothek lag ein bezaubernder kleiner Park, auf dessen Bänken sie zu lesen liebte. Während sie aber die Stufen vor dem Haupteingang der Library hinabstieg, entriss ein unerwarteter Windstoß ihr einen Stapel Papier und fegte ihn über den St. James’s Square. Verärgert hastete sie hinterher und sammelte die Blätter wieder ein. Schon war der Wind vorbei und die Sonne lächelte spöttisch auf Marietta Piccini herab, die sich auf die Stufen setzte und ihre Unterlagen sortierte. Waren noch alle Seiten vorhanden? Es dauerte eine Weile, bis sie sich sicher sein konnte, nichts zu vermissen. Sie atmete auf und lehnte sich – ihre Unterlagen mit beiden Armen fest an die Brust gepresst – an das schmiedeeiserne Gitter vor dem Portal, um für einen Moment die Augen zu schließen und das warme Licht ihr Gesicht umspielen zu lassen. Ein wenig fühlte es sich an wie am Strand von Cinqueterre, wo sie in ihrer Kindheit einige Sommer verbracht hatte. Nur dass natürlich der frische Duft des Meeres fehlte, während hier, mitten in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs, beständig der Geruch von Auspuffgasen und in der Mittagssonne brütenden Müllbehältern in der Luft lag.

Plötzlich schob sich ein Schatten vor ihr Gesicht. Als sie die Augen öffnete, stand ein Herr vor ihr, vielleicht ein Mitarbeiter der Bibliothek, vielleicht ein Besucher, der ihr ein ganz und gar durchschnittliches Lächeln schenkte und sagte: »Entschuldigen Sie, Ma’am, ich glaube, das haben Sie auch verloren.« Worauf er ihr eine Mappe reichte, die Marietta Piccini im Gegenlicht zunächst gar nicht genau erkennen konnte. »Danke«, sagte sie und nahm sie an sich. Es war ein von grünem Karton umfasster Stapel Papier, der mit einer Schnur zusammengehalten wurde.

»Oh«, murmelte sie. »Das ist nicht …« Sie sah auf, doch der Mann war schon über den Platz und auf die andere Straßenseite geeilt, die Hand erhoben, um ein Taxi heranzuwinken. »Hallo?«, rief die junge Frau. »Sir! Das ist nicht mein … Hallo?« Es war zwecklos. Schon fädelte der Wagen in den plötzlich unerwartet dichten Verkehr ein und war wenige Augenblicke später um die Ecke der kleinen Parkanlage verschwunden.

»Aber es gehört mir nicht«, flüsterte Marietta Piccini.

Etwas ratlos stand sie auf den Stufen der London Library und sah sich um. Kein Mensch, der auch nur entfernt den Eindruck machte, als würde er etwas vermissen, gar suchen. Stattdessen ergoss sich eine Gruppe von Schülern durch das Portal auf den Gehweg. Zwei Studentinnen eilten kichernd die Treppe hinunter und über den Vorplatz. Ein einsamer Skater zog in einiger Entfernung seine halsbrecherischen Bahnen. Es würde Marietta Piccini nichts anderes übrigbleiben, als das Bündel an der Pforte zu hinterlegen. Sie stieg also die restlichen Stufen wieder hinauf und betrat das kühle, stille Gebäude erneut. Hinter ihr schloss sich lautlos die Tür und blendete all die Straßengeräusche aus. An den Schließfächern sortierten sich noch einige Besucher, die bis zur letzten Minute geblieben waren. Rasch durchquerte die junge Frau die Halle und eilte auf den Empfang zu. Doch die Glastür war bereits geschlossen – und auf dem Tisch der Aufsicht stand ein Schild: Closed for today.

Marietta Piccini versuchte zu erkennen, ob nicht doch noch jemand drinnen war, sie klopfte zur Sicherheit gegen das Glas und wartete noch einige Minuten. Als ihr aber klar wurde, dass offensichtlich niemand mehr auftauchen würde, dem sie die Mappe geben konnte, wandte sie sich um und verließ das Gebäude wieder.

Was tun? Sollte sie die Papiere zum allgemeinen Fundbüro bringen? Machte man das mit etwas, das offensichtlich keinen materiellen Wert hatte? Und würde es dort überhaupt jemand suchen?

Auf den Treppen blieb sie stehen und betrachtete das Konvolut. Es mochten vielleicht hundertfünfzig oder zweihundert Blatt sein, die fein säuberlich gestapelt von einer einfachen grünen Pappe umfasst und kreuzweise mit einer Schnur zusammengebunden waren, wie man sie zum Verschnüren von Paketen benutzte. Eine kleine Schleife thronte in der Mitte, die ihrerseits noch einmal verknotet worden war. Jemand hatte offensichtlich große Sorgfalt darauf verwendet.

Nun, vielleicht gab der Inhalt der Mappe Aufschluss über ihren Besitzer. Marietta Piccini zupfte an der Schnur und löste sie so behutsam wie möglich. Dann klappte sie die schon etwas abgegriffene Papphülle auf und setzte sich unwillkürlich auf den Stufen nieder. Für einen kurzen Augenblick hielt sie den Atem an. Denn offensichtlich war das, was ihr da durch puren Zufall in die Hände gefallen war, ein Manuskript: in der Tat etwa hundertfünfzig Seiten, kurioserweise sorgsam auf der Schreibmaschine getippt, mit einigen wenigen handschriftlichen Verbesserungen und Bemerkungen am Rand und einem etwas wirren Notizzettel am Ende, auf dem der Autor offenbar noch einige Ideen für Szenen skizziert hatte. Was nicht darin stand, war der Urheber dieses Textes. Stattdessen nur – in einer gefälligen Handschrift und etwas größer als der Text selbst – die Überschrift:

Das Glück der kleinen Augenblicke

Wie an jedem Samstag seit vier Jahren, fuhr Lilly mit dem Bus zu ihrem Vater. Seit zwei Jahren durfte sie die Strecke sogar alleine fahren. Vielleicht war es ihrer Mutter gar nicht so unangenehm gewesen, dass Lilly sich das gewünscht hatte. Irgendwie hatte sie erleichtert gewirkt. Die Fahrt war für Mama nicht schön gewesen, Lilly hatte das immer deutlich gespürt. Ihre Mutter war dann nervös gewesen, hatte wegen der kleinsten Kleinigkeiten geschimpft und einmal sogar vergessen, eine Fahrkarte zu lösen. Der Fahrer hatte es nicht bemerkt, aber hinterher hatte Mama ihr große Vorwürfe gemacht und Lilly hatte sich lieber entschuldigt. Das besänftigte ihre Mutter immer. Vor allem, wenn Lilly gar nicht schuld war.

Lilly wählte stets einen Platz am Fenster. Am liebsten saß sie dabei hinten, weil sie dann nicht nur nach draußen schauen, sondern auch die anderen Fahrgäste beobachten konnte. Einige von ihnen kannte sie schon, manche sogar seit langem. Denn sie hatte herausgefunden, dass auch am Samstag häufig dieselben Menschen mit dem Bus unterwegs waren. Auch wenn sie vielleicht gar nicht zur Arbeit gehen mussten. Da gab es zum Beispiel eine alte Dame, aus deren Handtasche immer der Stiel einer Schaufel lugte (jedenfalls ging Lilly davon aus, dass es eine Schaufel war) und die im Sommer gelegentlich sogar eine Gießkanne mit sich führte. Sie stieg jedes Mal an einer Haltestelle in Mayfair aus. Da der Bus wenig später an einem Friedhof vorbeifuhr, hatte sich Lilly überlegt, dass die Lady dort womöglich jemanden besuchte. So wie sie selbst gelegentlich mit ihrem Papa, wenn sie bei ihm war, an das Grab ihrer Großeltern in Camden fuhr. Und da sie immer alleine im Bus unterwegs war, mochte es wohl ihr verstorbener Mann sein. Lilly hatte einige Zeit überlegt, ob ihr die alte Frau leidtun sollte. Doch dann hatte sie sich dagegen entschieden: Sie sah eigentlich immer ganz zufrieden aus. Und einmal hatte sie ihr sogar zugezwinkert.

Auch eine junge Frau, fast eher noch ein Mädchen, nahm regelmäßig denselben Bus. Sie trug einen Geigenkasten bei sich und fuhr vermutlich zum Unterricht oder kam von dort und war auf dem Weg nach Hause. Sie hatte die...


Montasser, Thomas
Thomas Montasser arbeitete als Journalist und Universitätsdozent und war Leiter einer kleinen Theatertruppe. Mit den Romanen »Ein ganz besonderes Jahr« und »Monsieur Jean und sein Gespür für Glück« wurde er über Nacht international bekannt. Als Vater von drei Kindern lebt er mit seiner Familie in München, wo er mit seiner Frau eine kleine, aber feine Literaturagentur betreibt. Er liebt Swing, alte Bücher und Frühstück im Freien. Es gibt für ihn nichts Erholsameres, als ein gutes Buch zu lesen (außer natürlich: eines zu schreiben).


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