E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Reihe: Edition Totengräber
Mörderische Schwestern e.V. Berlin / Rüster / Ramlow Zerstöckelt
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95996-224-7
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine tödliche Anthologie
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Reihe: Edition Totengräber
ISBN: 978-3-95996-224-7
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unter den Absätzen der Mörderischen Schwestern, in ihren Sätzen und Geschichten finden sich entzweite Schulfreundinnen, Hausbesetzer, wehrhafte Fahrgäste und eine Schamanin.
Es sind enttäuschte Mütter, hart arbeitende Frauen, listige Detektive, tatkräftige Rentnerinnen, eine ehrgeizige Sängerin, eine alternde Femme fatale, die alle neben weiblichem Charme und scharfem Verstand auch Waffen jeder Art, Gift und Allergene zum Einsatz bringen.
Aus einer manchmal auch animalischen Perspektive schreiben die Mörderischen Schwestern über Totschlag, Betrug und Rache, darüber, wie man sich zur Wehr setzt, wie jemand auf’s Kreuz gelegt wird oder Täter zu Opfern werden.
Dieses Buch vereint 22 spannende, kritische und literarische Texte. Sie sind überraschend, satirisch, ernst und humorvoll, leise und schrill. Mörderisch gut, die Schwestern!
Mit Beiträgen von: Barbara Ahrens, Ulrike Bliefert, Ute Christensen, Andrea Gerecke, Laszlo Hartmann, Carla Maria Heinze, Astrid Ann Jabusch, Bettina Kerwien, Slavica Klimkowsky, Ria Klug, Maria Kolenda, Salean Maiwald, Andrea Maluga, Marianne Meuser, Dolores Pieschke, Heidi Ramlow, Connie Roters, Susanne Rüster, Waltraud Schade, Barbara Schlungbaum, Comsha Stein, Gisela Witte
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Heidi Ramlow Schubert-Fieber
Der Abend war schwül. Samira hatte in der Pause die Fenster weit geöffnet, aber selbst das brachte keine Abkühlung. Die Hitze staute sich trotz der dicken Mauern im Gotischen Saal der Zitadelle. Vereinzelte Zuhörer waren schon gegangen. Leise schloss Samira die Fenster. Sie mochte diese mittelalterliche Festung; ein ganz besonderer Ort ihrer Kindheit, über den ihre Spandauer Großmutter ihr viele Gruselgeschichten erzählt hatte. Sie trat ins Freie. Einmal durchatmen! Die Dämmerung legte sich auf den bleiernen Abend. Fledermäuse huschten um den Juliusturm, unterwegs zum nächtlichen Beutefang. Die Großmutter hatte ihr immer Angst gemacht vor diesen tagscheuen Tieren, hatte behauptet, sie würden sich gerne in Frauenhaar wickeln, besonders in rotes. Sie ging zurück in den Saal. Vor einem der Fenster war ein Podest aufgebaut, daneben der Flügel, davor standen die Stuhlreihen der Zuhörer. Samira faszinierte die Backstein-Gotik, das warme, indirekte Licht der Fenster, die Kandelaber neben dem Podest, deren Kerzenschein die Gesichtszüge weich werden ließen. Der richtige Rahmen für den Abschluss der Meisterklasse und für ihren ersten Auftritt bei den Burgkonzerten. Und die Akustik zwischen diesen Backsteinmauern – einfach hervorragend. Ihr Herz klopfte. Drei Lieder präsentierte jede Sängerin. Der Siegerin winkte ein Stipendium am Mozarteum in Salzburg. Ihr ganz persönlicher Traum! Ihre stärkste Konkurrentin Alma hatte ihren Auftritt bereits hinter sich und war von Juroren und Publikum frenetisch beklatscht worden. Aber auch Samira galt als Favoritin, das wusste sie, ihr Sopran klang lyrischer als der von Alma. Ihre Blase meldete sich. Ausgerechnet jetzt! Das verdammte Lampenfieber. Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit bis zu ihrem Auftritt und ging zur Toilette. Ihr Mund war trocken, ihr Atem heiß. Aus dem Wasserhahn trank sie einige Schlucke, gurgelte dann, spuckte das Wasser zurück ins Becken. „Aufgeregt?“, hörte sie eine Stimme hinter sich fragen. Alma war in den Waschraum gekommen. Sie sah fantastisch aus mit ihren hochgesteckten, blonden Haaren und dem langen, schwarzen Kleid mit Spaghettiträgern. Sie verzauberte alle mit ihrem Aussehen und ihrer Stimme. Samira hatte das Kontrastprogramm gewählt, ganz in Weiß und trägerlos. „Max begleitet heute hervorragend am Flügel“, sagte Alma leise, „allerdings glaube ich, dass ihm Schubert nicht so liegt.“ „Den Eindruck hatte ich nicht auf den Proben!“ Samira ordnete ihre halblangen, roten Haare, steckte die weiße Seidenrose hinters Ohr und dachte an die letzte Nacht mit Max. Ob Alma etwas ahnte? „Jedenfalls toi, toi, toi für deinen Auftritt. Max ist ja soooo süß mit seiner wilden Mähne!“ Alma lächelte sie an, als hätte sie den Sieg schon in der Tasche, nicht nur den Sieg als Sängerin, sondern auch den Sieg um Max’ Gunst. Max, der Unnahbare. „Er ist vor allem ein ausgezeichneter Pianist!“, sagte Samira und verließ den Waschraum. An die Seite des Podestes stellte ein Techniker einen Ventilator, für alle Fälle. Auch das wird keine Kühlung bringen, dachte Samira. Die Zuschauer hatten den Saal wieder gefüllt, langsam wurde es still. Max und Samira blieben noch einen Augenblick neben dem Flügel stehen, bis die Deckenbeleuchtung ausging. Max nahm kurz ihre Hand und drückte sie. Sie liebte diesen professionellen Träumer. Der Professor der Meisterklasse stellte Samira vor. Mäßiger Applaus folgte. Die Zuschauer würden schwer zu packen sein nach der Pause; die Hitze machte auch ihnen zu schaffen. Die Gewitterluft knisterte förmlich. Samira streckte den Nacken und dachte an den Kuss. Alma stellte ein Glas Wasser auf den Flügel. Wie aufmerksam von ihr!
Vielleicht schätzte sie ihre Konkurrentin falsch ein. Samira bemerkte, wie Max der schwarze Seidenpulli zu schaffen machte … Der Ventilator wird ihm vielleicht Kühlung bringen, dachte sie. Erregung, etwas wie Fieber stellte sich bei ihr ein. Der Ventilator wurde angestellt, unterste Stufe, das brachte kaum etwas. Max und Samira traten auf das Podest. Während das Publikum applaudierte, setzte er sich an den Flügel und legte die Noten zurecht. Samira stand unter Strom, wie immer, wenn sie sang. Zwei Lieder aus der „Winterreise“ ließen die Zuschauer aufhorchen. Für den Abschluss hatte sie Schuberts „An die Musik“ ausgewählt, die Originalversion in D-Dur. Ein leichtes Nicken von ihr und Max legte die Hände auf die Tasten und spielte die ersten Takte. Pianissimo setzte sie ein, ein Zittern ging durch ihre Seele. „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden, Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt …“ Hart hatte Samira sich diesen Auftritt erarbeitet. Auf alles verzichtet, was sonst Jugend ausmacht, Partys, Kinobesuche, lange Kneipenabende. Heute nun der krönende Abschluss dieser Anstrengung. Max hatte sein Stipendium für das Mozarteum schon in der Tasche. Während er Akkord um Akkord leise in die Tasten griff, fühlte Samira ihr eigenes Genie. Die Kunst, legato zu singen, Töne zu verbinden. Elisabeth Schwarzkopf, Plácido Domingo, Dietrich Fischer-Dieskau – alle hatten Schuberts Musik ihre Stimme gegeben. Das war Dichtung in Tönen. Ehrfürchtig zelebrierte sie jeden Ton, die Höhen vibrierten, zärtlich und leise. Worte und Töne verschmolzen miteinander, zergingen auf der Zunge, sie fühlte ihre Wirkung. Das Publikum hing an ihren Lippen, mit dieser Hymne „An die Musik“ fesselte sie es vollkommen. „Hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden …“ Max legte ihr jeden Ton zu Füßen. Sie spürte seine Fingerfertigkeit, und ihr Körper wurde zur Stimme, selbstvergessen im Gefühl. Ein leichter Luftzug des Ventilators streifte sie, unterbrach das Sterben im Klang. Mein Gott, Max! Du Zauberer auf dem Flügel! „Hast mich in eine beßre Welt entrückt!“ Kurzes Zwischenspiel zur zweiten Strophe. Schubert starb bereits mit 31 Jahren, ging es Samira durch den Kopf. Sie wischte sich mit einem weißen Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Alma den Ventilator höherstellte. Endlich Kühlung, dachte sie und war ihrer Konkurrentin dankbar für die Hilfe. Die letzten Akkorde des Zwischenspiels, kleines Nicken von Max für ihren Einsatz. Sie fühlte den starken Luftstrom, als sich der Ventilator in ihre Richtung drehte und weiter zu Max. Kühle! Endlich Kühle! Ein Notenblatt wehte ihm ins Gesicht. Mitten im Einsatz hielt Samira inne. Totenstille im Saal. Nur das Aufwirbeln der Notenblätter durch den Ventilator war zu hören. Max’ Hände gehorchten ihm nicht mehr. Er konnte das Stück nicht auswendig spielen, das wusste Samira. Der Professor kam mit seinem Mikrofon zu ihnen gelaufen. Aus, dachte Samira. Es ist aus. Das Mozarteum bleibt weiter ein Traum. Einige Zuschauer lachten und applaudierten. Samiras Gedanken überschlugen sich. Hastig trank sie das Glas Wasser, das Alma ihr auf den Flügel gestellt hatte. Heiß war die letzte Nacht gewesen, in der Samira ihren Liedern Leben eingehaucht hatte. Der Schweiß auf ihren Körpern, der sich mit Lust vermischte, zur Lust wurde, während sie nach einem Blues in Max’ Armen versunken war. Saturday Night Fever auf klassisch? Improvisation, vierhändig! In diesen warmen Sommernächten konnte man nicht nur in Schubert aufgehen … Samira hatte noch nicht den Nimbus, aber dieses Charisma, das einen Star ausmacht, das sagte Max ihr letzte Nacht. Warum bestand ihr Repertoire eigentlich nur aus klassischer Musik? Improvisation! Ihr wurde schwindlig. Improvisation! Leichter Regen klopfte gegen die Fenster. Poch, poch, poch. Wie gelähmt saß Max vor dem Flügel, als Samira leicht mit den Fingern schnippte, poch, poch, poch. Beim Jazz hatte sie ihn gestern überrascht mit ihrer Coolness, ihrer Erotik und ihrem Reibeisencharme in der Stimme! Improvisation! Samira nahm dem Professor das Mikrofon aus der Hand. Finger schnippend trat sie hinter Max, zog ihm das Jackett aus und warf es elegant über das Klavier. Ihr wurde flau in der Magengegend. Der Professor sammelte die Notenblätter auf. Dieses karge Klangbild! Sie zog Max zu sich hoch und raunte: „Fever, unser Song der letzten Nacht!“ Seine Hände glitten an ihrem Körper entlang und sie wiegten sich in den Hüften. Er küsste ihren Nacken und während er die Tasten berührte wie vorher ihren Körper, begann sie: „Never know how much I love you …“ Samira spielte mit dem Mikrofon. Ihre Stimme hatte ein Timbre wie nach einer versoffenen, verrauchten, schwülen Jamsession. „Fever!“ Sie befanden sich in einer anderen Sphäre. In Musik gekleidete Gefühle pur! Worte in Harmonien! Virtuos meisterte Max jede Nuance, verschmolz mit ihrer Stimme. Sie stützte sich auf den Flügel. Schwarze Punkte verloren sich vor ihren Augen. Draußen grummelte die Gewitterfront. Wetterleuchten erhellte den Raum. Einige Zuschauer hielt es nicht auf den Stühlen, sie tanzten am Rande engumschlungen. „Fever!“ Der Professor legte die Notenblätter wieder vor Max auf den Flügel. Samira brannte lichterloh! Der Regen prasselte inzwischen unüberhörbar. Es riss ihr fast die Eingeweide aus dem Körper. Ihr war übel. Sie schwankte. „What a lovely way to burn, what a lovely way to burn, what a lovely way to burn …“ Im Nachhall von Samiras Stimme spielte Max leise, ganz leise Schuberts „An die Musik“ und...