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E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Mieth Nicht einverstanden

Meine Erfahrungen als Laientheologe und Ethiker

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-451-84804-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dietmar Mieth (* 1940), profilierter Moraltheologe, Wissenschaftsorganisator und Meister Eckhart-Spezialist, schildert in diesem Buch seine Erfahrungen in Kirche und Gesellschaft. Die Auseinandersetzungen aus 50 Jahren, an denen der Autor selbst intensiv beteiligt war, werden dabei lebendig: von der Kindheit und Jugend in der vorkonziliaren Kirche, über das Tübingen der späten 60er-Jahre, die Diskussionen um die autonome Moral Alfons Auers, den Fall Pfürtner und die Kölner Erklärung, bis hin zur Gründung des Tübinger Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften und zur ethischen Politikberatung. Ein spannendes Stück Zeitgeschichte im Spiegel einer außergewöhnlichen Biographie!
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EINLEITUNG
Nicht einverstanden: Einsichten und Ansichten aus Erfahrungen
„Nicht einverstanden“ – wie ist dieser Titel als Motto eines Rückblickes auf das eigene Leben als Laientheologe und Ethiker gemeint? Ein Rückblick ist gleichsam ein historischer Blick, das eigene Leben dient dabei als Seismograph, d. h. als eine Sonde der Erkundung. „Nicht einverstanden“ ist daher nicht nur subjektiv gemeint. Schon gar nicht bedeutet es eine persönliche Unzufriedenheit. Ich blicke auf ein erfülltes Leben zurück und habe noch einiges vor, wenn mir die Zeit dafür gegeben ist. Also meint „nicht einverstanden“ eine Bilanz im Umgang mit Institutionen, Einstellungen und Handlungen, die – nicht nur bei mir, sondern auch bei Kolleginnen und Kollegen mit ähnlichen Erfahrungen – Kritik und Protest, aber auch alternative Vorschläge hervorgerufen haben. Gemeint sind damit auch Zustände in Kirche und Gesellschaft, die sich ändern ließen oder lassen, wenn Reformwille, Einfallsreichtum und Gestaltungskraft zusammenkommen. Der Blick auf die katholische Kirche, die manchmal einem großen, ziemlich unbeweglichen Tanker auf dem Trockendock (nach Alfons Auer) gleicht, ist genereller und zugleich existentieller. Kirche trägt ein frommer Katholik wie ein Hemd am Leibe, die Gesellschaft ist der Rock darüber. In gesellschaftlichen Entwicklungen und Entscheidungen ist daher mein Blick auf die ethische Seite von Entscheidungen und Entwicklungen gerichtet, vor allem insoweit ich diese aus der Nähe mit verfolgen konnte und mich entsprechend engagiert habe. Freilich beschreibe ich auch in meinen Erinnerungen einen „Durchbruch“, dessen Überwindung von Einschränkungen heute nicht mehr in der gleichen Intensität erfahren werden kann. „Laien“ – eine hier nur im katholischen Kontext verständliche Bezeichnung von Theologinnen und Theologen – bilden heute die Mehrheit der Professorinnen und Professoren an Katholisch-Theologischen Fakultäten mit Priesterausbildung oder ohne diese. Dies schien, als ich mich 1963 entschloss, Theologie zu meinem Lebenspfad zu machen, noch gar nicht denkbar. Es gab, soweit meine Kenntnis reicht, einen Laien als Patristiker (Norbert Brox) in Regensburg. Frauen, die wie Elisabeth Gössmann und Elisabeth Schüssler als Theologinnen unterwegs waren, konnten eher an Divinity Schools im Ausland als Professorinnen etabliert werden. Indem ich diese Namen nenne, ist mir bewusst, dass ich nicht den Überblick über entsprechende Wege von Laien und „Laien-Frauen“, wie einige heute sagen, habe. Ich beschreibe aus Erfahrung eine Tür in der katholischen Kirche, die sehr zögerlich geöffnet wurde. Beim Hindurchdrängen durch die nur einen Spalt breit geöffnete Tür habe ich auch blaue Flecken davongetragen, die ich heute noch spüre, auch wenn ich an sie seltener erinnert werde. Nun ist es ja nicht so, als seien die grundsätzlichen Schwierigkeiten, die einerseits mit der Priesterbevorzugung und andererseits mit der – nicht überall gleichen – Enge des bischöfichen und des römischen Lehramtes gegeben waren, reine Vergangenheit. Sie reichen weiter in dieses Jahrtausend hinein. Einige Erfahrungen, insofern sie mich involvieren, werde ich mitteilen. Nicht einverstanden zu sein schließt immer auch ein Einverständnis ein. Dieses Einverständnis kann sich – wie bei mir – z. B. auf Grundlagen des christlichen Glaubens und/oder auf die freiheitliche Demokratie und den Sozialstaat beziehen. Dieses Einverständnis kann sich zugleich nach vorn auf Möglichkeiten richten, die unter gegenwärtigen Herausforderungen diese Grundlagen tragfähiger und zukunftsoffener gestalten könnten. Besonders einverstanden bin ich z. B. mit dem Text aus der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Die Kirche in der Welt von heute: „die Hilfe, die die Kirche von der heutigen Welt erfährt“ (n. 44). In der Zeit der Missbrauch-Anerkenntnis lernt die Kirche insbesondere, dass sie auch die moralische Hilfe des Rechtsstaates in Anspruch nehmen sollte. Wer im Rückblick schreibt, schreibt ungleichzeitig. Der Rückblick nimmt die Erfahrung aus dem erstmaligen Stand des Erlebnisses heraus und stellt sie in einen späteren Zusammenhang. Unter dem Stichwort „Erfahrung“ ist das Erlebnis bereits zur Erzählung, Erinnerung und Reflexion geworden. In diesem Zusammenhang erhält Erfahrung einen neuen Stellenwert und eine neue Beleuchtung. Diese Differenz zum Ereignis und zum Erlebnis gehört zum Bewusstsein der Erinnerung. Dazu gehört auch das Merkmal des Vergessens. Friedrich Nietzsche hat auf das Phänomen aufmerksam gemacht, dass auch das Vergessen dafür wesentlich ist, dass die Erinnerung eine Tradition bilden kann. Die Hervorhebung in der Erinnerung wird durch das Vergessen mit gesteuert. Man kann freilich auch Dinge und Perioden dem eigenen Vergessen entreißen. Dazu gehört, dass man zwischen absolutem Vergessen, das unaufhebbar ist, und relativem Vergessen unterscheidet. Relatives Vergessen kann man selbst durch Erforschen der Erinnerung beheben. Über Zeitpunkte kann man sich aufgrund des relativen Vergessens irren, auch wenn man das Erlebnis präsent hat. Nichts ist so präsent, wie es einmal präsent gewesen ist. Das gilt nicht nur für große Geschichte, sondern auch für die Umstände einer Lebensgeschichte. Andererseits: Gefühle scheinen nicht zu veralten, wenn sie wieder in der Erinnerung wach werden, als hätten sie vorher in einem anderen Raum geschlafen. Ein Merkmal in der Erinnerung ist die Plastizität des Früheren, das vor dem Späteren kommt und dieses, weil es schneller abläuft, dominiert. Was wir erstmals erleben: Freundschaften, Liebe, Erfolge, Einbrüche, aber auch Religion und Wissen – all das ist viel plastischer und mit stärkeren Konturen versehen, als dies bei Wiederholungen oder Ergänzungen der Fall sein kann. Die Routine glättet die Erinnerung, der Alltag senkt das Profil der Wahrnehmungen und der Erlebnisse. Die unterschiedliche Plastizität der Erinnerung hängt also nicht von der Zeitdistanz ab; es gibt eine (Un-)Mittelbarkeit ohne Zeitnähe. Eine Einprägung ist in jungen Jahren stärker, in älteren Jahren ist sie u. U. dauerhafter, selbstverständlicher. Ältere leben nicht in jeder Hinsicht gleichzeitig. Zur gleichen Zeit wie Jüngere zu leben, aber nicht mehr mit ihnen gleichzeitig zu sein, das ist ein Lebensgefühl. Wie geht man damit um? Nostalgie als Umgang, Anpassung und Protest als Umgang? Wie lebt man altersgemäß zeitgemäß? Das sind Fragen, die ich hier nicht theoretisch angehen will. Ich will nur ein Bewusstsein verdeutlichen, das mit den Jahrzehnten der Digitalisierung als Revolution des Alltags und der täglichen Arbeit zu tun hat. Während sich im Alter Lernprozesse verlangsamen, wird eine beschleunigte Aufnahmefähigkeit verlangt. Ich vermute, dies haben frühere Generationen kaum anders empfunden. Ich erinnere mich, welche Lernvorgänge das Telefonieren mir als Kind abverlangte, vermutlich auch, weil es in den fünfziger Jahren noch gar nicht in unseren dörflichen Alltag integriert war. Ganz anders ist das mit den mobilen Smartphones, mit den Navis und mit den abrufbaren digitalen Speichern, die so vieles erleichtern, uns selbst aber zugleich durch das, worüber wir verfügen können, auch verfügbarer machen. Nicht einverstanden zu sein bedarf in der Öffentlichkeit, vor allem im Umgang mit den Medien, eines Klugheitstrainings. Insbesondere muss man darauf achten, dass man, falls man mit Medien zu tun hat, nicht zur deklamierenden Figur verkürzt wird, die als Merkmal für eine Position abrufbar wird. In Talkshows erhalten die Beteiligten oft eine Art Bauchbinde, die sie als Position einbringt, statt sie in aller Differenziertheit wahrzunehmen. Oft fühlte ich mich aber, z. B. bei Medienanfragen in den achtziger und neunziger Jahren, als Fachmann für „einerseits – andererseits“, wenn auch nicht für „sowohl – als auch“. Manchmal muss man seine Positionen ohnehin überdenken. Das „Dennoch“ einer Haltung, die „nicht einverstanden“ ist, muss jedoch, weder im zivilen, bürgerlichen noch im kirchlichen Bereich, grimmig und aggressiv sein. Kritik drückt sich auch durch Humor, Ironie und Satire aus. Humor, Ironie und Satire lassen das Wofür im Wogegen aufleuchten, ohne es direkt benennen zu müssen. Warum also dieses Buch? Es soll eine Biographie sein, aber dies nicht allein! Ich halte sehr viel von Erfahrungen, in denen Erlebnisse gleichsam nur das Rohmaterial sind. Erfahrungen werden sie erst, wenn sie als erzählte Erinnerungen verarbeitet sind, nicht nur als Merkmale der Person, die diese Erfahrungen macht, und als Geschichte ihrer Anliegen, sondern auch als ein Beitrag zu bestimmten sachlichen Einsichten. Diese sind teils fachbezogen, teils richten sie sich auf übergreifende Themen und Situationen in Kirche und Gesellschaft, um zu ihrer kritischen Klärung aus ethischer und theologischer Sicht einen Beitrag zu leisten. In dieser Hinsicht bin ich nicht nur auf die Vergangenheit hin orientiert – mir geht es auch um den Blick nach vorne. Indem ich von mir und meinem langen Leben an der Universität (seit 1959) und im Wissenschaftsdialog erzähle, möchte ich auch gegen einen möglichen Erfahrungsverlust ankämpfen. Beschleunigung frisst Erfahrung auf. An ihre Stelle tritt die quantitative und mechanische Analyse mit Algorithmen. Sie hat ihren spezifischen Sinn im menschlichen Fortschritt. Aber es wäre gut, wenn es, wie Robert Musil sagte, auch ein „Generalsekretariat für Genauigkeit und Seele“ geben könnte. Wie Friedrich Hölderlin setzt Musil auf rettende Metaphern. Die Zukunft ist nicht metaphorisch, aber Erfahrungen könnten in ihr so weiterwirken, dass es wenigstens keine Wiederholungen vergangenen Grauens gibt. Mein akademisches Leben chronologisch zu erzählen ist...


Dietmar Mieth, Dr. theol., geb. 1940, emerierter Professor für Moraltheologie an der Universität Fribourg/Schweiz und für Theologische Ethik/Sozialethik an der Universität Tübingen; dort Mitbegründer und  erster Sprecher des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften; Initiator der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie. Dietmar Mieth war Mitglied in verschiedenen bedeutenden europäischen, deutschen und kirchlichen Ethikkommissionen. Seit 2009 ist er Fellow am Max Weber Kolleg der Universität Erfurt und Leiter der Meister-Eckhart-Forschungsstelle.


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