E-Book, Deutsch, 468 Seiten
Mönnig Grenzverschiebung
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7497-3160-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 468 Seiten
ISBN: 978-3-7497-3160-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hans Sonntag macht Karriere, die ihn an verantwortungsvolle Positionen in der Justizverwaltung des Dritten Reichs führt. Immer weiter begleitet er dabei die Abschaffung des Rechtsstaates und die Aufgabe fundamentaler Rechtsgrundsätze, ohne für sich persönliche Konsequenzen zu ziehen und wird immer mehr zum Schreibtischtäter. Wie er sich anders verhalten könnte, wird ihm dabei mehrfach durch Vorgänge in seinem beruflichen Umfeld deutlich gemacht.
Peter Mönnig, Jahrgang 1963, ist selbst Jurist und beschäftigt sich seit Jahren mit der Justiz im Nationalsozialismus. Angeregt durch einen Vortrag im Rahmen eines Seminars bei der Deutschen Richterakademie recherchierte er selbst vertiefend über das Verhalten der führenden Mitarbeiter im Reichsjustizministerium. Seine dort gewonnenen Erkenntnisse verarbeitet er nun im Rahmen des hier vorliegenden Werks.
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Wustrau Hans Sonntag nahm seine leichte Jacke von der Garderobe und öffnete die Haustür. „Ich mache meine Runde“, rief er seiner Frau Eva zu, die er im Wohnzimmer vermutete. Als eine Antwort ausblieb, trat er vor das Haus, zog die Tür zu und schlenderte über den neu angelegten, links und rechts von Rosenstöcken gesäumten Kiesweg zur Straße. Bis auf eine Pflanze, die den strengen Frost des letzten Winters nicht überstanden hatte, blühte der Rest in den schönsten Farben. Der Frühsommertag lud gerade dazu ein, einen Spaziergang zu machen, den Hans fast bei jedem Wetter um diese Zeit unternahm. „Ich hätte vielleicht doch einen Hut aufsetzen sollen“, dachte er. Mit seinen 66 Jahren fühlte er sich körperlich gut. Sein Äußeres war ihm immer noch wichtig und bis auf sein Kopfhaar, was sich auf einen kleinen Kranz zurückgezogen hatte, war er mit sich eigentlich ganz zufrieden. „Ich werde schon keinen Sonnenbrand bekommen“, murmelte er vor sich hin. Als er das Straßentor erreichte, drehte er sich kurz um und blickte auf das Haus, sein Haus, zurück, welches in der Mittagssonne lag. Der Erwerb des Anwesens vor gut zwei Jahren war für Hans ein Glücksfall gewesen. Er hatte mit seiner Frau in der Oranienburgerstraße in Berlin eine große und helle Sechszimmerwohnung in einem Gründerzeithaus bewohnt. Das Objekt war Ministerialbeamten vorbehalten, die sich hier zu günstigen Konditionen einmieten konnten. Von hier konnte er morgens zu Fuß zu seiner Arbeitsstelle, dem Reichsjustizministerium, gelangen. Die Gegend war geprägt durch einige gut besuchte Restaurants und auch die kulturellen Einrichtungen Berlins waren schnell zu erreichen. Da Hans jedoch im September 1942 die Pensionsgrenze erreichen würde, war klar, dass er die Wohnung innerhalb der vom Ministerium üblicherweise eingeräumten Karenzzeit von einem halben Jahr nach dem Ausscheiden aus dem Dienst verlassen musste. Hans ahnte, dass er das kulturelle Leben in der Stadt vermissen würde, gab jedoch trotzdem Evas Drängen nach, sich im ländlichen Bereich nach einem neuen Zuhause umzuschauen. Seit dem Frühjahr 1941 hatten sie daher, wenn es ihnen zeitlich möglich war, Objekte im Umland von Berlin aufgesucht, die zum Verkauf standen. Das Richtige war jedoch noch nicht dabei und sie waren bereits soweit, Abstriche von ihren Vorstellungen an ihren Altersruhesitz zu machen, als Sonntag im Herbst 1941 eine Besprechung mit Ministerialdirektor Quassowski, dem Leiter der Abteilung V im Ministerium, hatte, in dem es erneut um die Weiterentwicklung des Genossenschaftsrechts im Reich ging. Sonntag hatte bisher über die fachliche Ebene hinaus keinerlei Berührung mit Quassowski gehabt, umso erstaunter war er, als dieser nach Beendigung der Besprechung mit ihm ein Gespräch über persönliche Angelegenheiten begann. „Wann gehen Sie eigentlich in Ruhestand?“ hatte Quassowski unvermittelt gefragt. „Im September nächstes Jahr“, antwortete Sonntag einsilbig, weil er bereits seinen nächsten Termin im Kopf hatte. „Dann müssen Sie ja auch dann umziehen“, legte Quassowski den Finger in die Wunde. „Ist der schon scharf auf unsere Wohnung?“ fragte Sonntag sich. „Meine Frau stammt von einem Bauernhof“, erwiderte er. „Daher haben wir uns entschlossen, unseren Lebensabend in einer eher ländlich geprägten Gegend zu verbringen.“ „Wollen Sie denn im Berliner Umland bleiben oder zurück ins Westfälische, von wo Sie ja nach meiner Erinnerung herkommen?“ „Nichts gegen meine Heimat, aber wir würden schon die Nähe zu Berlin vorziehen.“ „In welchem Umkreis suchen Sie denn?“ „Ich habe ja seit zwei Jahren ein Auto, so dass wir räumlich etwas flexibler sind“, antwortete Sonntag, der sich langsam fragte, worauf Quassowski hinauswollte. „Vielleicht kann ich Ihnen bei Ihrer Suche ja behilflich sein. Ich habe vor ein paar Tagen mit meiner Schwester gesprochen, deren Mann vor einem halben Jahr verstorben ist. Ihr gehört ein Haus, das sie jetzt veräußern will. Sie zieht es wieder in die Stadt.“ „Wo liegt denn das Anwesen?“ fragte Sonntag sofort interessiert. „In Wustrau.“ „Wo ist denn das?“ wollte er wissen, weil er den Namen des Ortes noch nie gehört hatte. „An der Südspitze des Ruppiner Sees“, klärte Quassowski auf. „Ich kann mit meiner Schwester einen Besichtigungstermin vereinbaren, wenn Sie das wünschen. Oder ist Ihnen die Gegend bereits zu ländlich?“ fügte er grinsend hinzu. Die Männer vereinbarten, am nächsten Tag noch einmal miteinander zu telefonieren, da Sonntag zunächst mit Eva sprechen wollte. Zudem beabsichtigte er, sich einmal auf einer Karte genauer anzuschauen, wo dieses Wustrau denn lag. Abends berichtete er seiner Frau von dem Angebot, die, nachdem beide eine Karte des nördlichen Brandenburgs zu Rate gezogen hatten, nur meinte, dass man einmal hinfahren könne. Beide hatten es sich nach den enttäuschenden Erfahrungen der bisherigen Haussuche verboten, zu euphorisch zu sein. Hans hatte jedoch das Blitzen in den Augen seiner Frau gesehen und auch ihm schien, als würde hier einmal alles passen. Unter Vermittlung von Quassowski vereinbarten sie schon für das folgende Wochenende einen Besichtigungstermin. Am Samstag fuhren sie unmittelbar nach dem Frühstück los. Es war ein strahlender Herbsttag. Der leichte Wind wehte die Blätter von den Bäumen und sie fuhren durch bunte Wälder, nachdem sie Berlin in nordwestlicher Richtung verlassen hatten. Nach eineinhalb Stunden näherten sie sich ihrem Ziel. Quassowski hatte ihnen erklärt, dass sie zunächst im Ort nach dem „Zietenschloss“, benannt nach dem Erbauer dieses herrschaftlichen Anwesens, Ausschau halten sollten. Sie entdeckten es nach kurzer Zeit, zumal der Ort klein und beschaulich war. Quassowski hatte beschrieben, dass sie jetzt nur noch der Uferstraße in nördlicher Richtung folgen mussten, um auf das Anwesen seiner Schwester zu treffen. „Es ist das Einzige mit einer Buchenhecke“, hatte dieser noch hinzugefügt. „Das muss es sein“, rief Eva, während beide nach einer Buchenhecke Ausschau hielten. Hans bremste das Auto ab und er hielt vor einem Einfahrtstor, welches die Buchenhecke zur Straßenseite unterbrach. Sie konnten keine Klingel entdecken und so öffneten sie das Tor und betraten das von der Straße nicht einsehbare Gelände. Das Grundstück machte einen sehr gepflegten Eindruck. Vor dem Haus befand sich ein großer Freiplatz und auf der rechten Seite des Gebäudes war eine Garage angebaut. Die Haustür lag etwas erhöht und war über eine kleine Steintreppe mit fünf Stufen zu erreichen. An der linken Gebäudeseite führte ein Weg entlang, der zu dem dahinterliegenden, zum See abfallenden Grundstücksteil führte. Das Haus verfügte über zwei Etagen, wie Hans zufrieden feststellte. Nach seiner Vorstellung konnte der eher repräsentative Bereich damit besser von den privaten Räumlichkeiten getrennt werden. Noch während sie sich dem Haus näherten, wurde die Haustür von einer etwa 70 Jahre alten Frau geöffnet, bei der es sich offensichtlich um Quassowskis Schwester handelte und die sich mit dem Namen Wengerer vorstellte. Diese begrüßte sie freundlich und sie begann sofort, ihnen das Innere des Hauses zu zeigen. Die Räume waren großzügig und lichtdurchflutet. Spätestens als sie durch den Wintergarten auf die Terrasse traten und durch den angelegten Garten mit altem Baumbestand auf den funkelnden See schauten, war Hans klar, dass Eva und er ihrem gemeinsamen Traum nahegekommen waren. Nach dem Rundgang tranken sie mit Frau Wengerer Kaffee und bekundeten sofort ihr Interesse an dem Erwerb des Objektes. In den nächsten Tagen wurden sie mit der alten Dame schnell handelseinig, wobei Hans etwas über das selbst gesetzte Budget hinausgehen musste. Zu gut hatte ihnen beiden – Eva war richtig begeistert gewesen – das Anwesen gefallen. Es war selbstverständlich, dass sie Frau Wengerer Zeit ließen, sich eine neue Bleibe zu suchen. Nach deren Auszug waren noch einige Umbauarbeiten vorzunehmen und Eva hatte sich der Gestaltung des Vorgartens angenommen. So zogen sie erst einen Monat nach Hans` Pensionierung ein. * Nach Verlassen des Grundstücks wandte er sich auf seinem Spaziergang nun nach links. Er hatte seine Lieblingsstrecke, die ihn vorbei an der Kirche des Ortes in das Wustrauer Luch führte, einer von Bächen durchzogenen Feuchtlandschaft, die sich in südlicher Richtung dem Ort anschloss. Als er gerade das neben der Kirche gelegene Pfarrhaus erreichte, wurde dessen Haustür geöffnet und Pfarrer Lemke trat heraus. Das Ehepaar Sonntag, obwohl aus dem katholischen Westfalen stammend, hatte schon kurz nach ihrem Einzug Besuch von Pfarrer Lemke bekommen, der sie herzlich in...