Mingels | Was alles war | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Mingels Was alles war

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-641-20224-8
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dass sie adoptiert wurde, weiß Susa seit ihrer Kindheit. Es hat sie nie gestört – sie liebt ihre Eltern und wird von ihnen geliebt; daran ändert sich auch nichts, als sie ihre leibliche Mutter Viola kennenlernt, mit der sie nichts zu verbinden scheint. Aber dann erfährt Susa von Brüdern und verspürt eine irritierende Sehnsucht nach ihnen. Und ist der Wunsch, den biologischen Vater kennenzulernen, ein Verrat an ihrem im Sterben liegenden Adoptivvater? Als Susa sich in Henryk verliebt, der zwei Töchter mit in die Ehe bringt, wird die Sache noch komplizierter. Was ist das überhaupt, eine Familie? Was begründet sie? Die Gene? Oder doch die Liebe?
Mingels Was alles war jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Der Brief traf an einem Montagmorgen ein, ich sah kurz auf den Absender und steckte den Umschlag in meine Tasche. Es war warm, die letzten schönen Tage vor dem Winter, wirklich goldenes Licht. Peter, der Hund, hechelte neben mir. Ich öffnete den Brief auf dem Weg zur Arbeit, ich las: Ihre Mutter würde Sie gerne kennenlernen, sie ist Schauspielerin und lebt in Indien. Ich las: Melden Sie sich bei ihr, falls Sie Interesse haben. Der kurze Weg über die Promenade zum Maritimen Museum, Ilka am Telefon hinter dem Infoschalter, ich ging an Maltes Büro vorbei, die Tür stand weit offen, er sah mich und rief, lass uns heute endlich das Paper für die Biological Reviews schreiben!, er rief es mit einer Dringlichkeit, als ob ich ihn die letzten Wochen und Monate daran gehindert hätte. Ich ging in mein Büro, die Tür schloss ich sehr leise hinter mir. Wenn ich Henryk damals schon gekannt hätte, hätte ich ihn jetzt angerufen. Ich hätte gefragt, was mach ich denn bloß?, und er hätte gesagt: Na, was wohl, du schreibst ihr eine Mail. Aber so saß ich nur vor meinem Schreibtisch, Peter darunter, und dachte nach, dann ging ich zu Malte, der an seinem Laptop saß, aufblickte und sagte: Den Titel hab ich bereits – Geschlechterkampf der Würmer! Wenn ich Henryk schon gekannt hätte, hätten wir am Abend darüber gesprochen, über den Brief und die Aussichten, Viola kennenzulernen, über die Frage, wie das für meine Eltern sein würde, ob sie Angst hätten oder im Gegenteil plötzlich keine mehr, weil es, da war ich sicher, so sein würde, wie ich es immer geahnt hatte (kein Aufschrei, keine Heimkehr oder Einkehr), einfach eine Begegnung, das Schließen einer Klammer, die bei meiner Geburt geöffnet worden war. Vielleicht hätten wir auch über die Würmer gesprochen, wie sie einander zu überlisten versuchten, oder er hätte von seinem Tag erzählt, den er wahrscheinlich in der Bibliothek verbracht hätte, in den letzten Zügen seiner Habilitation zum Erlebnisgehalt des Minnesangs oder etwas ähnlich Abseitigem, es muss damals, vor fünf Jahren, ungefähr das gewesen sein, was er machte, aber da es weder ihn für mich gab noch Paula und Rena, somit also niemanden, mit dem ich sprechen oder dem ich vorlesen, dem ich Haare flechten oder Geschichten erzählen konnte, saß ich schließlich vor meinem Computer und schrieb an Viola. Ich habe den Brief vom Jugendamt bekommen, schrieb ich, und ja: Ich würde dich auch gerne einmal treffen. Dann drückte ich auf Senden, und die kurze Nachricht sauste davon, unaufhaltbar, uneinholbar, ich schaltete den Computer aus und ging ins Bett. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich hätte von Henryk geträumt und von den Mädchen, darum wären sie mir schon eigentümlich vertraut gewesen, als ich ihnen dann ein paar Wochen später begegnete, aber so war es nicht. Liebe Susanna, nun hätte ich beinahe Alina geschrieben. Denn so nannte ich dich immer, wenn ich von dir erzählte. Ja, ich habe von dir erzählt. Immer wieder. Alina, die kleine Alina, mit dem Schopf nasser Haare, die ich nur kurz gesehen habe, bevor sie mir von der übereifrigen Krankenschwester weggenommen wurde, einer norddeutschen Kratzbürste sondergleichen, die wahrscheinlich ohne jede Freude durchs Leben kam. Nun ja, weggenommen … Let’s be honest: Ich hatte dich freigegeben, schon Wochen vor der Geburt. Damals wurde man da noch nicht so verständig behandelt, wie es heute wahrscheinlich der Fall ist. Rein ging’s wohl leichter als raus, höhnte eine der Schwestern, als ich in den Wehen lag. Stell dir das vor! Und die Muttermilch, die ich während der ersten Woche jeden Tag ins Krankenhaus brachte, haben sie wahrscheinlich weggeschüttet, kaum dass ich ihnen den Rücken zuwandte. Um fünf nach acht an einem Dienstagmorgen im Februar wurdest du geboren. Meine wunderbare Freundin Alina, nach der ich dich benannt hatte, erstellte mir später dein Horoskop: Wassermann mit Aszendent Waage. Also kreativ, mutig, freiheitsliebend, dabei charmant und um Ausgleich bemüht, jemand, der im Leben zurechtkommen würde. Ein chinesischer Drache, im Baumhoroskop eine Zeder: eigenwillige Persönlichkeiten, die gerne führen, voller Energie und Lebensliebe. Aber vielleicht ist das alles Quatsch für dich. Vielleicht ist dir die Stellung der Gestirne gleichgültig. Was soll es schon ausmachen, wo die Venus stand und was der Mond trieb, als du das Licht der Erde erblicktest! Mich jedoch hat es beruhigt. Deine Eltern, so sagte man mir, seien künstlerisch veranlagt. Auch das beruhigte mich. Ohne Kunst verdorrt das Leben, ich hoffe, das haben sie dir beigebracht. Ich selbst bin zeitlebens der Kunst gefolgt. Sie ist mein Ziel, mein »leuchtender Pfad«. Und als du dich entschlossen hast, zu mir zu kommen, musste ich dich darum freigeben. Aber nun endlich eine Begegnung. Wie sehr mich das freut! Werde ich dich erkennen? Wirst du mich erkennen? Lass uns keine Seelenverschwandtschaft erwarten, aber vielleicht ein Quäntchen Vertrautheit? We’ll see. Im März kann ich kommen. Schreib mir, ob dir das passt. Ich habe keinen eigenen Internetzugang, aber alle paar Tage kann ich hier, im Büro meines Freundes Goyal, an den Computer. Vor mir steht ein kleines Bild der Göttin Durga, sie hat acht Arme und reitet auf einem Tiger, so vollkommen in ihrer Weisheit. Let’s take it as a sign. Viola Eine Fahrt über Land, vorbei an Dörfern und kleinen Städten, manchmal kilometerlang nichts als Wiesen, Gruppen von Windrädern darauf verteilt, wie kleine Kolonien, das Meer nah, aber fast nie zu sehen. Der Winter hat schließlich nachgegeben, die Sonne scheint, noch blass. Ich höre Radio, singe den Refrain der Lieder mit. Da, wo einmal die Grenze war, steht ein blaues Schild: Danmark, inmitten der gelben Sterne. Um halb vier parke ich das Auto vor dem Flughafengebäude, eine Stunde früher als nötig. An einem Kiosk blättere ich eine Zeitlang in einer dänischen Architekturzeitschrift und kaufe schließlich eine deutsche Zeitung, die ich im einzigen Café des Flughafens lese, dann gehe ich zum Terminal, der auf dem Monitor angegeben ist, und blicke wie die anderen Wartenden auf die breite Schiebetür, die sich immer wieder lautlos öffnet, um jeden Fluggast wie auf eine Bühne zu entlassen. Da bist du also, sagt Viola, aber vielleicht sagt sie auch: Das bist du also, und ich nicke und nenne meinen Namen, was so formell klingt, dass ich es mit einem Lächeln zurückzunehmen versuche. Mein Auto steht nahe des Ausgangs, hier lang müssen wir, ist die Tasche schwer, soll ich sie nehmen? Sicher nicht? Wir haben uns fast sofort erkannt, nicht, weil wir uns ähnlich sehen, sondern weil wir uns angesehen und nicht wieder weggeschaut haben. Wir haben uns nicht umarmt, sondern einander die Hand gereicht, aber Viola hat ihre zweite Hand daraufgelegt, wodurch die Begrüßung etwas Feierliches bekam: die Begegnung zweier Staatsoberhäupter. Hattest du einen guten Flug? Ja. Doch, doch. Eigentlich waren es ja drei. Drei Flüge, meine ich. Neu Delhi – London. London – Frankfurt. Frankfurt – Sonderburg. Über der Schulter trägt Viola eine lederne Reisetasche, in der rechten Hand einen Beutel aus bunter Seide. Graue Haare, die das Gesicht fransig umrahmen. Sie ist etwa einen Kopf kleiner als ich, nicht eigentlich zierlich, aber durch das schmale Gesicht wirkt sie schlanker, als sie ist. Dazu ihre Art zu gehen: der Gang einer Tänzerin, eher ein Schreiten als ein Gehen, aber sich seiner selbst zu bewusst, um wirklich anmutig zu sein. Auf ihrer Stirn sehe ich jetzt einen kleinen glitzernden Stein. Auf dem zweiten Flug, sagt Viola, saß ein Geschäftsmann neben mir, der die ganze Zeit Zahlenkolonnen in seinem Laptop anschaute, unablässig. Wirklich. Sie sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. Gab’s keinen Direktflug? Nein. Wir haben inzwischen das Auto erreicht, und ich öffne den Kofferraum, um die Reisetasche zu verstauen, die Tür ist offen!, Viola setzt sich auf den Beifahrersitz, den Seidenbeutel auf ihrem Schoß wie eine zutrauliche Katze. Sie hält sich sehr gerade, schaut aus dem Fenster, wenn ich ihr erkläre, woran wir vorbeifahren, sieht mich manchmal von der Seite an, als ob sie etwas überprüfen wolle, und ich schaue dann angestrengt geradeaus. Nur einmal erwidere ich ihren Blick, und Viola sagt, du siehst aus wie er, die gleichen Augen, das blonde Haar. Meins war braun. Schnurgerade und braun, bevor es irgendwann grau wurde. Sie fährt sich mit einer Hand in die Stirnfransen, ordnet sie ein wenig, klappt die Sonnenblende herab und wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel. Und du tust gut daran, die Brauen nicht zu zupfen, sagt sie, ohne mich anzusehen. Ich habe es übertrieben und jetzt wachsen sie nicht mehr nach. Auf Höhe der Grenze säumen Lastwagen den Seitenstreifen. Käfige auf einer Ladefläche, je vier übereinander wie Kojen, hinter den Stäben undeutliche Bewegungen. Auf einem Kleinlaster ein Schriftzug, Aloha-Transport, zwischen den Lastwagen Zöllner in grellgrünen Westen. Hast du Hunger? Appetit, sagt Viola. Das schon. Was ich bereits vor dem Hauptgang weiß: Sie fing ein Studium an und brach es ab, heiratete einen Medizinstudenten, sie lebten in der norddeutschen Provinz, das Schrecklichste vom Schrecklichen, sagt sie, dabei habe sie immer rausgewollt, raus aus der Provinz, raus aus Deutschland. Mit dreiundzwanzig war sie geschieden und auf dem Weg nach München, wo sie zwei Jahre blieb, bevor sie nach San Francisco zog, dann Rio de Janeiro, Melbourne, Gomera und Ko Samui, dazwischen zwei Jahre Italien, einem römischen Schriftsteller verfallen, der große Ambitionen hatte, es aber...


Mingels, Annette
Annette Mingels, geboren 1971, studierte Germanistik und schloss mit einer Promotion ab. 2003 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem fünf weitere und ein Erzählband folgten. Für »Was alles war« erhielt sie 2017 den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Dieses entsetzliche Glück«. Nach Jahren in der Schweiz, in Montclair (USA), Hamburg und San Francisco lebt Annette Mingels seit 2021 mit ihrer Familie bei Berlin.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.