Ausblick auf eine neue Zeit
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-86774-748-6
Verlag: Murmann Publishers
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der 24. Februar 2022 markiert eine tiefgreifende Zäsur in der Europäischen Geschichte – zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg findet auf europäischem Boden wieder ein Angriffskrieg statt. In einem Staat, dessen Hauptstadt von Berlin weniger weit entfernt ist als Rom. In einer Zeit, in der im Integrationsprozess – Stichwort Brexit und Populismus – ohnehin offensiv auf die Bremse getreten wird. Fest steht aber: Allein die Nationalstaaten werden die Herausforderungen der 2020er-Jahre nicht lösen können. Eine immer engere Zusammenarbeit der europäischen Staaten ist in Krisenzeiten wichtiger als je zuvor. Wie für Sicherheit sorgen, wenn auf europäischem Boden wieder Angriffskriege geführt werden? Wie die Partnerschaft mit den USA gestalten, wenn Amerikas starke populistische Strömungen deren Fundamente in Frage stellen? Wie mit den immer weiter anwachsenden Migrationsbewegungen umgehen? Wie realistisch ist es im Lichte nationalstaatlicher Polarisierung überhaupt, in zentralen Politikfeldern die nationale Arena zu überwinden und Problemlösungen föderal-europäisch zu denken?
Mit Beiträgen von Sigmar Gabriel, Horst-Heinrich Brauß, Petra Bendel, Juli Zeh, Piotr Buras, Anna-Katharina Mangold, Daniela Schwarzer und Klaus Regling.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen Nationale und Internationale Sicherheits- und Verteidigungspolitik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Europäische Union, Europapolitik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Außenpolitik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Studien zu einzelnen Ländern und Gebieten
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Current Affairs
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politik: Sachbuch, Politikerveröffentlichungen
Weitere Infos & Material
Auf der Suche nach einer neuen Weltordnung
Russland, China und die Bedrohung der internationalen Normen: Wo bleibt Europa?
Von Sigmar Gabriel Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat nicht nur Folgen für die Europäische Union und für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands. Vielmehr ist dieser Krieg der sichtbarste und auch bislang tragischste Beleg dafür, dass sich die Welt in einem dramatischen Wandel befindet: Die alte Weltordnung, geprägt durch die Erfahrungen zweier Weltkriege, die in Deutschland und Europa ihren Ausgang nahmen, und gestaltet im Wesentlichen durch die Vereinigten Staaten von Amerika, verliert ihre bestimmende Kraft. Mit etwas Verspätung ist diese von den demokratischen Industriestaaten geprägte »Wilsonian Era« nun zu Ende gegangen, und mit ihr endet auch die Dominanz Europas in der Welt. Immerhin gut 600 Jahre lang war unser Kontinent – im Guten wie im Schlechten – Ursprung weltweiter Entwicklungen. Europa war Ausgangspunkt der Entdeckung Amerikas wie auch von Sklaverei und Kolonialismus, die Philosophie der Aufklärung hat hier ihren Ursprung ebenso wie zwei Weltkriege, Völkermord und der Holocaust. Nicht mehr der Atlantik und Europas enge Verbindung zum amerikanischen Kontinent bilden das Gravitationszentrum der Welt, sondern immer mehr der Indopazifik. Länder wie China, Indien oder die Staaten Afrikas waren an der Entstehung der alten Weltordnung als Folge zweier Weltkriege nicht beteiligt. Die europäischen Mächte und die USA nannten diese Regionen »Dritte Welt« und blickten bestenfalls mit einem paternalistischen Blick auf sie herab. Längst erheben diese Länder den Anspruch, weit mehr zu sein als ein günstiger Marktplatz für die ökonomischen Interessen ihrer früheren Kolonialherren. Und das zu Recht, denn allein die Nationen des Indopazifiks repräsentieren rund 60 Prozent der Weltbevölkerung und 60 Prozent des Weltsozialprodukts, rund zwei Drittel des globalen wirtschaftlichen Wachstums, sind dieser Region zuzurechnen. Und auch in Afrika zeigen sich seit der Bildung der Freihandelszone erste Ansätze eines geopolitischen Selbstbewusstseins. Dort haben insbesondere die ehemaligen europäischen Kolonialmächte großen Anteil an der gescheiterten Dekolonisierung, und sie haben lange keine passende Antwort gefunden. Wir sind also Zeitzeugen einer tektonischen Verschiebung der Machtachsen unserer Welt – der wirtschaftlichen und der machtpolitischen. Diese Verschiebung bringt zugleich eine neue politische Konkurrenz und Rivalität: Autoritäre Gesellschaftsmodelle konkurrieren erneut mit den Ideen liberaler Demokratien. Der rasante ökonomische Aufstieg Chinas stellt die Gewissheit der liberalen Demokratien infrage, derzufolge letztlich individuelle Freiheitsrechte und eine liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung die zentralen Voraussetzungen für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg sind. Auf die spätestens seit dem Zerfall der Sowjetunion existierende Unipolarität der Weltordnung mit den USA als globalem Hegemon folgt nun nicht etwa ein multipolares Zeitalter, sondern eine neue Bipolarität zwischen autoritären und liberalen demokratischen Staaten. Die Vereinigten Staaten von Amerika und China sind dabei die stärksten und sichtbarsten Kontrahenten. Auf die existierende Unipolarität der Weltordnung mit den USA als globalem Hegemon folgt kein multipolares Zeitalter, sondern eine neue Bipolarität zwischen autoritären und liberalen demokratischen Staaten mit den USA und China als stärksten und sichtbarsten Kontrahenten. 1. Das Ende des »deutschen Zeitalters« in Europa? Insbesondere für Westeuropa geht ein bequemes Zeitalter zu Ende. Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege im 20. Jahrhundert sollten sich die (West-)Europäer vor allem auf sich selbst konzentrieren. Die Formel »Americans in, Russians out, Germans down« machte die Vereinigten Staaten – obwohl ein paar Tausend Kilometer entfernt – zu einer europäischen Macht. Die geopolitischen Interessen wurden – von Frankreich und dem Vereinigten Königreich als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats einmal abgesehen – quasi auf amerikanische Flugzeugträger projiziert. Geopolitische Abstinenz, verbunden mit der Konzentration auf den gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolg, wurde zum Erfolgsrezept Europas. Die »Pax Americana« löste damit die »Pax Britannica« ab und schützte Europa nun einerseits vor sich selbst, andererseits verband sich damit zunehmend die Verantwortung der Vereinigten Staaten, europäische Interessen gegenüber fremden Mächten zu vertreten. Für Europa insgesamt, aber vor allem für Deutschland war dies eine außerordentlich komfortable Position, denn wir konnten uns auf die Entwicklung unserer eigenen ökonomischen und sozialen Leistungsfähigkeit konzentrieren. Vor allem nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Auflösung der Sowjetunion schien sich Europa auf die Vertiefung des Binnenmarktes und die »ever closer union« konzentrieren zu können. Der stärkste Ausdruck dafür war die Schaffung einer Währungsunion und des Euro, der – mit Ausnahme Dänemarks, Schwedens und Großbritanniens – letztlich alle damaligen Mitgliedstaaten der Europäischen Union angehören sollten. Den ökonomisch schwächeren Mitgliedstaaten half die gemeinsame Währung, weil sie von der währungspolitischen Stärke der D-Mark profitierten und sich dadurch die Refinanzierungskosten für die öffentliche Schuldenaufnahme reduzierte. 2. Vom europäischen Deutschland zum deutschen Europa Weit stärker aber noch zog die Bundesrepublik Deutschland einen Nutzen daraus. Denn einerseits konnten ihre Nachbarländer die eigene Wettbewerbsfähigkeit im Export von Waren und Gütern nicht mehr wie bisher durch Abwertungen ihrer nationalen Währungen gegenüber der starken D-Mark fördern. Andererseits beförderte der Euro die exportorientierte deutsche Fertigungsindustrie, deren globaler Erfolg zu D-Mark-Zeiten sicher weitaus schwieriger zu erreichen gewesen wäre. Ein kurzer Blick zurück zeigt, wie sehr die Bundesrepublik als stärkste Wirtschaftsnation innerhalb der Europäischen Union profitierte: Deutschland ist nach den USA, China und Japan die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Schaut man sich an, woher dieser Erfolg stammt, was die Leistungsfähigkeit des Landes und die Grundlagen seiner ökonomischen Dynamik ausmachen, dann zeigt sich schnell die Besonderheit des deutschen Modells: Als stärkste Volkswirtschaft Europas umfasst der Exportanteil Deutschlands am Bruttoinlandsprodukt fast 50 Prozent. Nur Schweden kommt mit rund 45 Prozent auf eine ähnlich hohe Abhängigkeit seines wirtschaftlichen Erfolgs vom Export. In anderen großen Volkswirtschaften in Europa, wie beispielsweise Italien und Frankreich, beträgt der Exportanteil dagegen nur knapp 30 Prozent, in den USA lediglich etwas mehr als zehn Prozent. Auch in den anderen beiden großen Volkswirtschaften liegt er niedriger: in China unter 20 Prozent, in Japan bei rund 15 Prozent. Kein anderes Land in der Welt profitiert so sehr von den internationalen Wertschöpfungsketten. Der stetige Erfolg der deutschen exportorientierten Industrie hatte zur Voraussetzung, dass staatliche Interventionen gegen arbeitsplatzgefährdende Rationalisierungen weitgehend unterblieben. Der Effizienzdruck des internationalen Wettbewerbs wurde in Deutschland – anders als in anderen europäischen Mitgliedstaaten – nie abgemildert oder als Problem empfunden, sondern im Gegenteil durch staatliche Forschungs- und Innovationsförderung eher noch stärker unterstützt. Staatliches Handeln war und ist dagegen darauf ausgerichtet, die arbeitsmarktpolitischen Folgen dieser »Produktivitätspeitsche« auszugleichen und aufzufangen. Rückblickend kein Wunder also, dass daraus in zunächst 40 Jahren stetiger Wohlstandssteigerung in Westdeutschland und dann in noch einmal 30 Jahren Aufschwung im wiedervereinigten Land im Selbstverständnis der Deutschen so etwas wie ein »Modell Deutschland« wurde. Ein Vorbild, dem – so jedenfalls das Credo deutscher Politik – andere in Europa nur nacheifern müssten, um ähnliche Erfolge auch in ihren Ländern möglich zu machen. Hatte der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl die Währungsunion noch als Mittel zum Zweck für den Einstieg in eine »politische Union« verstanden, wurde nun die Währungsunion selbst zum eigentlichen Zweck. Kohl, der »Kanzler der Einheit«, meinte mit »Einheit« nie nur die deutsche, sondern immer auch die europäische. Seine Idee einer »politischen Union« Europas sollte dauerhaften Frieden nach innen und zugleich ein größeres gemeinsames globales Gewicht nach außen sichern. In diesem Sinne stellte das »europäische Deutschland« seine wirtschaftliche und politische Stärke in den Dienst dieser Idee. Mit der Zeit wurde daraus schleichend das »deutsche Europa«. Denn da aufgrund des gemeinsamen Euro Währungsabwertungen dem Instrumentarium nationaler Wirtschaftspolitik entzogen waren, blieben dem auf Export geeichten Modell nur die sogenannten »inneren Abwertungen« – eine euphemistische Umschreibung für Reallohnsenkungen, Rentenkürzungen und den Abbau kostenintensiver sozialer Leistungen. Alle sollten so werden »wie wir«. Aus der ursprünglichen europäischen Balance Europas zwischen Frankreich als politischer Führungsnation und Deutschland als ökonomischem Motor erwuchs im Rahmen der Währungsunion das »Modell Deutschland« als politisches und wirtschafliches Vorbild für die gesamte europäische Entwicklung. Da aufgrund des gemeinsamen Euro Währungsabwertungen nicht mehr möglich waren, blieben dem auf Export geeichten Modell nur die »inneren Abwertungen« – kurz: Reallohnsenkungen, Rentenkürzungen und Abbau...