Mijic | Verletzte Identitäten | Buch | 978-3-593-50187-1 | sack.de

Buch, Deutsch, 439 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 216 mm, Gewicht: 562 g

Mijic

Verletzte Identitäten

Der Kampf um den Opferstatus im bosnisch-herzegowinischen Nachkrieg

Buch, Deutsch, 439 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 216 mm, Gewicht: 562 g

ISBN: 978-3-593-50187-1
Verlag: Campus


Seit der Unterzeichnung des 'Allgemeinen Rahmenabkommens von Dayton über einen Frieden in Bosnien und Herzegowina' im Jahr 1995 schweigen in der ehemaligen Teilrepublik Jugoslawiens die Waffen. Dennoch bestimmt seit nunmehr fast 20 Jahren ein 'Nachkrieg' das Leben der Menschen. Ana Mijic zeigt, wie Serben, Kroaten und Bosniaken durch das Fortbestehen der alten Feindbilder an einer wirklichen Auseinandersetzung mit der Kriegsvergangenheit gehindert werden. Jede Volksgruppe versucht, die eigene, durch die Konfrontation mit konkurrierenden Wahrheiten verletzte Identität zu heilen, indem sie sich beharrlich ausschließlich als Opfer von Vertreibung und Mord betrachtet.
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Inhalt

Vorbemerkung 9

1. Krisen des Nachkriegs - eine Einleitung 11

1.1 Der Krieg und seine Fortsetzung 18

1.2 Identitäten im (Nach )Krieg 24

1.3 Zum Aufbau des Buches 31

2. "Construction and Boundaries" - Konzeptioneller Rahmen der Untersuchung 39

2.1 "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" 39

2.1.1 "Gesellschaft und Individuum" - Zur fundamentalen Dialektik des Sozialen und ihrer anthropologischen und phänomenologischen Begründung 43

2.1.2 Gesellschaft als objektive Wirklichkeit: Institutionalisierung und Legitimierung 48

2.1.3 Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit: Primäre und sekundäre Sozialisationsprozesse 59

2.2 Zur wissenssoziologischen Identitätskonzeption und der Frage nach ›kollektiver Identität‹ 71

2.2.1 Spieglein, Spieglein… 74

2.2.2 Zur persönlichen Identität 78

2.2.3 "Der Kampf um Anerkennung" - und das potenzielle Scheitern 84

2.2.4 Das ›Wir‹ im ›Ich‹ - Zur Frage nach der ›kollektivenIdentität‹ 87

2.3 Ethnic Boundaries - Zur sozialen Konstruktion ethnischer Grenzziehung 98

2.3.1 "Ethnic Groups and Boundaries" - Zur kognitiven Wende in der Ethnizitätsforschung 100

2.3.2 Ethnizität als subjektiv gemeinter Sinn und objektive Faktizität 105

2.3.3 Ethnizität als Dimension sozialer Ungleichwertigkeit 113

2.3.4 Zur Variabilität ethnischer Grenzen 118

2.4 Erfassung gesellschaftlicher Wirklichkeit über die Analyse sozialer Deutungsmuster 128

2.4.1 Der Deutungsmusteransatz nach Ulrich Oevermann 130

2.4.2 Die Deutungsmusteranalyse 137

2.4.3 Deutungsmuster im Forschungskontext 140

3. Methodische Anlage der Untersuchung 145

3.1 Zur Methodologie und Methode der Objektiven Hermeneutik 145

3.1.1 Zur Begründung der (objektiv) hermeneutischen Herangehensweise 145

3.1.2 Zur Methodologie der sequenzanalytischen Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen 148

3.1.3 Zur methodischen Umsetzung der methodologischen Grundannahmen und zum Gedanken der Strukturgeneralisierung 156

3.2 Methode im Forschungskontext 164

3.2.1 Zur empirischen Materialgrundlage und ihrer Erhebung 164

3.2.2 Die Auswertung fremdsprachigen Materials 174

3.2.3 Zum Problem der Darstellung der Interpretationsergebnisse und Anmerkungen zur Herangehensweise 189

4. Deutungsmuster in einer Nachkriegsgesellschaft - eine exemplarische Fallanalyse 193

4.1 Die Fallbestimmung und Interaktionseinbettung 193

4.1.1 Fallbestimmung 194

4.1.2 Interaktionseinbettung 195

4.2 Analyse der Eröffnungssequenz 196

4.3 Auf den Punkt gebracht: Die erste Fallstrukturhypothese 239

4.4 Interviewinterne Überprüfung der Strukturhypothese 245

4.5 Explikation der intern plausibilisierten Fallstrukturhypothese 267

5. Jenseits des Einzelfalls - Transethnische Plausibilisierung der Fallstrukturhypothese 275

5.1 Bratstvo i Jedinstvo - eine ›jugo-nostalgische‹ Perspektive 275

5.2 Eine desinteressierte Analyse - im eigenen Interesse? 286

5.3 Der gute Hirte - der eigenen Herde 311

5.4 Der Patriot - (s)ein Kampf gegen den Verrat 335

5.5 Der gute Mensch - Alles eine Frage der Erziehung 351

6. Selbstviktimisierung als Deutungsmuster des Nachkriegs - eine systematische Verdichtung 373

6.1 Das Äußere im Inneren - Die spezifische Situation in Bosnien-Herzegowina der Gegenwart 376

6.2 Vom Nutzen, ein Opfer zu sein - (Selbst )Charismatisierung durch (Selbst )Viktimisierung 387

6.2.1 Funktionen der Selbstviktimisierung 389

6.2.2 Strategien zur Aufrechterhaltung des Opferstatus 397

6.3 Fremde Spiegel - Zur Dependenz ethnisch-spezifischer Argumentationsstrukturen von Fremdbildern 405

7. Schlusswort und Ausblick 415

Literatur 421

Anhang 439


1. Krisen des Nachkriegs - eine Einleitung

Im Juni 2009 waren in verschiedenen bosnisch-herzegowinischen Städten ganze Straßenzüge mit Plakaten zugekleistert, die das Konterfei von Radovan Karadži? zeigten und die Aufschrift trugen: "Wir glauben, dass Du nicht schuldig bist. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Präsident!". Der Name Radovan Karadži? ist für viele Menschen, auch außerhalb der Region, untrennbar verbunden mit grauenhaften Verbrechen, die während des Krieges (1992-1995) in der ehemaligen Teilrepublik der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) begangen wurden. Zu dieser Zeit war Karadži? der Präsident der so genannten serbischen Republik in Bosnien-Herzegowina. Im Jahre 1996 sprach das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag, das ICTY (The International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia) einen Haftbefehl gegen ihn aus. Die Anklage: Er soll während seiner Amtszeit Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit befohlen haben und dabei unter anderem für den Genozid in Srebrenica verantwortlich sein. Zwölf Jahre nach Erhebung der Anklage, im Juli 2008, wurde Karadži? in Serbien verhaftet und wenige Tage später an das Haager Tribunal überstellt. Die Plakate wurden von Mitgliedern der serbisch-nationalen Gruppierung Izbor je naš (Wir haben die Wahl) verbreitet, die sich unter anderem für die Unabhängigkeit der Republika Srpska - der serbisch dominierten Entität in Bosnien-Herzegowina - einsetzten. Der damalige Vorsitzende der Gruppierung gab gegenüber der Internationalen Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch eine Erklärung zu der Aktion ab:

"In this way we are showing that we have not forgotten the person who deserves the credit for establishment of Republika Srpska and defense of the Serbian people. We have undertaken this action in order to show that we have not forgotten him. We wished him a happy birthday, which is a civilized act. We are hoping that Radovan Karadži? will be glad to see this […] Radovan Karadži? is a political visionary, humanist and peacemaker. He fights for the truth. So, help us god, the Hague Tribunal will render a verdict of not guilty after it sees the evidence he presents." (BIRN BiH - Balkan Investigating Reporting Network 2009)

Während sowohl die internationale Politik als auch die ›anderen‹ Bosnierinnen und Bosnier die Festnahme und die Auslieferung Karadži?s an das ICTY feiern, kommt es vor allem in Belgrad und in Banja Luka zu mitunter gewaltsamen serbischen Protesten: "Svi smo mi Radovan Karadži?." - "Wir alle sind Radovan Karadži?." steht auf den Plakaten der serbischen Demonstranten zu lesen. Nachdrücklich verdeutlichen diese Worte die ausgeprägte Identifikation der Menschen mit dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher. "So lange ich lebe, soll mir bloß niemand erzählen, dass Radovan Karadži? und Radko Mladi? Verbrecher sind." (Martens 2012) - dies sind nicht etwa die Worte eines Demonstranten. Medienberichten zufolge handelt es sich hierbei um ein im Jahre 2007 geäußertes Statement des 2012 gewählten serbischen Präsidenten Tomislav Nikoli?. In seiner Rolle als Staatsoberhaupt Serbiens plädierte er im Herbst 2012 dafür, Radovan Karadži? und Ratko Mladi? so lange als unschuldig zu betrachten, bis vom Gericht das Gegenteil bewiesen werde. Diese Aufforderung, die Unschuldsvermutung zu respektieren, entspricht im Kern einem zentralen Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Und gerade deshalb ist es bemerkenswert, dass sie ›irritiert‹; nicht nur jene, denen während des Krieges großes Leid durch serbische Gewaltakte zugefügt wurde, sondern auch eine interessierte internationale Öffentlichkeit mit ihrem je eigenen Wissen darüber, was geschah, mit ihrer je eigenen Wirklichkeit.
Ein strukturell ähnlich gelagerter Fall findet sich auch auf kroatischer Seite. Am 15. April 2011 wurde der ehemalige kroatische General Ante Gotovina vom Haager Tribunal zu 24 Jahren Haft verurteilt. Die Anklagepunkte gegen Gotovina umfassten unter anderem Vertreibung, Deportation und Mord von Serbinnen und Serben als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zuge der militärischen Aktion ›Oluja‹ (Operation Sturm) im August 1995. Von den deutschen Medien kaum beachtet - in Österreich war der Fall medial weitaus präsenter - protestierten nach der Urteilsverkündung durch das Tribunal weltweit zehntausende Kroaten. In Tränen aufgelöste Menschen, zerrissene Europaflaggen, Plakate mit Bildern des Verurteilten untertitelt mit "Heroj" (Held) sowie scheinbar grenzenloses Unverständnis waren nicht nur in verschiedenen kroatischen und bosnisch-herzegowinischen Städten zu sehen, sondern auch in Berlin, New York, Den Haag, Sydney oder Melbourne. Ein Nationalheld, eine Ikone des ›domovinski rat‹, des ›Vaterländischen Krieges‹, wurde zum Kriegsverbrecher degradiert. Und nicht nur das: Schon die Anklage Gotovinas versetzte dem kroatischen Selbstbild, demzufolge die Kroaten ausschließlich als Opfer serbischer Aggressionen und serbischer Gräueltaten zu betrachten sind, einen nachhaltigen Schlag. Der rein verteidigende Charakter ihres Krieges wurde von anderen, von außenstehenden Dritten, nicht anerkannt. Die unmittelbare Reaktion darauf war eine tiefe Ablehnung jener, von denen man sich selbst zurückgewiesen fühlte. Die kroatische Botschaft in Richtung Europäischer Union lautete nun schlicht "Nein, danke!"
Im November 2012 nahm der Fall ›Gotovina‹ eine unerwartete Wendung. Die Militäroperation Oluja wurde vom Berufungsgericht als legitim klassifiziert und ihr General in allen Anklagepunkten freigesprochen. Tausende Kroatinnen und Kroaten feierten dieses Urteil und hießen ihren Helden nur einen Tag später mit einem Meer aus kroatischen Flaggen und Liedern, die bereits den ›Vaterländischen Krieg‹ musikalisch untermalt hatten, in der Heimat willkommen; unter ihnen viele uniformierte Veteranen, für welche dieser Freispruch von außerordentlicher Bedeutung ist, wird er doch als der endgültige Beweis dafür betrachtet, dass Kroatien einen ›sauberen‹ Krieg geführt hat, einen Krieg ausschließlich zur Verteidigung des eigenen Landes. Bei all den Geschehnissen, angefangen bei den Protesten gegen die Gefangennahme und die Verurteilung Gotovinas bis hin zu den Feierlichkeiten angesichts seines Freispruchs, ging es nie - zumindest nicht primär - um die Person Ante Gotovina. Vielmehr personifizierte sich in ihm die Frage nach Schuld und Unschuld des gesamten ›kroatischen Volkes‹.
Dass die serbischen Reaktionen angesichts des Haager Urteils weniger euphorisch ausfielen, ist kaum verwunderlich. Wer - so die zentrale Frage der serbischen Medien und der serbischen Politik - übernimmt nun die Verantwortung für die an der serbischen Zivilbevölkerung verübten Verbrechen? Doch der Freispruch hatte noch eine weitere Konsequenz: Ein zweiter Blick, ein genaueres Hinhören offenbart, dass es den SerbInnen eben nicht nur um die Frage nach der konkreten Verantwortung für die Ermordung und Vertreibung der Menschen aus der Krajina geht. Mit Gotovina wurde der einzige der Kriegsverbrechen beschuldigte Kroate, dessen Name auch außerhalb der Region bekannt ist und der auch von einer breiteren internationalen (oder zumindest europäischen) Öffentlichkeit als ein Kriegsverbrecher betrachtet wurde, freigesprochen. Damit verliert Serbien sein einziges signifikantes Gegengewicht zu Radovan Karadži? und Ratko Mladi? und verfällt damit erneut in die Rolle des zentralen Aggressors, des ›einzigen wahren‹ Verantwortlichen für das Blutvergießen im ehemaligen Jugoslawien.
Die Frage nach der konkreten Verantwortung für die Ermordung und Vertreibung der Menschen aus der Krajina beschäftigte - zumindest kurzzeitig - auch die internationalen Medien sowie eine interessierte internationale Öffentlichkeit, welche sich angesichts des Ausgangs des Berufungsverfahrens, aber auch angesichts der Art und Weise der kroatischen Feierlichkeiten irritiert zeigte. Diese Irritation rührte daher, dass auch diese Öffentlichkeit - in diesem Fall, wie schon in den Fällen ›Karadži?‹ und ›Mladi?‹ - über ihre eigene Wahrheit und ihre eigenen Geschichten sowie die damit verknüpften Erwartungen verfügt. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, zeigt sich auch hier eine gewisse Verständnislosigkeit. Daran gilt es zu denken, wenn es darum geht, bestimmte soziale Phänomene als Exzeption oder Norm, als anachronistisch oder zeitgemäß zu beurteilen.


Ana Mijic, Dr. phil., arbeitet derzeit als Lehrbeauftragte am Institut für Soziologie an der Universität Wien.


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