E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Michaels / Hesse Der Trubel um Diversität
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86287-244-2
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-86287-244-2
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gefeiert als »eloquent« (Chicago Tribune) und »stichhaltig« (The New Yorker), verströmt das Buch »einen Hauch von Genialität« (The Economist) und macht es unmöglich, mit den Thesen von Walter Benn Michaels »nicht übereinzustimmen« (The Washington Post). Michaels behauptet in »Der Trubel um Diversität«, dass unsere Fokusierung auf die »Differenz« den Unterschied außer Acht lässt, auf den es wirklich ankommt: den Unterschied zwischen Reichen und Armen. Respektlos nimmt Walter Benn Michaels sich die vielfältigen Ausprägungen unserer Besessenheit vor - Affirmative Action, Multikulturalismus, Kulturerbe und Identität - und zeigt, dass Diversität keine Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit schafft. In einer Absage sowohl an die Linke als auch an die Rechte fordert er, wir möchten uns weniger um die unwichtigen Unterschiede der Kulturen kümmern als um das wirkliche Missverhältnis der Klassen und die Verteilung des Reichtums. Ein Debattenbeitrag zur Diskussion über Herkunft und Identität, aus der immer neue Opfergruppen entstehen.
Walter Benn Michaels ist Professor für englische und amerikanische Literatur an der Universität von Illinois in Chicago.
Autoren/Hrsg.
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
Im Herbst 2020 lud mich eine Gruppe deutscher Akademiker zu einem Vortrag ein, den ich im Juni 2021 halten sollte. Im Dezember 2020 wurde ich bereits wieder ausgeladen; ich war nicht länger erwünscht. Warum? Weil einer aus der Gruppe, ein farbiger Professor, das Buch, das Sie gerade in der Hand halten, auf englisch gelesen und das Gefühl bekommen hatte, in Gegenwart des Autors (selbst nur bei Zoom!) würde er sich einer Art von »Gewalt« aussetzen. Um sicherzustellen, dass sich alle sicher fühlen, lud die Gruppe jemand anderen ein. Als bloße Leser – in Gegenwart nur des Buches, nicht seines Autors – werden Sie vermutlich weniger zu befürchten haben. Doch erzähle ich Ihnen die Geschichte nicht, um Sie zu erschrecken, und auch nicht, um sie zu beruhigen. Ich möchte Ihnen damit lediglich sagen, dass »Der Trubel um Diversität« zwar auch 2006, als die amerikanische Erstausgabe erschien, schon umstritten war, die Dinge sich jedoch noch nicht so weit entwickelt hatten, dass Einspruch gegen Diversität als eine Form fortschrittlicher Politik etwa als Gewalt erachtet worden wäre. Als im Jahr 2016 die zweite Auflage erschien, war das bereits anders. Die Entstehung der »Black Lives Matter«-Bewegung und die im politischen Mainstream geführte Diskussion um Entschädigungen für die Sklaverei hatten dem Thema Antirassismus (und Antidiskriminierung im allgemeinen) – und mithin all dem, was ich daran problematisch finde – neuen Schwung verliehen und es in den Mittelpunkt linker Politik gerückt; das Nachwort zur Neuausgabe versucht zu erklären, warum. Nun, im Jahr 2021, nach dem unerträglichen Anblick George Floyds und anderer, die um ihr Leben flehten, und nach den politischen Aktivitäten, die diese Szenen hervorgerufen haben, ist der Antirassismus sogar noch fundamentaler geworden. Fundamental aber ist er nicht für eine linke Politik; vielmehr ist er ein »militanter Ausdruck eines Liberalismus der Hautfarben«, wie Cedric Johnson es ausdrückt, eines Liberalismus, der »nicht als Bedrohung, sondern als Bollwerk« der amerikanischen Version des Neoliberalismus fungiert.1 Warum? Weil er die zunehmende Ungleichheit, die der amerikanischen Bevölkerung zugemutet wird, verteidigt, anstatt sie zu bekämpfen. Dies bleibt wahr auch angesichts des bestehendes Missverhältnisses zwischen den ethnischen Gruppen auf der untersten Ebene der amerikanischen Gesellschaft; denn ebenso wahr ist, dass, wie der Schriftsteller Ta-Nehisi Coates sagt, »keine Statistik das fortdauernde Erbe der schändlichen Geschichte unseres Landes, das Schwarze wie Unterbürger, Unteramerikaner und Untermenschen behandelte, besser vor Augen führt als das Wohlstandsgefälle.«2 Die Statistik, an die Coates dabei denkt, ist folgende: Im Jahr 2019 betrug das durchschnittliche Vermögen weißer Familien 983.400 Dollar, das schwarzer Familien 142.000 Dollar.3 Und obschon es viele unterschiedliche Meinungen darüber gibt, wie man diese Kluft verringern könnte, herrscht weitreichende Einmütigkeit darüber, was sie verursacht hat, nämlich über zweihundert Jahre Sklaverei und weitere hundert Jahre Rassismus. Diese Tatsachen haben die weitverbreitete Ansicht befördert, dass Sklaverei und Rassismus die »Erbsünde« der USA seien, und ebenso die Behauptung, die Vorherrschaft der Weißen sei »die entscheidende Herausforderung, mit der die Vereinigten Staaten fertigwerden müssen, um das Versprechen unserer Demokratie zu erfüllen.«4 Sie nähren auch das gegenwärtige Gefühl, dass vor allem die zwischen den Hautfarben herrschende Ungleichheit – was nicht nur den Wohlstand, sondern auch die Polizeigewalt, der Nichtweiße im besonderen ausgesetzt sind, sowie die Gesundheitsversorgung und die Lebenserwartung selbst betrifft – überwunden werden müsse, um eine wirklich gerechte Gesellschaft zu schaffen. Wenn wir jedoch wie Coates mit dem Wohlstandsgefälle beginnen und uns fragen, wer denn den weißen Reichtum tatsächlich besitzt, wird sogleich klar, wie irreführend überhaupt die Vorstellung weißen Reichtums ist. Denn die reichsten 20 Prozent der Weißen besitzen mehr als 85 Prozent dieses Reichtums und die mittleren 50 Prozent den Rest, während die unteren 30 Prozent gar nichts haben.5 Das heißt, nahezu alle Weißen verfügen über so gut wie keinen weißen Reichtum. Wenn wir uns statt der Ungleichheit des Reichtums die der Einkommen anschauen, wird dieser Eindruck sogar noch deutlicher. Die meisten Menschen, die über 200.000 Dollar im Jahr verdienen, sind weiß – doch ebenso die meisten derjenigen, die unter 10.000 Dollar verdienen, sowie derer, die unter 15.000, und auch derer, die unter 20.000 verdienen. Wenn man diesen Menschen erzählt, die Hauptursache der Ungleichheit in den USA sei die Vorherrschaft der Weißen, wissen sie, dass das nicht stimmt. Ebensogut könnte man auf die zweitgrößte Gruppe reicher Leute verweisen – die Asiaten, die genauso wie die Weißen unter den Reichen überrepräsentiert und unter den Armen unterrepräsentiert sind – und etwa behaupten, die Vorherrschaft der Asiaten sei ein grundlegendes Problem Amerikas. Fragen Sie mal einen armen Asiaten: Es stimmt nicht. Die grundlegende ökonomische Ungleichheit in den USA besteht nicht zwischen Weißen und Schwarzen, sondern zwischen einer relativ kleinen Anzahl reicher (hauptsächlich weißer) Leute und allen anderen: Schwarzen, Weißen, Asiaten. Die Lage ist, mit anderen Worten, gar nicht so verschieden von der in Deutschland, wo die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung über etwa 66 Prozent des Nettovermögens verfügen.6 Und wenn Deutschland den USA darin folgen sollte, Angaben zu Hautfarbe und ethnischer Herkunft in die Bevölkerungsstatistik einzubeziehen (was nach meiner Voraussage eher früher als später geschehen wird), würde die Frage der Ungleichheit zwischen Hautfarben und Ethnien zweifellos große Bedeutung gewinnen. Warum? Weil mit zunehmender Ungleichheit unserer Gesellschaften diejenigen, die von dieser Ungleichheit profitieren, um so weniger erpicht darauf sind, über Klassenunterschiede zu sprechen, und darum desto begieriger von »Rassen« reden.7 In den USA hat die Rede von »Rassen« diese Aufgabe immer schon erfüllt. Gleich nach dem Bürgerkrieg erwies sich der Rassismus in Gestalt einer Vorherrschaft der Weißen auf zweierlei Weise als nützlich. Zum einen schied er die weiße Arbeiterklasse von der schwarzen. »Schwarz und Weiß, kämpft vereint« (Negro and White, Unite and Fight), lautete das Motto der radikalen Linken zu einer Zeit, da man weiße Arbeiter anspornte, ihre schwarzen Kollegen gleichermaßen zu verachten und zu fürchten, was sich als wirkungsvolles Mittel erwies, ihre Einheit zu verhindern. Zum andern, und das verstanden die radikalsten rassistischen Schriftsteller wie Thomas Dixon sehr wohl, trennte der Rassismus nicht nur arme Weiße von armen Schwarzen, sondern er einte auch arme und reiche Weiße. In dem ersten Roman seiner überaus erfolgreichen Trilogie über den Ku Klux Klan beschreibt Dixon eine Gruppe von Weißen, die erfährt, dass ein weißes Mädchen von »einer verfluchten schwarzen Bestie« vergewaltigt und ermordet worden ist. »Im Nu«, schreibt er, »verschmolz die weiße Rasse zu einer einheitlichen Masse der Liebe und Anteilnahme, des Hasses und der Rache. Der Reiche und der Arme, der Gebildete und der Ungebildete, der Bankier und der Schmied, der Große und der Kleine, sie alle waren nun eins.«8 Auf sich allein gestellt, mögen die Reichen die Armen als Klassenfeinde ansehen; angesichts der »schwarzen Bestie« aber erkennen sie sie als »Rassenbrüder«. Wenn es etwas wie eine weiße Rasse nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Was wir, da es eine weiße Rasse ja tatsächlich nicht gibt, auch getan haben. Damals, sagt der afroamerikanische Schriftsteller George Schuyler, ging es darum, »die Arbeiter rassenbewusst statt klassenbewusst zu machen.«9 Die große Neuerung unserer Zeit besteht in der Entdeckung, dass der Antirassismus das ebensogut erledigen kann wie der Rassismus. Eigentlich ist es ganz leicht: Die Oberschicht, die weiße Arbeiter einst dazu beglückwünschte, »einer Rasse von Welteroberern« anzugehören, klagt sie nun des irrigen Glaubens an, »einer Rasse von Welteroberern« anzugehören. Wohl wahr, das einzige, was gebildete Weiße mit Hochschulabschluss noch lieber mögen, als sich für ihren eigenen Rassismus zu entschuldigen (der Fachausdruck lautet »Privilegien checken«), ist, ungebildete Weiße ohne Hochschulabschluss als Rassisten anzuklagen. Und zwar zu einer Zeit, da das steilste Gefälle in der amerikanischen Gesellschaft das zwischen Gebildeten mit Hochschulabschluss und Ungebildeten ohne Hochschulabschluss ist und nicht etwa das zwischen Weißen und Schwarzen. In einer Untersuchung der sich verändernden Lebenserwartung von 1980 bis 2018 zeigen Anne Case und Angus Deaton, dass der Abstand zwischen der Lebenserwartung der Schwarzen und der der Weißen sich verringert hat, während der zwischen der Lebenserwartung von Menschen mit und der von solchen ohne Hochschulabschluss größer geworden ist. Heute, schließen sie daraus, »gleichen Menschen mit einem Hochschulabschluss, ungeachtet ihrer Hautfarbe, einander mehr als Menschen derselben Hautfarbe, die kein Bachelorexamen haben.«10 Während der Covid-Pandemie lautete die übliche Geschichte in den amerikanischen Medien, das Virus wüte unverhältnismäßig stark unter schwarzen und braunen Menschen. Allerdings wissen wir – und ein solcher Schluss entspräche dem gemeinen Alltagsverstand, wenn nicht der Liberalismus so versessen darauf wäre, jedwede Ungleichheit zu...