Berichte zur Lage der Nation
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-86774-708-0
Verlag: Murmann Publishers
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In "Demokratie in Bedrängnis: Warum wir jetzt gefragt sind" greifen deshalb führende europäische Köpfe diese Spannungsfelder auf und formulieren klare Empfehlungen für die Stärkung unserer Demokratie – von den Möglichkeiten der Digitalisierung für die Demokratie über die Hypotheken autoritärer Vergangenheiten bis hin zur Bedeutung von Kultur für unser demokratisches Zusammenleben.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Systeme Demokratie
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politik: Sachbuch, Politikerveröffentlichungen
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Current Affairs
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Studien zu einzelnen Ländern und Gebieten
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Wenn es ernst wird
Stärken und Schwächen der Demokratie im Kampf gegen die Pandemie
Von Laura Spinney So merkwürdig es auch klingen mag, aber die Frage, ob man bei Ausbruch einer Pandemie besser in einer Demokratie, einer Autokratie oder irgendetwas dazwischen leben sollte, ist alles andere als entschieden. Natürlich gibt es abgesehen von gesundheitlichen noch viele andere Gründe, sich, sofern man die Wahl hat, für ein Leben in einer Demokratie zu entscheiden. Nimmt man jedoch speziell das Verhältnis von Demokratie und Gesundheit, die beide schwer zu messen sind, in den Blick, liefern neueste Daten dazu einige hilfreiche Erkenntnisse. Auf den ersten Blick: Vorteil Demokratie In Zeiten ohne Pandemie ist die Allgemeinheit in demokratischen Staaten mit allgemeinem Wahlrecht, freien Wahlen und unabhängigen Medien im Vergleich gesundheitlich eher besser aufgestellt. Demokratien sind, wie unter anderem der Ökonom Daron Acemoglu vom Massachusetts Institute of Technology gezeigt hat,1 tendenziell wohlhabender als nichtdemokratische Staaten und investieren mehr in Humankapital und Gesundheit. Und diese Investitionen führen nach Thomas Bollyky vom amerikanischen Council on Foreign Relations 2 nachweislich, wenn auch nicht auf direktem Wege zu besseren Gesundheitswerten. Tendenziell weisen Demokratien eine höhere Lebenserwartung auf (lässt man die immer noch andauernde HIV-Pandemie einmal außer Acht) und eine geringere Belastung mit chronischen und nicht übertragbaren Krankheiten wie Herzkrankheiten und Schlaganfällen. Gleichwohl kann man nicht ignorieren, dass in letzter Zeit einige der beeindruckendsten Erfolge im öffentlichen Gesundheitswesen in Staaten erzielt wurden, denen man nicht gerade eine florierende Demokratie bescheinigen kann. In Äthiopien und Myanmar zum Beispiel ist die allgemeine Lebenserwartung seit 1996 um über zehn Jahre gestiegen. Wie kommt das? Bollyky zufolge liegt es hauptsächlich daran, dass in diesen Ländern übertragbare Krankheiten, insbesondere infektiöse und parasitäre Kinderkrankheiten, erfolgreich eingedämmt wurden. Ein Erfolg allerdings, den Regierungen und internationale Hilfsprogramme mit gezielten Kampagnen relativ einfach erreichen können. Demgegenüber sind nicht übertragbare Krankheiten schwerer zu bekämpfen, da dies stabile, langfristige Investitionen in das Gesundheitswesen erfordert. Viele Länder befinden sich heute insofern an einem Wendepunkt: Da Krankheiten, gegen die man mit einfacheren Mitteln vorgehen kann, verschwunden sind, müssen sie, um weitere Fortschritte zu erzielen, Strategien ändern und mehr Ressourcen einsetzen. Und dies zu realisieren, liegt ohne Unterstützung durch demokratische Institutionen möglicherweise außerhalb ihrer Möglichkeiten. Demokratien sind im Hinblick auf die Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger gegenüber Autokratien im Vorteil – zumindest, wenn keine Pandemie ausbricht. Alles in allem sind Demokratien also im Hinblick auf die Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger gegenüber Autokratien offenbar im Vorteil – zumindest in »normalen« Zeiten, also ohne Pandemie. Ungesunde Demokratie? Doch gilt dies auch in Pandemiezeiten? Doch vor der Beantwortung dieser Frage scheint der Hinweis erforderlich, dass längst nicht alle Demokratien dieser Welt ihrerseits wirklich »gesund« sind. Über die Zukunft der Demokratie gehen die Meinungen auseinander. Manche Beobachter – nennen wir sie die »Optimisten« – weisen darauf hin, dass die Zahl formeller Demokratien weltweit wächst, auch wenn sich dieser Trend in letzter Zeit verlangsamt hat. Andere – nennen wir sie die »Pessimisten« – sehen diese Verlangsamung bereits als Vorbote einer Trendumkehr. Sie verweisen auf einen weit verbreiteten, langfristigen Vertrauensverlust in politische Institutionen in Ländern wie Ungarn, Polen und die Türkei, die man lange wie selbstverständlich für demokratisch hielt. In einigen anderen Staaten wie Venezuela, Russland und Thailand sei die Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten geradezu implodiert. »Manche Demokratien sterben nicht durch die Hand von Generälen, sondern durch die ihrer gewählten Anführer«, schreiben die Harvard-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem 2018 erschienenen Buch How Democracies Die. »[Dies sind] Präsidenten und Premierminister, die eben jenen Prozess untergraben, durch den sie an die Macht gekommen sind.« Die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) unterstützt diese These und schätzt,3 dass im Jahr 2020 weltweit 50 Journalisten getötet wurden, was dem Rückgang im letzten Jahrzehnt entspricht, aber viele dieser Vorfälle ereigneten sich an Orten, wo man es nicht unbedingt erwarten würde: »Während die Zahl der in Kriegsgebieten getöteten Journalisten weiter sinkt«, so RSF, »werden mehr Journalisten in Ländern ermordet, in denen es keinen Krieg gibt.« Hinzu kommt, dass in Zeiten von Pandemien die soziale Ungleichheit tendenziell verschärft wird, zumindest klarer hervortritt und der lang gehegte Glaube, dass die Demokratie die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft verringert, in den letzten Jahren immer stärker infrage gestellt worden ist. Das Verhältnis zwischen Demokratie und sozialer Ungleichheit ist komplex und vielfältig, und, wie viele kluge Menschen schon betont haben, ist Demokratie immer fragil. Sie kann von Eliten »gekapert« werden. Sie kann gezielt die Mittelschicht auf Kosten anderer bevorzugen. Und sie kann neue wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnen, die, anders als man vielleicht vermuten würde, die sozioökonomische Spaltung weiter vertiefen. Acemoglus Forschungsgruppe am MIT kam im Jahr 2013 zu dem Ergebnis, dass aus all diesen Gründen Demokratie im Hinblick auf soziale und materielle Ungleichheit von ambivalenter Wirkung ist und unter Umständen sogar bestehende Ungleichheiten noch verstärken kann.4 Als sich Ende 2019 Covid-19 ankündigte, lebten etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung in Demokratien – 200 Jahre zuvor waren es nur ein Prozent. Die soziale Ungleichheit war 2019 weitaus geringer als knapp 100 Jahre zuvor, am Vorabend des Ersten Weltkriegs und dann der Grippepandemie von 1918, auch wenn sie nach einer Jahrzehnte währenden Korrektur ab den 1980er-Jahren wieder gewachsen war. Ebenfalls ab den Achtzigern vernetzte sich die Welt über den internationalen Handel immer stärker. Auch wenn diese Globalisierung im Großen und Ganzen als positive Entwicklung gilt – sie hat vielen geholfen, sich aus schlimmster Armut zu befreien –, so hat sie doch die Kluft zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden weiter vergrößert. Das Kapital kann nun frei und ungehindert in der Welt zirkulieren, was viele Reiche und transnationale Unternehmen zur Steuerflucht anregt und von Investitionen in jene Länder, die die meisten Arbeitskräfte bereitstellen, abhält. Im Gegenzug werden diese daran gehindert, faire Steuersysteme einzuführen und einen starken Sozialstaat aufzubauen, der beispielsweise in das Gesundheitswesen und die entsprechende Infrastruktur investiert. Zugleich hat die Globalisierung soziale Spannungen innerhalb der reicheren Länder geschürt, deren Arbeitnehmer mit den billigen Arbeitskräften aus den ärmeren Ländern konkurrieren müssen. Pandemien treten meist auf, wenn intensive globale Vernetzung und starke soziale Ungleichheit zusammenfallen. Was lehren 15 Pandemien aus 500 Jahren? Es gibt eine (zugegeben recht spekulative) Theorie,5 dass Pandemien meist in Zeiten intensiver globaler Vernetzung und starker sozialer Ungleichheit aufgetreten sind, auch solche, die weiter zurückliegen. Schätzungen zufolge gab es in den vergangenen 500 Jahren 15 Pandemien. Die Antoninische Pest ab 165 v. Chr., die das Ende sowohl des Römischen als auch des Chinesischen Reichs einläutete, brach in einer Zeit aus, als in diesen beiden Gesellschaften eine extrem soziale Ungleichheit herrschte und die unstillbare Nachfrage der Reichen nach exotischen Luxusgütern für einen lebhaften internationalen Handel auf der Seidenstraße sorgte. Zugleich weiteten sich beide Imperien durch Kriege aus. Händler wie Soldaten zogen kreuz und quer durch die Kontinente und schleppten, ohne es zu ahnen, tödliche Keime in die großen Städte beider Reiche ein. Dorthin waren längst die Ärmsten der Armen auf der Suche nach Arbeit geströmt, die sich aufgrund ihrer Armut und ihrer ohnehin bereits mangelhaften Gesundheit als extrem anfällig für diese Keime erwiesen. Man schätzt, dass die Spanische Grippe von 1918 weltweit 50 bis 100 Millionen Menschen das Leben kostete, weit mehr als der Erste Weltkrieg mit schätzungsweise 18 Millionen Opfern. Eine ähnliche Konvergenz von sozialer Krise, internationaler Vernetzung und dem globalen Ausbruch einer tödlichen Krankheit können wir bei der Justinianischen Pest im 6. Jahrhundert beobachten, beim Schwarzen Tod im 14. Jahrhundert (der mit dem Hundertjährigen Krieg zusammenfiel) und wieder 1918, als in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs die schlimmste Pandemie der jüngeren Geschichte ausbrach. Man schätzt, dass der Schwarze Tod zwischen 30 und 60 Prozent der europäischen Bevölkerung auslöschte und damit weit mehr als der Hundertjährige Krieg, und die Spanische Grippe von 1918 weltweit 50 bis 100 Millionen Menschen das Leben kostete, weit mehr als der Erste Weltkrieg mit schätzungsweise 18 Millionen Opfern. Die faszinierende Theorie, begründet von dem Historiker Peter Turchin, nach der Pandemien von gleichzeitigen...