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E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Mingels Tontauben

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-641-26961-6
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zwei Paare, zwei Geschichten, eine fatale Begegnung
Eine Insel in der Nordsee. Hier leben Anne und David mit ihren zwei Kindern. Eines Nachts kommt die dreizehnjährige Yola bei einem Unfall ums Leben. Die Ehe der Eltern droht an der Trauer zu zerbrechen, die Schwester flüchtet sich ins Geigenspiel. Sie fühlt sich schuldig. Von einem Täter fehlt jede Spur. Dieselbe Insel: Auf einer Tagung lernen sich Ester und Frank kennen, beide sind verheiratet. Aus anfänglicher Skepsis entwickelt sich eine Affäre. Als es Zeit wäre, heimzufahren, bleiben sie: hin- und hergerissen zwischen Skrupeln und der Faszination für ihre neue Leidenschaft. Dann kommt es zum Streit ...»Tontauben« erkundet die Tiefe menschlicher Beziehungen in Schmerz und Leidenschaft. Und stellt auf eindringliche Weise die Frage nach der Schuld.

Annette Mingels, geboren 1971, studierte Germanistik und schloss mit einer Promotion ab. 2003 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem fünf weitere und ein Erzählband folgten. Für »Was alles war« erhielt sie 2017 den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Dieses entsetzliche Glück«. Nach Jahren in der Schweiz, in Montclair (USA), Hamburg und San Francisco lebt Annette Mingels seit 2021 mit ihrer Familie bei Berlin.
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Autoren/Hrsg.


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I
DANACH Es wird kalt. Jeden Tag kommt der Winter ein Stück näher. Gestern hat David die Autoreifen gewechselt. Jetzt, hat er gesagt, können wir in die Berge fahren. Hast du Lust, in die Berge zu fahren? Anne hat den Kopf geschüttelt. Ich glaube, ich möchte lieber hierbleiben, hat sie gesagt. Es gab eine Zeit, da sind sie jeden Winter in die Berge gefahren. Mit der Fähre aufs Festland. Dann die lange Fahrt. Acht Stunden hin, acht zurück. Die Kinder auf dem Rücksitz. Yola, die sagte, lass uns etwas spielen, und Karen, die irgendwann einwilligte und mit ihrer kleinen Schwester spielte. Ich sehe was, was du nicht siehst. Wer bin ich. Bist du ein Mann? Ja. Bist du berühmt? Ja. Kennt man dich aus dem Fernsehen? Nein. Bist du tot? Am Sonntag unternehmen sie einen langen Spaziergang. Die Landstraße entlang, vorbei am Campingplatz, auf dem zu dieser Jahreszeit nur noch zwei, drei Wohnwagen stehen, über die Holzbrücke zur Fußgängerzone. Sie setzen sich in ein Café ans Fenster. Schauen die Vorübergehenden an, manche schauen zurück. Als sie auf die Promenade treten, ist der Wind so kalt, dass er an den Wangen schmerzt und die Augen zum Tränen bringt. Noch einen Moment, bittet Anne, als David sagt: Lass uns gehen, ich erfriere. Noch einen Moment. Sie tritt an den Rand der Promenade, das Meer ist dunkel und unwillig, ein Vogel kommt auf sie zugeflogen, kurz sieht es aus, als verlöre er die Kontrolle, als könnte der Wind ihn hin und her schütteln und mit ihm machen, was ihm gefällt. Dann setzt er sich neben sie auf die Brüstung. Er ist sehr weiß, nur das Gesicht ist hinter einer schwarzen Maske verborgen. Er schaut sie abwartend an. Ich habe nichts für dich, sagt sie, nicht einen Krümel. Der Vogel zuckt rasch mit dem Kopf vor und zurück, blickt nur noch aus den Augenwinkeln zu ihr hin. Als er wegfliegt, scheint der Wind ihn zu tragen. Als habe er die Elemente gerufen. Als seien sie zu nichts anderem da, als ihm zu dienen. Es ist ein Jahr her – nein: ein Jahr und zwei Tage –, dass sie mitten in der Nacht aufwachten, weil Karen an ihrem Bett stand. Hatte sie etwas gesagt, ihre Namen gerufen? Anne weiß es nicht mehr. Woran sie sich erinnert: Davids Tasten nach seiner Brille auf dem Nachttisch, die Angst in Karens Stimme. Es geht um Yola, sagte sie, sie ist nicht da. Ihr plötzliches Verschwinden von der Party, kurz vor oder während Karens Karaokeauftritt. Das Fahrrad, das sie sich von einer Freundin geliehen hatte, ein altes Ding. Statt auf mich zu warten, mir wenigstens Bescheid zu geben, sagte Karen. Nein, keine Ahnung, ob die Lichter gingen. Als sie nach ihrem Auftritt aus dem Fenster schaute, hatte sie gesehen, dass es regnet, aber wie lange schon, wie heftig – ich weiß es nicht, sagte sie. Sie fing an zu weinen. Hör auf, sagte David, hör jetzt bitte auf, die Bitte wie eine Drohung, und Karen wischte sich über die Augen und zog die Nase hoch und sagte: Vor zwei Stunden war das oder vor drei. Sie riefen die Polizei an, eine müde Stimme am anderen Ende der Leitung. Nein, keine Unfallmeldung, nicht heute Nacht. Die kommt schon wieder, sagte der Polizist. Vielleicht ist sie bei einer Freundin. Einem Freund. David unterbrach ihn: Ab wann wird gesucht?, und der Polizist sagte: Wenn sie am Morgen noch nicht da ist. Und: Wir melden uns, falls wir etwas hören. Kleine Kinder, kleine Sorgen, sagte er. Große Kinder, große Sorgen. David zog sich eine Hose an, einen Pullover über das T-Shirt, das er im Bett getragen hatte. Ich fahr die Strecke ab, bleibt ihr hier. Nein, sagte Anne, ich komme mit. Sie ging ins Schlafzimmer, nahm eine Jeans aus dem Schrank, eine Strickjacke. Sah, dass ihre Hände zitterten. Karen saß am Esstisch, die Arme vor der Brust verschränkt, sie sagte: Ruft mich an, sobald ihr etwas wisst, okay? Es hatte aufgehört zu regnen, der Mond war von Wolken verborgen. Sie verließen das Dorf, vier Kilometer bis zum nächsten, dazwischen flaches Land. Anne sah angestrengt aus dem Fenster: die Radwege, die Dünen hinter dem Ulmenhain, dann wieder Gartenmauern, Zäune, Kreuzungen, schmale Gassen zwischen den Grundstücken. Vor dem Supermarkt stand ein Lastwagen, weißes Licht brannte über dem Seiteneingang, zwei Arbeiter schleppten Kisten mit Milchkartons und Joghurts vom Wagen zum Eingang. Beim Gemeindehaus hielten sie an, die Kirchglocken nun ganz nah, zwei Uhr. Im Vorgarten lagen einige leere Coladosen, über dem Eingang hing noch die Girlande aus Plastikbuchstaben, glänzend vor Nässe, Happy Birthday, ein Luftballon mit einer 19 drauf. Hier musste sie losgefahren sein. Wir fahren im Schritttempo die ganze Strecke ab, sagte Anne, und wo das Auto nicht hin kann, laufe ich. Der Weg durch das Dorf, vorbei an der Kirche, in die Seitenstraße. Hier entlang, oder eher da? David kratzte sich am Kopf: Ich weiß es nicht. Also, sagte Anne, hier lang. Sie hatten die Fenster geöffnet, kalt zog es in den Wagen hinein. Auf der Landstraße machte David den Warnblinker an. Anne lief den Radweg ab. Zog das Handy aus der Hosentasche, wählte Yolas Nummer. Sprach auf die Mailbox, noch eine Nachricht. Sie konnte das Meer hören, vom Wind gestreift. Als der Radweg endete, ging sie zum Auto zurück. Nichts, sagte sie, als sie neben ihm saß. Hier muss sie auf der Straße weitergefahren sein, sagte David. Lass mich mal aussteigen. Sie kletterte auf den Fahrersitz. David lief am Rand der Straße, blickte die Böschung entlang, starrte in das Dunkel des Waldes. Anne rief Karen an. Nichts Neues, sagte Karen. Und bei euch? Auch nichts, sagte Anne, leider. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Nach jeder Bewegung der Scheibenwischer konnte sie David kurz sehen, bevor er wieder hinter den Tropfen verschwand. Sie kurbelte das Fenster herunter. Komm wieder rein!, rief sie. Du kannst von hier drinnen alles genauso gut sehen. Ich weiß nicht, sagte David, meinst du? Aber er ging schon auf den Wagen zu. Es war noch nicht hell, als sie nach Hause kamen. Karen sagte: Ich mache Kaffee. Sie ging in die Küche. Anne setzte sich an den Esstisch und stützte das Gesicht in die Hände. David hatte den Pullover ausgezogen, ein Handtuch lag auf seinen Schultern. Er sah aus wie ein Sportler, der ein Spiel verloren hat. Wir rufen jetzt ihre Freundinnen an, sagte er, und als er Annes Gesicht sah: Herrgott, Anne, das ist ein Notfall! Gibt es, fragte Anne, als Karen den Kaffee brachte, einen Jungen, von dem wir nichts wissen? Karen überlegte. Ich glaube nicht, sagte sie. Es war halb sieben, als sie vor der Wache parkten. Der Himmel gelb und blau gefleckt. Es roch nach nasser Erde, nassem Asphalt. Als wäre das Meer über die Insel geschwappt. Als hätte es sich die Insel einverleibt und sie wieder ausgestoßen. Der Polizist, der aus einem der hinteren Zimmer trat, hatte helles fedriges Haar, das ihm über die Ohren fiel. Die Augen fast ohne Wimpern und Brauen, wie bei einem Neugeborenen. Unsere Tochter ist verschwunden, sagte David, und ich verlange, dass Sie jetzt nach ihr suchen. Doch es war Karen, die Yola fand. Noch bevor der Suchtrupp aufbrechen konnte, hatte sie ihr Fahrrad genommen und war zum Gemeindehaus gefahren. Auf dem Rückweg sah sie zwischen den Baumstämmen das Schutzblech blitzen. Sie stieg ab und ging über die Böschung in den Wald. Yola lag nicht weit entfernt vom Rad. Karen rief ihre Eltern an, sie klang ganz ruhig. Erst als sie im Auto saß, begann sie zu schreien, hoch und so verzweifelt, dass Anne sie an sich drückte, um sie zu trösten und ihren Schrei zu ersticken, der von nun an, das wusste sie, zu ihnen gehören würde: zu Karen, David und ihr, den Überlebenden. David trägt das silberne Tablett vor sich her, darauf Brötchen und Kaffee und Orangensaft, Butter und Marmelade. Er bringt es ans Bett, und Anne tut so, als läge sie nicht schon seit Stunden wach, sondern sei eben erst erwacht und überrascht. David sagt: Frühstück. Mach mal Platz! Sie versucht, im Liegen zu essen, aber das geht nicht. Sie setzt sich in den Schneidersitz, während David die Kissen in seinem Rücken stapelt und Anne zwischen zwei Bissen anschaut, die Augen zusammengekniffen, weil hinter ihr das Fenster ist. Der Hund winselt leise. Dann komm halt, sagt Anne. Mit einer Hand schiebt sie die Decke zur Seite, der Labrador springt auf das Bett und kringelt sich zusammen, den Kopf auf den Hinterpfoten. Oje, sagt David, schon so spät. Er steht auf, sagt: Du hast noch Zeit, oder? Sie sieht ihm hinterher, wie er das Zimmer verlässt, sie hört ihn duschen, dann sieht sie ihm zu, wie er nackt umhergeht, Socken aus dem Schrank nimmt, Unterwäsche, wie er sich anzieht und ihr dabei von Zeit zu Zeit einen Blick zuwirft, der freundlich ist und fragend. Hast du abgenommen?, fragt sie. Er sieht an sich herunter, zuckt mit den Achseln, klopft sich kurz auf den Bauch. Möglich, sagt er, ich weiß nicht. Sieht gut aus, sagt sie. Dann fügt sie hinzu: Ich gehe heute nicht arbeiten. Ist dir schlecht?, fragt David, und Anne sagt: Nein, das ist es nicht. Als sie hört, wie die Haustür geschlossen wird, steht sie auf. Stellt sich unter die Dusche, bis die Haut ganz rot und heiß ist, dann trocknet sie sich ab, ohne in den Spiegel zu sehen. Die Idee ist ihr plötzlich gekommen, eine Idee, die zugleich ein Entschluss war: Sie würde ihre Arbeit kündigen, heute noch, sie würde anrufen und sagen, dass sie nicht mehr komme. Wie meinst du das?, fragt Eva. Heute? Oder diese Woche? Nein, sagt Anne. Generell. Sie räuspert sich, ein Pochen im Hals, dreh um, denkt sie, jetzt...


Mingels, Annette
Annette Mingels, geboren 1971, studierte Germanistik und schloss mit einer Promotion ab. 2003 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem fünf weitere und ein Erzählband folgten. Für »Was alles war« erhielt sie 2017 den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Dieses entsetzliche Glück«. Nach Jahren in der Schweiz, in Montclair (USA), Hamburg und San Francisco lebt Annette Mingels seit 2021 mit ihrer Familie bei Berlin.


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