Roman
E-Book, Deutsch, 366 Seiten
ISBN: 978-3-406-67597-3
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Aden, Jemen, Oktober 1935
Der Ruf des Muezzins riss Jama aus seinem Traum. Er rappelte sich auf und sah, wie die Sonne über den Tortenkuppeln der Moscheen aufging; die Dächer der lebkuchenfarbenen Wohnblöcke leuchteten zuckergussweiß. Dunkle Vogelsilhouetten schwirrten durch den tintigen Himmel, umkreisten den schwangeren Mond und die letzten verbliebenen Sterne. Jamas Blicke wanderten über Aden – den geschäftigen Industriehafen Steamer Point; Crater, die Altstadt aus Sandstein, deren geschwungene, graubraune Gebäude mit dem Dschebel-Schamsan-Vulkan verschmolzen; die zwischen Bergen und Meer gelegenen Stadtteile Ma’alla und Sheikh Usman, weiß und modern. Holzrauch und Säuglingsgeschrei stiegen auf, und die Frauen, die des Mahnrufs des betagten Muezzins gar nicht bedurften, unterbrachen ihre Frühstücksvorbereitungen für das Morgengebet. Auf dem uralten Minarett hockte ein Geiernest, Abfall schmückte die vorragenden Zweigenden und bedeckte die Nachbarschaft mit seinem Gestank. Fürsorglich verfütterte die Mutter, die kräftigen Flügel ausgebreitet, verrottendes Aas an ihren kreischenden Nachwuchs. Jamas eigene Mutter, Ambaro, stand am Dachrand und sang mit tiefer, melodischer Stimme ein Lied. Sie sang vor und nach der Arbeit, nicht weil sie glücklich war, sondern weil ihr die Lieder einfach aus dem Mund schlüpften, als schnappte ihre junge Seele außerhalb des Körpers Luft, ehe die Plackerei sie wieder einholte. Ambaro schüttelte sich die Geister aus dem Haar und legte mit ihrem morgendlichen Selbstgespräch los. «Manche Leute wissen gar nicht, wie viel Arbeit nötig ist, um ihr undankbares Maul zu stopfen, die halten sich wohl für einen suldaan, der sorglos in den Tag hineinleben kann, nichts als Unsinn im Kopf hat, einzig dazu da ist, sich mit anderem Gesindel herumzutreiben. Ich schufte mir doch nicht den Rücken krumm und sehe zu, wie es sich gewisse Jungs mit ihrem dreckigen Hintern auf dem Rücken gemütlich machen – nur über meine Leiche.» Allmorgendlich wurde Jama von diesen Gedichten der Verachtung, diesen gabays der Unzufriedenheit begrüßt. Unglaubliche, mäandernde Ströme des Vorwurfs flossen über die Lippen seiner Mutter, stießen den mukhadim in der Fabrik, ihren Sohn, lang verschollene Verwandte, Feinde, Männer, Frauen, Somalier, Araber, Inder hinein ins Feuer der Verdammnis. «Steh auf, du dummer Junge, du glaubst wohl, das ist das Haus deines Vaters? Steh auf, du Idiot, ich muss zur Arbeit.» Jama blieb träge auf dem Rücken liegen und spielte mit seinem Bauchnabel. «Hör auf, du Schmutzfink, du pulst da noch ein Loch rein.» Ambaro schlüpfte aus einer ihrer ramponierten Ledersandalen und kam auf ihn zu. Jama unternahm einen Fluchtversuch, aber seine Mutter stürzte sich auf ihn und es regnete schmerzhafte Schläge. «Steh auf! Ich muss zwei Meilen weit zur Arbeit laufen und du machst Sperenzchen beim Aufstehen, gibt’s denn so was!», tobte sie. «Geh mir aus den Augen, du Nichtsnutz, verschwinde!» In Jamas Augen war Aden schuld daran, dass seine Mutter so wütend war. Er wollte zurück nach Hargeisa, dort würde sein Vater sie mit Liebesliedern besänftigen. Bei Tagesanbruch vermisste Jama seinen Vater am meisten, im klaren Morgenlicht waren seine Erinnerungen besonders deutlich – das Lachen seines Vaters, sein Gesang am Lagerfeuer und die weichen, langgliedrigen Hände, die sich um seine schlossen. Er war sich nicht sicher, ob es sich um echte Erinnerungen handelte oder nur um Traumfetzen, die in sein Wachsein sickerten, doch er hütete diese flüchtigen Bilder sorgsam und hoffte, dass sie nicht wie sein Vater ganz verschwinden würden. Jama erinnerte sich, dass er auf starken Schultern durch die Wüste getragen worden war und wie ein Prinz auf die Welt hinabgeblickt hatte, aber das Gesicht seines Vaters war bereits aus seinem Gedächtnis verschwunden, hinter hartnäckigen Wolken verborgen. Der Geruch nach canjeero drang die dunkle Wendeltreppe herauf; die Islaweynes frühstückten. Früher hatte ZamZam, eine unscheinbare Halbwüchsige, Jama die Reste ihrer Mahlzeiten gebracht, die er auch gegessen hatte, bis er mitbekommen hatte, dass die Jungen der Familie ihn haashishki nannten, Mülleimer. Die Islaweynes waren entfernte Verwandte, die zum Clan seiner Mutter gehörten und die Ambaros Halbbruder gebeten hatten, sie bei sich aufzunehmen, als sie ganz allein nach Aden gekommen war. Sie hatten zugestimmt, aber bald hatte sich herausgestellt, dass sie erwarteten, dass ihre bedu-Verwandte für sie kochen und putzen und der Familie als Dienstmädchen Glanz verleihen sollte. Innerhalb einer Woche hatte Ambaro Arbeit in einer Kaffeefabrik gefunden und damit den Zorn der Islaweynes auf sich gezogen, die nun ihres neuen Statussymbols beraubt waren. Ambaro musste auf dem Dach schlafen und durfte nicht mit ihnen essen, es sei denn, Mr Islaweyne und seine Frau hatten Gäste, dann lächelten sie voller familiärer Großzügigkeit übers ganze Gesicht. «Oh, Ambaro, was meinst du denn nur mit ‹darf ich›? Was uns gehört, gehört auch dir, Schwester!» Als Ambaro genug gespart hatte, um ihren sechsjährigen Sohn nach Aden nachkommen zu lassen, schäumte Mrs Islaweyne ob der Unannehmlichkeiten vor Wut und untersuchte ihn demonstrativ nach Krankheiten, mit denen er ihre Kinder infizieren könnte. Unterm Klappern ihrer goldenen Armreifen untersuchte sie ihn auf Nissen, Flöhe und Hautkrankheiten; völlig ungeniert hob sie seinen ma’awis hoch, um zu sehen, ob er Würmer hatte. Obwohl Jama ihre medizinische Untersuchung ohne Befund bestanden hatte, starrte sie ihn wütend an, wenn er mit ihren Kindern spielte, und flüsterte ihnen zu, sie sollten nicht allzu vertraulich mit diesem Jungen umgehen, der aus dem Nichts gekommen war. Fünf Jahre später führten Ambaro und Jama noch immer eine geisterhafte Existenz auf dem Dach. Bis auf die Schmutzwäsche, die erst von Ambaro gewaschen, dann von Jama aufgehängt und schließlich in ordentlichen Stapeln zusammengelegt wurde, sah oder hörte die Familie so gut wie nichts von ihnen. Im Morgengrauen machte sich Ambaro zur Kaffeefabrik auf und kam erst zurück, wenn es bereits dunkel war, sodass Jama den ganzen Tag allein im Haus der Islaweynes verbringen musste, wo er sich nicht willkommen fühlte, oder sich mit den Marktjungen auf der Straße herumtrieb. Draußen hatte sich der Himmel zu einem wässrigen Türkisblau aufgehellt und allmählich rappelten sich die somalischen Männer auf, die am Straßenrand geschlafen hatten, ihre Afros voller Sand, während Araber Hand in Hand dem Souk zustrebten. Jama ging hinter einer Gruppe Jemeniten her, die große, von Goldfäden durchzogene Turbane und im Gürtel wunderschöne Dolche mit Elfenbeingriffen trugen. Im Vorbeigehen strich er Kamelen, die zum Markt geführt wurden, über die warmen Flanken. Sie bedankten sich mit einem Aufschlag ihrer dichten Wimpern für die Zärtlichkeit und winkten ihm mit schwingenden Schwänzen ein Lebewohl zu. Jungen und Männer schlurften auf ihrem Weg zum Markt – oder diesen verlassend – vorbei, transportierten Gemüse, Obst, Brot und Fleisch in Tüten, in Händen oder auf dem Kopf, trugen knusprige Fladenbrote unterm Arm wie Zeitungen, frisch aus der Druckpresse. Schmetterlinge tanzten, genossen das morgendliche Geflatter, ehe es unerträglich heiß wurde und sie den Tag in klebrigen Blüten verschliefen. Haut und Kleider der Hammals, die ihre Schubkarren durch enge Gassen voller Schlaglöcher schoben, verströmten Weihrauch, jeder Mann in seinen heimischen Duftkokon gehüllt. Gegen die warme Mauer gelehnt, schloss Jama die Augen und stellte sich vor, er säße auf dem Schoß seiner Mutter und spürte die Schwingungen der Lieder, die tief aus ihrem Inneren emporstiegen. Er spürte, dass jemand vor ihm stand, eine kleine Hand fuhr ihm über den Scheitel. Als er die Augen öffnete, grinsten Abdi und Shidane auf ihn hinab. Der neunjährige Abdi mit seinen Zahnlücken war der Onkel des elfjährigen Shidane, der bereits ein gewiefter Gauner war. Abdi streckte Jama ein Brotstück entgegen, das er sofort herunterschlang. Sie liefen zum Strand, über dem sich die schwarze Lava des Dschebel-Schamsan-Vulkans erhob. Marktjungen aller Hautfarben, Glaubensrichtungen und Sprachen versammelten sich am Strand zu Spiel, Bad und Kampf. Sämtliche ansteckenden Krankheiten, Verstümmelungen und Deformierungen waren hier vertreten. «Schalom!», rief Jama Abraham zu, einem schmächtigen jüdischen Jungen, mit dem er früher von Haus zu Haus gezogen war und Blumen verkauft hatte. Abraham winkte und sprang mit Anlauf ins Wasser. Im Sonnenlicht wirkte Shidanes Haar, das durch Mangelernährung blond geworden war, durchsichtig, und als Abdi in die Brandung sprang, wackelte sein Kopf, der für den mickrigen Körper viel zu groß war, hin und her. Diese beiden waschechten Seeteufelchen verbrachten ihre Tage mit Münzentauchen. Da Jama wollte, dass sie ihn mit hinaus aufs Wasser nahmen, suchte er nach angespülten Brettern. «Haltet nach Schnurstücken Ausschau, damit wir raus aufs Wasser können», rief...