E-Book, Deutsch, Band 1860, 263 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
Eine Theorie der visuellen Kultur
E-Book, Deutsch, Band 1860, 263 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-72068-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
W.J.T. Mitchell ist eine der wichtigsten Stimmen in der heutigen Diskussion um Wesen und Funktion von Bildern. In seinem jüngsten Buch - dem ersten, das auch in deutscher Sprache erscheint - erkundet der amerikanische Begründer des "iconic turn" das Eigenleben, das Bilder in unserer Kultur führen. Ob es sich um Bilder in Museen oder Bilder in den Medien handelt - sie fordern Reaktionen von uns, sie provozieren und verführen und benehmen sich manchmal so gar nicht wie tote Gegenstände, sondern wie lebendige Wesen mit ihren eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Begierden. Mitchells Beobachtungen zu unserem Umgang mit Bildern sind scharf, provokant und gleichzeitig von bestechender Klarheit. Sie beleuchten nicht nur unsere visuelle, sondern auch unsere politische Kultur, die heute mehr denn je von Bildern geprägt ist.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Medienwissenschaften Medientheorie, Medienanalyse
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaft und Gesellschaft | Kulturwissenschaften Kulturwissenschaften
- Geisteswissenschaften Kunst Kunst, allgemein Kunstpsychologie und -soziologie
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Medienwissenschaften Medien & Gesellschaft, Medienwirkungsforschung
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;2
3;Zum Buch;263
4;Über den Autor;263
5;Impressum;3
6;Inhalt;4
7;Vorwort;6
8;Vorwort;10
9;Erster Teil: Bilder;16
9.1;Lebenszeichen – Das Klonen des Terrors;19
9.2;Was will das Bild?;45
9.3;Auf den Spuren des Begehrens;77
10;Zweiter Teil: Objekte;102
10.1;Anstößige Bilder;105
10.2;Die Romantik und das Leben der Dinge;128
10.3;Totemismus, Fetischismus und Idolatrie;149
11;Dritter Teil: Medien;160
11.1;Im Gespräch mit den Medien;163
11.2;Das Kunstwerk im Zeitalter der biokybernetischen Reproduzierbarkeit;190
12;Anhang;224
12.1;Dank;224
12.2;Anmerkungen;226
12.3;Anmerkung der Übersetzer;256
12.4;Bildnachweis;257
12.5;Personenregister;260
WAS WILL DAS BILD?*
In der jüngeren Literatur zur Visual Culture und Kunstgeschichte waren die vorherrschenden Fragen zum Bild interpretativ und rhetorisch. Wir möchten gerne darüber Bescheid wissen, was Bilder bedeuten und was sie bewirken: wie sie als Zeichen und Symbole kommunizieren und über welche Art von Macht sie verfügen, menschliche Emotionen und Verhaltensweisen hervorzurufen. Sobald die Frage nach dem Begehren aufgeworfen wird, wird dieses gewöhnlich in den Produzenten oder Konsumenten von Bildern verortet, wobei das Bild als ein Ausdruck für das Begehren des Künstlers behandelt wird bzw. als ein Mittel, in einem Betrachter ein Begehren hervorzurufen. In diesem Kapitel möchte ich den Ort des Begehrens in das Bild selbst verlagern und die Frage stellen, was es will. Diese Frage beabsichtigt gewiss keine Preisgabe interpretativer und rhetorischer Aspekte, doch wird sie, so hoffe ich, die Frage nach Sinn und Macht des Bildes ein wenig anders erscheinen lassen. Sie wird uns zudem dabei behilflich sein, den fundamentalen Umschwung zu verstehen, der sich in der Kunstgeschichte und in anderen Disziplinen ereignet hat und bisweilen mit dem Begriff «Visual Culture» oder «Visual Studies» bezeichnet wird. Diesen Umschwung habe ich einmal mit einem «pictorial turn» sowohl in der populären als auch in der elitären Kultur in Verbindung gebracht. Um Zeit zu sparen, möchte ich von der Annahme ausgehen, dass wir imstande sind, unsere Zweifel an der Grundprämisse der Frage Was will das Bild? außer Kraft zu setzen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass es eine bizarre, vielleicht sogar eine anstößige Frage ist. Es ist mir klar, dass sie eine Subjektivierung des Bildes, eine dubiose Personifikation unbelebter Objekte mit sich bringt, dass sie mit einer rückschrittlichen, abergläubischen Haltung gegenüber Bildern liebäugelt, einer Haltung, die uns, sofern sie denn ernst genommen wird, in Praktiken wie Totemismus, Fetischismus, Idolatrie und Animismus zurückfallen ließe.[1] Es sind dies Praktiken, die die meisten modernen, aufgeklärten Menschen in ihren ursprünglichen Formen (der Anbetung von materiellen Gegenständen; der Behandlung von unbelebten Objekten wie z.B. Puppen, als wären sie lebendig) misstrauisch als primitiv, psychotisch oder kindisch betrachten und in ihren modernen Erscheinungsformen (dem Fetischismus entweder von Waren oder von neurotischen Perversionen) als pathologische Symptome auffassen. Ich bin mir ebenfalls ziemlich gut darüber im Klaren, dass diese Frage wie die geschmacklose Inbesitznahme einer Untersuchung erscheinen mag, die an sich für andere Menschen bestimmt ist, besonders für die Gruppen von Menschen, die Gegenstand von Diskriminierung und Opfer von vorurteilsbehafteten Bildern gewesen sind. In der Frage klingen die ganzen Untersuchungen zum Begehren des niedergeschlagenen Anderen nach, der Minderheiten oder der Untergeordneten, Untersuchungen, die so wesentlich für die Entwicklung der modernen Studien zu Geschlecht, Sexualität und Ethnizität gewesen sind.[2] «Was will der schwarze Mensch?» ist die Frage, die Franz Fanon, die Verdinglichung von Menschlichkeit und Négritude in einem einzigen Satz riskierend, aufwirft.[3] «Was will das Weib?» lautet die Frage, auf die Freud selbst keine Antwort fand.[4] Frauen und Farbige haben dafür gekämpft, jene Fragen direkt an- bzw. aussprechen zu können, dafür, Aussagen über ihr eigenes Begehren zu artikulieren. Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie Bilder das Gleiche tun könnten bzw. wie irgendeine Untersuchung dieser Art auch nur mehr als ein unaufrichtiges oder (bestenfalls) unbewusstes Bauchreden sein könnte; so als stellte Edgar Bergen seiner Puppe Charly McCarthy die Frage: «Was wollen Puppen? »[5] Nichtsdestotrotz möchte ich gerne so fortfahren, als wäre es die Frage wert, gestellt zu werden – teils, um in einer Art von Gedankenexperiment zu schauen, was passiert, teils aus der Überzeugung heraus, dass es eine Frage ist, die wir immer schon stellen, dass wir nicht anders können, als sie zu stellen, und dass die Frage es daher verdient, untersucht zu werden. Ich sehe mich in diesem Unterfangen durch die Tradition von Marx und Freud bestärkt, die beide die Idee hatten, dass eine moderne Wissenschaft des Sozialen wie auch des Psychischen sich mit Aspekten des Fetischismus und Animismus, mit Fragen der Subjektivität von Objekten und der Personhaftigkeit von Gegenständen zu befassen hat.[6] Bilder sind Gegenstände, die mit sämtlichen Stigmata des Personhaften und des Beseeltseins gezeichnet worden sind: Sie weisen sowohl physische als auch virtuelle Körper auf; sie sprechen zu uns – manchmal im buchstäblichen, manchmal im übertragenen Sinne; oder aber sie erwidern unsere Blicke schweigend über einen «Abgrund, der sich nicht durch die Sprache überbrücken lässt».[7] Sie weisen nicht nur eine Oberfläche auf, sondern auch ein Gesicht, das dem Betrachter entgegensieht. Während Marx und Freud beide das personifizierte, subjektivierte, beseelte Objekt mit tiefem Misstrauen bedenken und ihre jeweiligen Fetische einer ikonoklastischen Kritik unterziehen, wird ein großer Teil ihrer Arbeit dafür aufgewendet, diejenigen Prozesse ausführlich darzulegen, durch die das Leben der Objekte in der menschlichen Erfahrung produziert wird. Dabei ist es eine offene Frage, ob es, zumindest im Falle Freuds, irgendeine Aussicht auf «Heilung» für die Krankheit des Fetischismus gibt.[8] Meine eigene Position ist die, dass das subjektivierte, beseelte Objekt in der einen oder anderen Form ein unheilbares Symptom ausmacht und dass Marx wie Freud besser als Wegweiser für das Verständnis dieses Symptoms und vielleicht für seine Umformung in weniger pathologische, schädigende Formen behandelt werden sollten. Kurz gesagt: Wir sind gegenüber Objekten – und in besonderem Maße gegenüber Bildern – gefangen in magischen, vormodernen Haltungen; und unsere Aufgabe ist nicht, diese Haltungen zu überwinden, sondern sie zu verstehen, sich durch ihre Symptomatologie durchzuarbeiten. Die literarische Betrachtung des Bildes hat selbstverständlich wenig Hemmungen, dessen unheimliche Personhaftigkeit und Vitalität zu zelebrieren – vielleicht deshalb, weil man sich dem literarischen Bild nicht unmittelbar zuwenden muss, sondern es durch die sekundäre Vermittlung der Sprache auf Distanz halten kann. Sowohl in traditionellen als auch in modernen literarischen Erzählungen lassen sich allerorts Zauberbilder, magische Masken und Spiegel, lebendige Statuen und Gespensterhäuser finden, und die Aura jener imaginären Bilder sickert bis in die professionellen wie populären Haltungen gegenüber realen Bildern durch.[9] Kunsthistoriker mögen «wissen», dass die Bilder, die sie analysieren, bloß materielle Objekte sind, die mit Farben und Formen bedacht wurden; doch sie reden und handeln häufig so, als hätten Bilder Gefühle, Willen, Bewusstsein, Wirkkraft und Begierden.[10] Jeder Mensch weiß, dass eine Fotografie seiner Mutter nicht lebendig ist, doch wird er sich trotzdem dagegen sträuben, diese zu entstellen oder zu zerstören. Kein moderner, rationaler, säkularer Mensch denkt, dass Bilder wie Personen behandelt werden müssen, doch scheinen wir stets gewillt zu sein, für besondere Fälle Ausnahmen zu machen. Und diese Haltung beschränkt sich nicht auf wertvolle Kunstwerke oder Bilder, die für jemanden eine persönliche Bedeutung besitzen. Jeder Werbemanager weiß, dass einige Bilder – um im Branchenjargon aus den USA zu reden – «Beine haben»[11], d.h., sie scheinen über die wundersame Fähigkeit zu verfügen, im Rahmen von Werbekampagnen völlig neue Richtungen einzuschlagen und überraschende Wendungen hervorzurufen, ganz so, als besäßen sie selbst Intelligenz und Entschlossenheit. Als Moses Aaron dazu auffordert, die Herstellung des Goldenen Kalbs zu erklären, behauptet Aaron, dass er lediglich das Gold der Israeliten ins Feuer geworfen habe und dann «dieses Kalb heraus[kam]» (Exod.32:24) – gleichsam, als handelte es sich bei dem Kalb um einen durch sich selbst erzeugten Automaten.[12] Offensichtlich haben einige Idole ebenfalls Beine.[13] In der Tat stellt die Vorstellung, dass Bilder über eine Art von gesellschaftlicher und psychologischer Macht verfügen, das vorherrschende Klischee der gegenwärtigen visuellen Kultur dar. Die Behauptung, dass wir in einer Gesellschaft des Spektakels, der Überwachung und der Simulakren leben, ist nicht bloß eine Einsicht der modernen Kulturkritik; eine Sport- und Werbeikone wie Andre Agassi kann sagen, dass «image alles ist», und er kann dabei so verstanden werden, als spräche er, der selbst für «nicht mehr als ein Bild» angesehen worden ist, nicht nur über, sondern für die Bilder. Es ist daher nicht schwierig nachzuweisen, dass die Idee von der Personhaftigkeit der Bilder (oder zumindest die von deren Beseeltheit) in der modernen Welt ebenso lebendig ist wie zu Zeiten traditioneller Gesellschaften. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin zu wissen, was als Nächstes gesagt werden soll. Wie werden in modernen...