E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Heyne fliegt
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Heyne fliegt
ISBN: 978-3-641-07640-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nacht für Nacht hat die 17-jährige Michele denselben Traum: In einem Spiegelsaal steht sie einem jungen Mann mit saphirblauen Augen, rabenschwarzen Haaren und einem geheimnisvollen Lächeln gegenüber. Kurz bevor sie erwacht, sagt der Fremde stets: »Ich warte auf dich.« Aber als ein furchtbares Unglück Micheles Leben für immer verändert, begegnet sie dem Mann ihrer Träume plötzlich in der Wirklichkeit ...Als die Mutter der 17-jährigen Michele Windsor bei einem Unfall ums Leben kommt, verliert Michele auf einen Schlag alles, was ihr lieb war: ihre Familie, ihre Freunde, ihre gewohnte Umgebung. Denn sie muss zu ihren Großeltern, die sie nie kennengelernt hat, nach New York ziehen. In deren luxuriösem Appartement fühlt Michele sich verloren - bis sie bei ihren Streifzügen durch die mit Antiquitäten vollgestellten Räume auf das Tagebuch eines ihrer Vorfahren stößt. Was Michele nicht ahnt: Das Tagebuch ist ein magisches Portal in die Vergangenheit. Ehe sie sichs versieht, findet sie sich plötzlich auf einem Maskenball im New York des Jahres 1910 wieder. Dort begegnet sie einem jungen Mann, den sie nur zu gut kennt. Nacht für Nacht blickt sie in seine tiefblauen Augen, ist gebannt von seinem umwerfenden Lächeln - in ihren Träumen. Dass Michele ihm jetzt leibhaftig gegenübersteht, verändert alles. Sie begibt sich auf eine abenteuerliche Reise zwischen Gegenwart und Vergangenheit, um eine unmögliche Liebe wahr werden zu lassen.
Alexandra Monir wuchs in der Nähe von San Francisco auf und endeckte schon als Kind ihre Liebe zu Musik, Theater und Literatur. Sie nahm Gesangs- und Schauspielunterricht, bevor sie im Alter von siebzehn nach Los Angeles zog, um dort Sängerin und Songrwiterin zu werden. Sie arbeitete unter anderem mit den Produzenten von Aretha Franklin und Mariah Carey zusammen. Mit ihrem Romandebüt Timeless verwirklichte sich Alexandra Monir ihren großen Traum und wurde Schriftstellerin. Die Autorin lebt in New York und Los Angeles.
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1 Michele stand allein in der Mitte eines Spiegelsaals. Die Spiegel zeigten ein Mädchen, das genau so aussah wie sie, mit dem gleichen kastanienbraunen Haar, der gleichen elfenbeinfarbenen Haut und den gleichen haselnussbraunen Augen. Es trug sogar dasselbe Outfit: dunkle Jeans und ein schwarzes Trägertop. Doch als Michele einen Schritt vortrat, bewegte sich das Mädchen im Spiegel nicht. Und während Micheles eigener Hals nackt war, trug das Spiegelbild einen seltsamen Schlüssel an einer goldenen Kette, einen Schlüssel, wie Michele ihn nie zuvor gesehen hatte. Es war ein goldener Generalschlüssel, dessen Form der eines Kreuzes glich, aber mit einem kreisförmigen Bogen an der Spitze. In den Bogen war das Bild einer Sonnenuhr eingelassen. Der Schlüssel sah sehr alt und irgendwie weise aus – so als sei er nicht unbeseelt, sondern ein Lebewesen, das Geschichten aus über einem Jahrhundert zu erzählen hatte. Einen Moment lang wurde Michele von dem Verlangen erfasst, den seltsamen Schlüssel durch das Glas hindurch zu berühren. Doch sie spürte nur die kühle Oberfläche des Spiegels, und das Mädchen mit Micheles Gesicht schien sie nicht zu bemerken. »Wer bist du?«, flüsterte Michele. Doch das Spiegelbild antwortete nicht, ja, es schien sie nicht einmal gehört zu haben. Michele spürte, wie ihr Gänsehaut die Arme hinaufkroch, und schloss fest die Augen. Plötzlich wurde die Stille durchbrochen. Jemand pfiff – eine langsame Melodie, bei der sich Micheles Nackenhärchen aufstellten. Sie riss die Augen auf – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich jemand zu dem Mädchen im Spiegel gesellte. Michele stockte der Atem. Sie fühlte sich wie gelähmt, unfähig, irgendetwas anderes zu tun, als ihn durch das Glas hindurch anzustarren. Seine Augen, deren Farbe tiefblauen Saphiren glich, leuchteten im Wettstreit mit seinem dichten schwarzen Haar. Und obwohl er in ihrem Alter zu sein schien, war er ganz anders gekleidet als die Jungen, die sie kannte. Er trug ein gestärktes weißes Hemd unter einer weißen Seidenweste, eine weiße Krawatte, eine elegante schwarze Hose und schwarze Lacklederschuhe. In den Händen, die in weißen Handschuhen steckten, hielt er einen schwarzen, mit Seide gefütterten Zylinder. Die formelle Kleidung passte zu ihm. Er sah geradezu unwirklich gut aus, viel besser, als sich mit dem Wort »schön« ausdrücken ließ. Während sie ihn beobachtete, empfand Michele einen merkwürdigen Schmerz. Mit wild klopfendem Herzen starrte sie ihn an, während er lässig seine Handschuhe auszog und sie zusammen mit dem Hut zu Boden fallen ließ. Dann griff er nach der Hand des Mädchens im Spiegel – und zu Micheles Verwunderung spürte sie seine Berührung. Schnell schaute sie nach unten, doch obwohl ihre Hand leer war, fühlte sie, wie sich seine Finger um ihre schlangen – eine Empfindung, die sie erschauern ließ. Was um alles in der Welt geschah nur mit ihr? Doch mit einem Mal war Michele keines klaren Gedankens mehr fähig, denn als sie sah, wie sich der Junge und das Mädchen im Spiegel umarmten, spürte sie starke Arme, die sich um ihre Taille legten. »Ich warte auf dich«, murmelte er mit einem bedächtigen und merkwürdig vertrauten Lächeln, das auf ein Geheimnis zwischen ihnen hinzudeuten schien. Und zum ersten Mal waren Michele und das Spiegelbild völlig identisch, als sie gleichzeitig flüsterten: »Ich auch.« Michele Windsor schreckte aus dem Schlaf hoch und schnappte nach Luft. Während sie sich in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer umsah, verlangsamte sich ihr Herzschlag, und dann erinnerte sie sich – es war nur DER TRAUM. Derselbe seltsame, aufwühlende Traum, der sie seit Jahren immer wieder verfolgte. Und auch diesmal spürte sie diesen Schmerz der Enttäuschung in der Magengrube, weil sie ihn vermisste – einen Menschen, der nicht einmal existierte. Als sie das erste Mal von ihm geträumt hatte, war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, so jung, dass sie noch keine Ähnlichkeit mit dem Teenager im Spiegel hatte. Damals hatte sie diesen Traum nur selten, ein- oder zweimal im Jahr. Doch mit den Jahren, während sie dem Mädchen im Spiegel immer mehr ähnelte, drangen die Träume mit einer neuen Dringlichkeit in ihr Bewusstsein – so als versuchten sie, ihr etwas zu sagen. Michele runzelte die Stirn, während sie auf ihre Kissen zurücksank, und fragte sich, ob sie es je verstehen würde. Doch rätselhafte Geschehnisse und Geheimnisse waren seit dem Tag ihrer Geburt offenbar ein fester Bestandteil ihres Lebens. Michele drehte sich auf die Seite, mit dem Gesicht zum Fenster, und lauschte den Wellen, die draußen vor dem Venice-Beach-Bungalow ans Ufer plätscherten. Dieses Geräusch machte sie normalerweise schläfrig, nicht jedoch heute Nacht. Die Saphiraugen wollten ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Augen, die sich ihrem Gedächtnis eingebrannt hatten, obwohl Michele sie allein in ihren Träumen gesehen hatte. »See that I’m everywhere, everywhere, shining down on you …« Aus Micheles iPod ertönte der pulsierende Hip-Hop-Beat des Lupe-Fiasco-Songs »Shining Down«. Sie lugte unter der Bettdecke hervor und drückte auf die Schlummertaste. Wie konnte es schon Morgen sein? War sie nicht erst vor wenigen Augenblicken wieder eingeschlafen? »Michele!«, ertönte es aus dem Flur. »Bist du schon auf? Ich habe Pfannkuchen gemacht. Komm, bevor sie kalt werden.« Michele öffnete die Augen. Schlafen oder Pfannkuchen? Da musste sie nicht lange überlegen. Bei dem Gedanken an die Spezialität ihrer Mutter lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie warf sich einen Bademantel über, schlüpfte in ihre flauschigen Pantoffeln und tapste durch das schlicht eingerichtete Haus, bis sie die gemütliche Küche erreichte. Marion Windsor saß wie jeden Morgen da und studierte die neuesten Modeentwürfe in ihrem Skizzenbuch, während sie an ihrem Kaffee nippte. Das knisternde Geräusch einer alten Jazzscheibe, Marions Lieblingsplatte, die von keiner Geringeren als ihrer Großmutter Lily Windsor stammte, drang aus dem altmodischen Plattenspieler. »Guten Morgen, meine Süße«, begrüßte Marion ihre Tochter und schaute lächelnd von ihrem Skizzenbuch auf. »Morgen.« Michele beugte sich vor, um ihrer Mutter einen Kuss zu geben, und blickte auf die Skizze, an der sie gerade gearbeitet hatte. Ein langes, fließendes Kleid, das etwas Pocahontahaftes hatte und genau zu den anderen Stücken in der Modelinie ihrer Mutter passte, die sich durch unkonventionelle Eleganz auszeichneten: Marion Windsor Designs. »Sieht echt gut aus«, sagte Michele anerkennend. Sie ließ sich auf ihrem Stuhl nieder, vor einem Teller mit goldbraun gebackenen Pfannkuchen und einer Schicht Erdbeeren obendrauf. »Und das sieht fast noch besser aus!« »Bon appétit.« Marion grinste. »Wo wir gerade beim Essen sind: Bist du für heute Mittag schon mit deinen Freundinnen verabredet?« Michele zuckte die Schultern, während sie genüsslich den Duft der Pfannkuchen einatmete. »Das Übliche, nichts Besonderes.« »Ich habe heute Nachmittag frei und dachte, ich könnte dich mittags abholen. Wir könnten am Santa Monica Pier Burger essen«, schlug ihre Mutter vor. »Was hältst du davon?« Michele sah sie von der Seite an. »Du hast immer noch Mitleid mit mir, oder?« »Was? Nein!«, erwiderte Marion scheinbar entrüstet. Michele hob eine Augenbraue. »Okay, ja«, gab ihre Mutter nach. »Du tust mir nicht leid, weil ich weiß, dass es dir ohne ihn viel besser geht. Aber ich kann es nicht ertragen, dich verletzt zu sehen.« Michele nickte und blickte auf ihren Teller hinunter. Es war mittlerweile zwei Wochen her, seit sich Jason, ihr erster richtiger Freund, am Abend des ersten Schultags von ihr getrennt hatte. »Babe, weißt du, du bist wirklich einsame Spitze«, hatte er gesagt. »Aber es ist mein letztes Schuljahr, und eine Beziehung würde mich nur belasten. Ich will mich einfach ein bisschen austoben, verstehst du?« Michele hatte es nicht verstanden und musste das elfte Schuljahr mit gebrochenem Herzen beginnen. Was die Sache nicht unbedingt besser machte: In der vergangenen Woche hatte sich herumgesprochen, dass sich Jason mit einer Studentin im zweiten Studienjahr traf, einer gewissen Carly Marsh. Marion griff über den Tisch nach Micheles Hand und drückte sie. »Süße, ich weiß, wie schwer es ist, den ersten Freund mit einer anderen zu sehen. Es dauert einfach ein bisschen, um darüber hinwegzukommen.« »Aber ich müsste schon längst drüber hinweg sein«, entgegnete Michele wütend. »Ich meine, er hat doch nie über irgendetwas anderes geredet als Wasserpolo und war ungefähr so romantisch wie ein Zahnstocher. Ich vermisse einfach – ich weiß auch nicht …« »Dieses Gefühl von tausend Schmetterlingen im Bauch und die Gewissheit, dass es ihm genauso geht?«, schlug Marion vorsichtig vor. »Ja«, gab Michele kleinlaut zu. »Ja, ich glaube, das ist es irgendwie.« »Also, ich kann dir versprechen, dass du dieses Gefühl wieder haben wirst, aber mit jemand viel Besserem«, sagte Marion bestimmt. »Und woher willst du das wissen?«, fragte Michele. »Weil wir Mütter solche Dinge intuitiv wissen. Wenn du also Jason mit Carly siehst, dann versuch...