E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Reihe: Die drei !!!
ISBN: 978-3-440-12870-1
Verlag: Kosmos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Feuchte Hände
Im Inneren des WCs blieb alles ruhig. Justus’ Ohren waren wie eine Parabolschüssel auf die Damentoilette gerichtet. Er vernahm nur das Klappern von Dr. Millers Sandalen. Dann herrschte für einige Sekunden Stille, bis Justus plötzlich die Ärztin hörte. Dr. Miller sprach zwar leise, doch Justus’ geschulte Ohren konnten jedes Wort verstehen. »Ich kann Ihre Gefühle gut nachempfinden, junge Frau. Man sollte selbstverständlich in jedem Fall einer solchen Sache nachgehen. Bei dieser Patientin verhält sich die Lage jedoch etwas anders.« »Was soll das heißen? Leidet die Patientin unter Verfolgungswahn?« Die Ärztin räusperte sich. »Das ist nicht so einfach zu erklären. – Wie Sie sehen, befindet sich in diesem Raum nichts, was für eine Damentoilette ungewöhnlich wäre. Und schon gar nichts, was auf eine fremde Stimme schließen ließe. Wir können also beruhigt sein. Und Dr. Franklin ist eine anerkannte Expertin, geradezu eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Sie wird der Patientin sicher helfen können. Bisher hat sie schon große Fortschritte erzielt, das müssen Sie mir glauben.« »Von fremden Stimmen kann hier aber nicht die Rede sein.« Die junge Mutter schien sich mit Dr. Millers Erklärung nicht so schnell zufrieden zu geben. »Erwähnte die Dame nicht, dass es die Stimme ihrer Schwester war?« »Junge Frau, wer hier, aus welchen Gründen auch immer, bei wem in Behandlung ist, darf ich leider nicht hinausposaunen. Auch Ihnen gegenüber nicht. Es tut mir Leid, aber das waren Ihre Worte. Wollte ich genauer auf Mrs Holligans Probleme eingehen, dann würde ich das Vertrauen unserer Patienten verletzten. Ich hoffe auf Ihr Verständnis. Wie Sie außerdem festgestellt haben, finden sich keinerlei Anzeichen, dass hier ein Unbefugter, der die Patienten erschreckt, versteckt sein könnte. Das wäre ja lachhaft. Hier ist nichts! Ich kann Ihnen nur empfehlen, dieser Dame nicht allzu viel Glauben zu schenken. Sie ist psychisch krank. Mehr werde ich dazu nicht sagen.« Justus warf Mrs Holligan einen raschen Blick zu und hoffte, dass die alte Dame, die sich inzwischen zu ihm gesellt hatte, diese abfällige Bemerkung nicht gehört hatte. »Und?« Skeptisch und erwartungsvoll zugleich blickte Mrs Holligan in das Gesicht der jungen Mutter, als diese zurück in die Arztpraxis trat. Zu mehr als einem Schulterzucken war die Frau jedoch nicht fähig. Zu gern hätte Justus die Räumlichkeiten der Damentoilette selbst inspiziert, doch in diesem Moment trat Dr. Miller aus der Tür und zog sie mit einem demonstrativen Ruck hinter sich ins Schloss. Dann wandte sie sich an die Sprechstundenhilfe, die hinter ihrem Tresen noch immer mit der Patientenschlange beschäftigt war. »Mrs Petersen, geben Sie Mrs Holligan für heute Nachmittag einen Termin bei Dr. Franklin. Sektor sieben blau.« Mit diesen Worten verschwand die Ärztin hinter einer der vielen Türen der Gemeinschaftspraxis. Mrs Holligan nahm schweigend den Zettel entgegen, den ihr die Sprechstundenhilfe über den Tresen reichte. Mit langsamen Bewegungen steckte sie ihn in ihre Handtasche und schlurfte durch den langen Flur dem Ausgang entgegen. Auch hier standen an der Seite einige Stühle. Mit einem Stoßseufzer ließ sie sich nieder und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Justus konnte seinen Blick nicht von der alten Dame lösen. Sie war ungefähr siebzig Jahre alt. Ihre grauen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden und die Hände, die sich noch immer schützend um ihr Gesicht legten, waren runzlig. Mrs Holligan schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Justus ging langsam auf sie zu und setzte sich neben sie. »Wie geht es Ihnen, Madam?«, fragte er und fand seine Frage angesichts der vorangegangenen Situation im selben Moment völlig unangebracht. Deshalb fügte er schnell hinzu: »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?« Mrs Holligan ließ ihre Hände in den Schoß fallen und sah Justus resigniert an. »Mir kann scheinbar niemand helfen. Vermutlich werde ich einfach nur alt. Das muss ich akzeptieren.« Justus wollte etwas erwidern, doch die Dame winkte mit einer müden Handbewegung ab. »Ich war immer Realistin«, sagte sie. »Und dem Arzt, in dessen Obhut man sich begibt, sollte man auch vertrauen. Das Alter ist eine vertrackte Sache, junger Mann. Wenn man so jung ist wie du, macht man sich noch wenig Gedanken darüber. Wozu auch? Mit der Zeit erst schleichen sie sich ein, die kleinen Wehwehchen, die einem den Alltag erschweren. Zuerst ergrauen die Haare, das Gehen fällt einem schwer, die Sehkraft wird schwächer, und nach und nach fallen die Zähne aus.« Justus überkam ein Frösteln. Er war unangenehm berührt über diese schonungslose Offenheit der alten Dame. »Ich will mich aber nicht beschweren«, fügte sie hinzu. »Denn noch lebe ich.« Aus seiner Neugier hatte Justus nie einen Hehl gemacht. Im Gegenteil. Für ihn war es die wirksamste Methode Menschen besser zu verstehen. Doch nun entschied er, dass angesichts der vorherrschenden Situation Zurückhaltung angebracht war. Er konnte Mrs Holligan nicht einschätzen. Die Tatsache, dass die Dame in dieser Praxis in psychotherapeutischer Behandlung war, hemmte ihn, wie gewohnt mit seinen bohrenden Fragen in die Offensive zu gehen. Mrs Holligan schien seine Gedanken erraten zu haben. »Warum schweigst du?«, fragte sie und blickte Justus mit klaren Augen an. »Du traust dich nicht, mich nach meinem Leiden zu fragen. Dabei hast du doch ebenso gut wie ich verstanden, was Dr. Miller dieser Frau im Waschraum über mich erzählt hat.« »Allerdings«, gab er offen zu. »Mein Körper baut zwar rapide ab, aber mein Gehör funktioniert noch fabelhaft. Es ist das Einzige, worauf ich mich noch hundertprozentig verlassen kann. Es war keine Halluzination. Ich weiß genau, was ich gehört habe, auch wenn die Ärzte hier anderer Meinung sein mögen. Verfolgungswahn nennen sie es.« Mrs Holligans Stimme nahm langsam einen sarkastischen Ton an. »Wahrscheinlich kann ich noch dankbar sein, dass sie mich nicht umgehend ins Sanatorium eingewiesen und mit Beruhigungsmitteln voll gepumpt haben.« »Diese Stimme, Madam«, Justus kam sich groteskerweise in diesem Moment selbst wie ein Psychologe vor, der versuchte, dem Problem seiner Patientin auf die Spur zu kommen. »Vorhin erwähnten Sie, im Waschraum hätte die Stimme Ihrer Schwester zu Ihnen gesprochen. Ist das richtig?« Mrs Holligan nickte. »Vorausgesetzt, man lässt die Tatsache außer Acht, dass Stimmen nicht ohne ersichtliche Ursache einfach aus dem Nichts ertönen – weshalb waren Sie denn derart aufgebracht?« Die alte Dame sah Justus mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich habe Angst. Große Angst!« Ihre Hände begannen wieder zu zittern. Dann griff sie nach Justus’ Fingern und hielt sie fest umschlossen. »Meine Schwester bedroht mich. Sie will mir etwas antun! Sie terrorisiert mich am Telefon, zerstört mein Haus und hat sogar versucht, mich mit dem Auto zu überfahren. Sie wird keine Ruhe geben, bis ich unter der Erde liege. Letzte Nacht klingelte bei mir das Telefon. Metzla war dran und machte mir unmissverständlich klar, dass mein Ende nun bald gekommen sei.« Justus war froh, als Mrs Holligans feuchte Hände ihn wieder losließen. Er stand auf und zog sein T-Shirt über dem Bauch glatt. »Mrs Holligan«, begann er. »Meiner Ansicht nach ist es gar nicht verwunderlich, dass Sie die Stimme Ihrer Schwester bis hierher aufs Klo verfolgt. Angesichts der Situation, in der Sie sich gerade befinden, finde ich es sogar verständlich. Ich weiß zwar nicht, was Dr. Franklin Ihnen rät, aber ich sehe eine Möglichkeit, den Terroranschlägen und Belästigungen Ihrer Schwester Metzla schnellstens ein Ende zu bereiten und sie anschließend zur Rechenschaft zu ziehen.« »Wie willst du das denn anstellen?« »Waren Sie schon bei der Polizei?« »Ach«, Mrs Holligan winkte müde ab. »Ein Dutzend Mal.« »Sie glauben Ihnen nicht, stimmt’s?« Justus’ Augen begannen zu leuchten. »Sie halten Sie für eine alte, verwirrte Frau, die sich dringendst in psychiatrische Behandlung begeben sollte. Habe ich Recht?« Mrs Holligan schluckte. »So ähnlich, ja.« »Dann darf ich Sie bitten, uns den Fall zu übertragen. Meine zwei Kollegen und ich, wir sind ein Detektivteam. Spezialisiert auf mysteriöse Vorkommnisse und Geheimnisse aller Art. Ich würde es als Privileg ansehen, Ihnen aus dieser Sache herauszuhelfen, damit Sie wieder ruhig schlafen können.« Mit der Hand fuhr Justus in seine hintere Hosentasche und zog daraus eine Visitenkarte hervor. Er reichte sie der alten Dame, woraufhin diese ihre Handtasche öffnete und umständlich ihre Brille hervorkramte. Die Gläser waren aus dickem Glas geschliffen, so dass Mrs Holligans Augen unheimlich vergrössert dahinter hervorglotzten und beim Lesen der kleinen Karte abwechselnd von links nach rechts wanderten. Mrs Holligan war sich der abschreckenden Wirkung ihrer Brille wohl bewusst. Denn nachdem sie den Text auf der Visitenkarte gelesen hatte, gab es für sie nichts Eiligeres, als die Brille von ihrer Nase zu nehmen und in ihrer Handtasche verschwinden zu lassen. »Übernehmt den Fall, Jungs!« Abermals knipste sie ihre Handtasche auf und kramte mit nervös zitternden Fingern einen Zettel und einen Kugelschreiber hervor. »Warte… Ich schreibe euch meine Adresse auf.« Sie legte ihre Handtasche als Schreibunterlage auf ihren Schoß und reichte Justus kurze Zeit später einen Zettel. »Und du meinst wirklich, ihr bekommt meine Schwester zu fassen, bevor sie mir etwas antun kann?« »Den Erfolg können wir...