Berichte zur Lage der Nation 2024
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-86774-811-7
Verlag: Murmann Publishers
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vor diesem Hintergrund stellen sich wichtige Fragen neu: Wie definiert sich die »nationale Identität« Deutschlands heute? Wer sind »die Deutschen« – nach Jahrzehnten der Zuwanderung – überhaupt, was eint und was unterscheidet oder spaltet sie gar? Welche Werte leiten unsere Gesellschaft, welche Rolle spielen maßgebliche Institutionen? Welche Vorstellungen haben wir von einer guten Zukunft, für uns und für das Land?
Mit Essays von Ronald Reng, Heinz Bude, Marlene Knobloch, Klaus Mertes, Andreas Voßkuhle, Serap Güler, Marina Henke, Verena Pausder und Michael Vassiliadis.
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Zu diesem Buch
Von Thomas Mirow Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Diese Fragen werden in Deutschland gerade wieder oft gestellt – und Antworten fallen so schwer wie lange nicht. Grundstürzende Ereignisse und Entwicklungen haben auch unsere Gesellschaft in den vergangenen 20 Jahren kräftig durchgeschüttelt: islamistischer Terror und der drohende Zusammenbruch des Weltfinanzsystems, Eurokrise und Inflation, millionenfache Zuwanderung und eine alle Vorstellungen sprengende, weltweite Pandemie, blutige Kriege in der Ukraine wie im Nahen Osten, die Gefährdung der Natur und ein bedrohlich voranschreitender Klimawandel, eine durch künstliche Intelligenz noch einmal stark beschleunigte digitale Transformation, die sich nicht auf die Wirtschaft beschränkt, sondern so gut wie alle Lebensbereiche erfasst. Das – auch nach der Wiedervereinigung – immer wieder erfolgreich erneuerte „Modell Deutschland“ wirkt heute ausgelaugt. Ermutigende, glaubwürdige Zukunftsperspektiven aus Politik und Wirtschaft werden weithin vermisst. Wo, so wird sorgenvoll gefragt, sind die neuen, unseren Wohlstand sichernden Wachstumsmotoren, die an die Stelle dessen treten könnten, was definitiv verloren scheint: preiswerte Energie aus Russland, liberalisierter Freihandel rund um den Globus, die lange kaum zu stillende Nachfrage nach hochwertigen Industriegütern aus China, eine auf Ingenieurskunst basierende Exzellenz in Maschinen- und Motorenbau? Damit einher geht die Frage nach dem, was in einer solchen Phase der Umbrüche unsere Gesellschaft zusammenhalten kann. Über Jahrzehnte verlässliche Stabilitätsanker wie die deutschen Volksparteien, Gewerkschaften, Kirchen, öffentlich-rechtlichen Medien haben an Kraft spürbar verloren, vermögen es immer weniger, breite Bevölkerungsschichten dauerhaft an sich zu binden, verlässliche Orientierung zu bieten. Währenddessen erweisen sich immer wirkmächtigere „soziale Medien“ auch hierzulande zunehmend als das Gegenteil dessen, was der Begriff versprach. Vermeintliche Gewissheiten des deutschen Selbstbildes erodieren. Einigender, selbstbewusster Stolz auf handfeste Erfolge deutscher Tüchtigkeit, auch auf den gemeinschaftlichen Aufbau eines leistungsfähigen Sozialstaats, zerbröselt. Kaputte Straßen, defekte Brücken, eine marode und unzuverlässige Bahn werden als Zeichen eines allgemeinen Niedergangs wahrgenommen. Grundlegende Zweifel und pauschale Kritik an unserem Gemeinwesen insgesamt sind unüberhörbar. Verunsicherung und Zukunftsängste, zahlreiche Studien belegen es, nehmen stark zu, gerade auch bei Jüngeren. Nicht allen ist nach Schwarzmalerei zumute. Die Hitzigkeit und hochgradige Erregung, mit denen gerade auch an wohlsituierten, bürgerlichen Tischen über die politische Lage diskutiert wird, kommen manchen Deutschen reichlich überzogen vor. Ihnen ist durchaus bewusst, dass das Schicksal es doch recht gut mit ihnen meint, ihr Land ihnen noch immer viel zu bieten hat und über große Stärken verfügt, etwa in der beruflichen Bildung oder mit der öffentlichen Forschungsförderung, um die uns andere Länder aus gutem Grund beneiden. Gibt es also überhaupt ein reales, fassbares „Wir“ in einer so ausdifferenzierten, modernen Gesellschaft wie der deutschen, mit allen ihren Unterschieden – und in Teilen auch Gegensätzen – zwischen Stadt und Land, West und Ost, Jungen und Älteren, Alteingesessenen und Zugewanderten, Gewinnern und Verlierern des globalen Wettbewerbs? Macht also die Suche nach einer „nationalen Identität“ der Deutschen heute, in der Mitte der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts, wirklich Sinn, oder sollten wir uns (einstweilen) mit einer wenig gemeinschaftlich organisierten, höchst fluiden, im besten Fall auf wechselseitige Akzeptanz verpflichteten Pluralität zufriedengeben? Sind, so ist in diesem Zusammenhang zu fragen, die historischen Erfahrungen der Deutschen (in West und in Ost) noch prägend genug für ein gemeinsames Selbstverständnis? Reicht der Fundus an verbindenden Werten? Oder lassen sich auch heute die Deutschen einigende Vorstellungen von einer guten Zukunft, für sich wie für das Land, erkennen? Antworten hierauf sind gewichtig, denn verlässliches politisches Handeln und ein selbstbewusstes Agieren in einer polyzentrischen, wenig geordneten Welt erscheinen ohne ein Mindestmaß an nationaler Identität schwer vorstellbar. Deshalb möchte die Deutsche Nationalstiftung, nicht zuletzt mit der Vorlage dieses neuen Bands der Berichte zur Lage der Nation, wie es in ihrer Gründungssatzung heißt, „zu einer nationalen Identität in einem friedlichen, weltoffenen Deutschland beitragen“. Zu den festen Säulen des deutschen Selbstverständnisses nach 1945 zählte über Jahrzehnte das „Nie wieder“ als zentrale Lehre aus Krieg und Holocaust. Natürlich waren die Vorstellungen von dem, was „nie wieder“ geschehen sollte, durchaus vielfältig, zumal aus west- und aus ostdeutscher Perspektive. Einiges blieb im Ungefähren – und veränderte sich im Laufe der Jahrzehnte weiter. Immerhin konnten dort, wo freie Wahlen möglich waren, rechtsextreme Parteien lange Zeit nur kurzfristig Erfolge erzielen, um anschließend wieder in der Versenkung zu verschwinden. Das Tabu hielt viele Jahrzehnte stand. Heute nicht mehr. Eine rechtspopulistische, partiell gesichert rechtsextreme Partei erzielt nahezu überall beträchtliche Wahlerfolge und hat sich insbesondere im Osten Deutschlands fest etabliert. Nur zu Teilen wird sie aus – möglicherweise vorübergehendem – Protest gegen die „Etablierten“ gewählt. Viele ihrer Anhängerinnen und Anhänger unterstützen aus voller Überzeugung die von ihr vertretenen radikalen, revisionistischen, fremdenfeindlichen und europakritischen Positionen, die sie selbst unter ihresgleichen in der EU weitgehend isolieren. Schwer Erträgliches ereignete sich auch auf anderem Parkett: Nach dem furchtbaren Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem dadurch ausgelösten Gaza-Krieg wurden auch deutsche Universitäten und ihr Umfeld zum Schauplatz skandalöser antisemitischer Misstöne. Wo Raum gewesen wäre für reflektierte Kritik an der von extremistischen Kräften getragenen Regierung Israels, an ihrem Vorgehen in Gaza, an einer immer zweifelhafteren Siedlungspolitik, wurden plumpe Parolen gerufen. Aggressive „Positionen“ und die fehlende Verantwortlichkeit der zuständigen Instanzen beschädigten wichtige Kulturtreffen unseres Landes. Die von allen demokratischen Kräften gemeinsam getragene und bis dahin nur von rechts außen denunzierte deutsche „Erinnerungskultur“ wurde mit dem schändlichen Hinweis infrage gestellt, das Gedenken an die Shoah und der vorrangige Kampf gegen Antisemitismus seien eine endlich abzuschüttelnde deutsche Marotte. Ein allumfassendes Bild deutscher Identität ist vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten. Auch unsere Autorinnen und Autoren, aus verschiedenen Generationen stammend und mit höchst unterschiedlicher Expertise ausgestattet, können sich der äußerst komplexen Frage, was heute die deutsche Identität ausmacht, nur tastend nähern. In seinem einleitenden Beitrag geht Heinz Bude, einer der führenden deutschen Soziologen unseres Landes, den gesellschaftlichen Veränderungen in den westlichen Gesellschaften auf den Grund und analysiert die tieferen Ursachen für den weitreichenden Vertrauensverlust in Politik und Wirtschaft. Als Reaktion auf die entstandene Lage empfiehlt er „eine gezielte Beratschlagung zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik“ zur Erarbeitung eines „Designs von Szenarien über die Rolle von Deutschland als Gesellschaft und Nation in Europa und von Europa als Staatenbund und Wirtschaftsgemeinschaft in der Welt“. Lange bevor sich die Deutschen in ihren vielen Kleinstaaten 1870 in einem „Reich“ zusammenfanden, definierten sie ihre Identität über die deutsche Kultur und die deutsche Sprache. Marlene Knobloch, renommierte Autorin und viel beachtete Stimme aus der „Millennial-Generation“, zeichnet diesen historischen Weg nach und analysiert auf dieser Grundlage Deutschlands „hochempfindliche Beziehung“ zu seiner Sprache heute. Die einzigartige Dichte öffentlicher kultureller Einrichtungen unseres Landes setzt die Autorin auch in Bezug zum Erfolg unserer Demokratie. Andreas Voßkuhle, langjähriger Präsident des Bundesverfassungsgerichts (und heute Präsident des Senats der Deutschen Nationalstiftung) beleuchtet und bewertet den Begriff des „Verfassungspatriotismus“ 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes. Er stellt die Idee des „Verfassungspatriotismus“ auf den Prüfstand und geht der Frage nach, wie sehr uns diese dabei helfen kann, mit den Herausforderungen der Gegenwart – Migration, Pandemie, Verfassungsfeinde, „Klimakleber“, Krieg – erfolgreich umzugehen und so den...