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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Mitford Hunnen und Rebellen

Meine Familie und das 20. Jahrhundert

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-949203-57-2
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wenige Familien aus der englischen Aristokratie vereinten die dünkelhaften, hinterweltlichen, aber auch die zuweilen radikal unkonventionellen Züge dieser Gesellschaftsschicht in so burlesker Konzentration auf sich wie die Mitfords in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Töchter aus diesem guten Hause heirateten Brauereierben und Faschisten, waren glühende ­Bewunderinnen von Adolf Hitler, gingen auf die Fuchsjagd und endlose Cocktailpartys - oder aber sie zogen für die Republik in den Spanischen Bürgerkrieg. Letzteres tat Jessica Mitford, die mit ihren Memoiren eines der vielleicht schönsten, komischsten und boshaftesten Porträts nicht nur ihres exzentrisch reaktionären Elternhauses schrieb. »Eine hinreißende Autobiografie.« Susanne Mayer, Die Zeit

Jessica Mitford (1917-1996) gehörte zu den sechs Töchtern einer exzentrischen eng­lischen Landadelsfamilie, von denen die meisten in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts berühmt oder ­berüchtigt wurden - Jessica als kommunistische Sympathisantin, die mit ihrem Cousin Esmond Romilly (einem Neffen Churchills) ausriss ins Spanien des Bürgerkriegs.
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EINS
Die Cotswolds, diese alte, malerische Landschaft voller Geister und Legenden, sind heute Teil der Touristenroute. Hat man Oxford abgehakt, wäre es doch schade, wenn man nicht noch die zwanzig Meilen oder so weiter fahren würde, um ein paar der historischen Dörfer mit den pittoresken Namen zu besehen – Stow-on-the-Wold, Chipping Norton, Minster Lovell, Burford. Die Dörfer selbst haben brav versucht, sich dieser Aufmerksamkeit würdig zu erweisen. Burford ist in der Tat so etwas wie ein kleines Stratford-on-Avon geworden, und seine alten Wirtshäuser sind sorgfältig renoviert und verbinden modernen Komfort mit einer gewissen Tudor-Atmosphäre. Man bekommt sogar Coca-Cola dort, wenn es wohl auch mit Zimmertemperatur serviert wird, und die kleinen Läden sind voller »Andenken an das Historische Burford« mit dem unauffälligen Schriftzug Made in Japan. Aus irgendeinem Grund ist Swinbrook, das nur drei Meilen entfernt liegt, dem Tourismus entronnen und liegt noch genauso da, wie ich es vor über dreißig Jahren gekannt habe. In dem winzigen Dorfpostamt werden immer noch die vier gleichen Süßigkeiten – Toffee, saure Drops, Edinburgh Rock und Butterscotch – in denselben vier großen Kristallglasbehältern im Schaufenster angeboten. Hinten im Laden hängen wie schon seit zwei Generationen zwei gerahmte Drucke von viktorianischen Schönheiten, die eine eine zarte junge Dame mit goldenem Haar und leuchtend blauen Augen, um die weichen weißen Schultern irgendetwas Präraffaelitisches drapiert, die andere im Kontrast ein neckisch-hübsches Zigeunermädchen, dessen unglaublich dichtes schwarzes Haar in großen runden Locken herabfällt. Als Kind fand ich immer, dass die beiden eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Nancy und Diana hätten, meinen älteren Schwestern. Daneben schauen die unnatürlich rosigen und weißen Gesichter von König George V. und Königin Mary immer noch freundlich in die Welt. Die einzigen anderen öffentlichen Gebäude sind das Schulhaus mit seinem einen großen Raum und die Kirche. Drumherum liegt ein Dutzend kleiner Häuser aus grauem Stein, dicht gedrängt wie Cotswolds-Schafe, ruhig und zeitlos. In der Kirche machen die Reihen der lackierten Sitzbänke – eine davon von meinem Vater nach dem Ersten Weltkrieg infolge einer erfolgreichen Wette beim Grand-National-Rennen gestiftet – immer noch einen recht modernen Eindruck, verglichen mit den mittelalterlichen steinernen Bodenplatten, den Strebepfeilern, Säulen und Bögen. Das Wappen der Redesdales mit dem lakonisch selbstgefälligen Motto »Gott sorget fuer uns«, das über dem Chorgestühl der Familie hängt, sieht immer noch ein wenig zu zeitgenössisch und glänzend aus neben den verwitterten grauen Steindenkmälern einer vormals in Swinbrook ansässigen Familie, deren Grabstatuen vierhundert Jahre lang starr dagelegen haben. Zwei Meilen vom Dorf den Hügel hinauf steht ein großes rechteckiges graues Gebäude mit drei Geschossen. Sein Stil ist weder modern noch traditionell zu nennen und simuliert auch keine historische Epoche – es hat eher das utilitaristische Aussehen einer Institution und könnte eine kleine Kaserne sein, ein Mädcheninternat, eine private Irrenanstalt (oder in Amerika ein Country Club). Alle diese Funktionen haben sich in seiner kurzen Geschichte durchaus angedeutet. Es handelt sich um Swinbrook House, das mein Vater für die Bedürfnisse – nach damaliger Auffassung – einer Familie mit sieben Kindern hatte bauen lassen. Wir zogen 1926 dort ein, als ich neun Jahre alt war. Swinbrook hatte viele Züge einer Festung oder Zitadelle aus dem Mittelalter. Vom Standpunkt der Insassen aus betrachtet war das Haus autonom – in dem Sinne, dass es weder notwendig noch (im Allgemeinen) möglich war, das Gebäude zum Zweck irgendwelcher Aktivitäten des menschlichen Lebens zu verlassen. Ein Schulzimmer mit Gouvernante für die Erziehung, Reitställe und Tennisplatz für den Sport, wir sieben Kinder als Gesellschaft, die Dorfkirche für spirituelle Tröstungen, unsere jeweiligen Schlafräume als Krankenzimmer, selbst wenn Operationen notwendig waren – alles war da, entweder im Hause selbst oder in geringer Entfernung zu Fuß zu erreichen. Von draußen betrachtet war der Zutritt – in dem recht unwahrscheinlichen Fall, dass jemand ihn versucht hätte – für Außenseiter unmöglich. Zu den Außenseitern zählte mein Vater nicht nur Hunnen, Froschfresser, Amerikaner, Schwarze und sämtliche Ausländer, sondern auch Kinder anderer Leute, die Mehrheit der Bekannten meiner älteren Schwestern, nahezu sämtliche jungen Männer – tatsächlich die ganze wimmelnde Bevölkerung des Planeten, ausgenommen ein paar (gewiss nicht alle) unserer Verwandten und einige wenige rotgesichtige, in Tweed gekleidete Nachbarn, die mein Vater aus irgendeinem Grund schätzte. Er war auf seine Art frei von »Vorurteilen« im modernen Sinne. Seit den dreißiger Jahren versteht man hierunter die Konzentration eines leidenschaftlichen Hasses auf eine bestimmte Rasse oder einen Glauben – Schwarze, Orientalen, Juden; das Wort »Diskriminierung« ist mittlerweile schon fast ein Synonym für »Vorurteil«. Mein Vater diskriminierte in keiner Weise, tatsächlich war er sich gewöhnlich irgendwelcher Unterschiede zwischen diversen Ausländern gar nicht bewusst. Als eine unserer Cousinen einen Argentinier spanischer Herkunft zum Mann nahm, bemerkte er: »Hat Robin also einen Schwarzen geheiratet.« Es fand ein unablässiges Tauziehen zwischen »Farve« und Nancy, Pam und Diana statt, den älteren Töchtern, die gerne ihre Freunde eingeladen hätten. Da meine Mutter Besuch ganz gerne hatte, war sie oft ihre Verbündete, und die Schlachten wurden gewonnen. Die Freunde meines Bruders Tom – kräftig gebaute junge Männer mit hellem Haar, die Nancy »die dicken Blonden« nannte – bildeten eine Ausnahme; sie durften immer kommen. Für die drei jüngeren Kinder, Unity, Debo und mich, galt die Gesellschaft, die wir aneinander hatten, als völlig ausreichend. Von sehr seltenen Besuchen von Cousins und Cousinen abgesehen, wuchsen wir in vollkommener Isolation von Gleichaltrigen auf. Meine Mutter hielt die Anwesenheit weiterer Kinder für unnötig, sie würde uns nur überreizen. Trotzdem hatte es eine Zeit gegeben, da wir bei seltenen Anlässen zu Geburtstagsfeiern oder Ostereiersuchen in die Häuser benachbarter Familien gebracht wurden. Selbst dieses eingeschränkte Gesellschaftsleben kam jedoch abrupt zum Erliegen, als ich neun war, und sollte nie wieder beginnen – und der Grund dafür war ich selbst, ahnungsloserweise. Ich wurde in einen Tanzkurs eingeschrieben, der sich wöchentlich traf, immer in einem anderen der großen Häuser der Nachbarschaft. Kleine Mädchen in Organdykleidchen und Kaschmirstolen, von gestärkten Nannys begleitet, wurden vom Chauffeur im vereinbarten Hause abgeliefert und warteten auf den Lehrer, der mit dem Bus aus Oxford kam. Eines verhängnisvollen Nachmittags verspätete er sich um eine Stunde, und ich ergriff die Gelegenheit, die anderen Mädchen aufs Dach zu führen und ihnen dort reizvolle Informationen über Zeugung und Geburt von Babys mitzuteilen, die ich kürzlich erfahren hatte. »Und – sogar der König und die Königin machen das!«, sagte ich mit eindrucksvoller Betonung. Es war ein großer Erfolg, insbesondere weil ich nicht widerstehen konnte, während des Erzählens einige Ausschmückungen zu erfinden. Alle baten mich, ihnen doch noch mehr zu erzählen, und schworen feierlich auf die Bibel, nie einer Menschenseele etwas zu verraten. Einige Wochen später ließ mich meine Mutter kommen. Ihr Gesicht war eine Gewitterwolke; und ich wusste sofort, was geschehen war. Bei der fürchterlichen Schelte, die nun erfolgte, erfuhr ich, dass eines von den kleinen Mädchen Nacht für Nacht schreiend aus Albträumen aufgefahren, blass und dünn geworden war und am Rand einer Nervenkrise schien. Schließlich hatte ihre Gouvernante ihr die Wahrheit über die entsetzliche Sitzung auf dem Dach entlockt (glücklicherweise enthüllte die Kleine nicht, dass ich auch das Königspaar mit hineingezogen hatte). Die Vergeltung folgte auf dem Fuße. Meine Teilnahme am Tanzkurs wurde beendet; es war allen – selbst mir – klar, dass ich fortan keine Gesellschaft für anständige Kinder mehr war. Die Ungeheuerlichkeit meiner unvorsichtigen Handlungsweise, ihr Gewicht und ihre Folgen waren derart, dass ich Jahre später – als ich mit siebzehn unter den Debütantinnen bei Hofe war – von einer älteren Cousine erfuhr, zwei jungen Männern der Nachbarschaft sei es immer noch verboten, sich mit mir abzugeben. Unity, Debo und ich waren also auf unsere eigenen Möglichkeiten zurückgeworfen. Wie ein isolierter Eingeborenenstamm, getrennt von der übrigen Menschheit, nach und nach ganz eigene Charakteristika in Sprache, Benehmen und Weltbild ausformt, so entwickelten wir Idiosynkrasien, die auf andere Kinder unseres Alters recht exzentrisch gewirkt hätten....


Jessica Mitford (1917–1996) gehörte zu den sechs Töchtern einer exzentrischen englischen Landadelsfamilie, von denen die meisten in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts berühmt oder berüchtigt wurden – Jessica als kommunistische Sympathisantin, die mit ihrem Cousin Esmond Romilly (einem Neffen Churchills) ausriss ins Spanien des Bürgerkriegs.


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