Geheimnisvoller, spannender Abenteuerroman für Kinder ab 10 Jahren
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-96052-052-8
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Antonia Michaelis spricht kindliche Sehnsüchte nach Freiheit und Abenteuer an und erzählt in einem meisterhaft atmosphärischen Stil.
Weitere Infos & Material
1 Nymphaea pygmaea rubra
Rote Zwergseerose Es war einer dieser absoluten Tonnentage. Tage, die man in die Tonne kloppen kann. John-Marlon merkte es gleich beim Aufstehen. Er stieg aus dem Bett und ging zum Fenster, einem kleinen Schrägfenster, denn das Zimmer befand sich unter dem Dach. Vierter Stock Altbau, ohne Fahrstuhl. Das Zimmer war winzig und im Sommer ein Backofen, aber er mochte es trotzdem: Es war ein guter Ort, um sich zu verkriechen, wenn alles schieflief. »Deine Höhle«, sagte seine Mutter immer und lächelte. An dem Tag also, an dem diese Geschichte beginnt, stand John-Marlon am Fenster und sah, dass die Sonne schien, mitten in einem saftig blauen Himmel. Das perfekte Wetter für die Sommerwettkämpfe der Schule. Laufen, Springen, Werfen, Kugelstoßen – und am Ende das sehnsüchtig erwartete Fußballturnier. John-Marlon erwartete nur eines am Fußballturnier sehnsüchtig: sein Ende. Er hasste Fußball genauso wie Laufen, Springen, Werfen und Kugelstoßen, und er hoffte seit fünf Jahren vergeblich, es würde am Tag der Sommerwettkämpfe regnen und sie müssten ausfallen. »Du könntest dich doch anstrengen«, sagte sein Vater. »Ich meine: Streng dich doch einfach mal an! Das ist keine Frage der Kraft, das ist eine Frage des Selbstvertrauens.« Er beugte sich über den Tisch, einen kleinen, wackelnden Eiscafétisch, und sah John-Marlon in die Augen. Es war inzwischen zwei Uhr durch und die Sportwettkämpfe vorbei. Zum Glück. John-Marlons Vater hatte ihn gleich danach von der Schule abgeholt. Dies war ein Dienstag, und Dienstag war Vater-Tag. John-Marlons Vater wohnte seit Längerem nicht mehr mit John-Marlon und seiner Mutter zusammen, aber dienstags hatte er Zeit. Er war groß, sportlich und blond. John-Marlon war mittelklein, braunhaarig und pummelig. Überflüssig zu sagen, dass er eine Brille hatte. Mittelkleine pummelige Jungen haben oft Brillen, so wie ein Unglück meistens das nächste nach sich zieht. Sonnenschein zum Beispiel Sportwettkämpfe und Sportwettkämpfe Fragen nach Ergebnissen von Sportwettkämpfen. »Du kannst das alles«, sagte John-Marlons Vater. »Es ist in dir. Verstehst du? In dir steckt ein Tiger.« Dabei machte er ein Gesicht mit einem Grrrr zwischen den Zähnen, was ziemlich lächerlich aussah. »Papa«, sagte John-Marlon gequält. »Ich bin in der fünften. Nicht im Kindergarten.« Er rührte in seinem Eisbecher, der sich langsam von zwei Kugeln unterschiedlicher Farbe in einen Matsch gar keiner spezifischen Farbe verwandelte. »Ich wollte sagen: Man muss nur wollen!«, erklärte sein Vater. »Nächstes Jahr kriegst du eine Siegerurkunde. Ach was, eine Ehrenurkunde.« Er trank seinen Kaffee in einem Zug aus, als wäre auch das ein Wettbewerb. »Hat eben dieses Jahr nicht geklappt. Mach dir nichts draus.« Das Schlimme war, dass John-Marlon sich gar nichts draus machte. Es war ihm völlig egal, wie weit er warf oder wie schnell er lief. Er versuchte es trotzdem. Für seinen Vater. Er ging seinem Vater zuliebe sogar in den Fußballverein, denn sein Vater war der Meinung, in ihm (irgendwo neben dem Tiger) stecke ein wirklich guter Fußballer. Er selbst spielte im Verein des Firmenvorstandes, sehr erfolgreich, wie er ab und zu betonte. »Und wie war’s Sonntag beim Fußball?«, fragte er. Als könne er Gedanken lesen. »Na ja, ich habe nicht gerade ein Tor geschossen, aber ich war auf dem Feld«, sagte John-Marlon. »Immerhin.« Sein Vater seufzte. »Die lassen dich immer noch am liebsten am Rand sitzen, was? Die werden schon sehen! Wenn wir beide endlich mal trainieren …« John-Marlon sah auf. »Trainieren wir heute?« Einerseits wollte er alles lieber als Kicken üben. Andererseits wollte er nichts lieber als etwas mit seinem Vater machen. »Ich wünschte, wir könnten«, sagte sein Vater. »John-Marlon …« Er legte eine Hand auf die von John-Marlon, es hatte etwas Beileidsmäßiges, wie auf einer Beerdigung. »Du kannst nicht«, sagte John-Marlon. »Es ist was dazwischengekommen.« »Ja. Ich dachte, wir essen wenigstens ein Eis, bevor ich … Wir haben eine Sondersitzung in der Firma.« John-Marlon betrachtete den Eismatsch in seinem Glas. »Ist deine Mutter denn zu Hause?« »Nee«, sagte John-Marlon. »Arbeitet. Aber ich komm schon allein klar bis abends.« »Nächste Woche trainieren wir.« Sein Vater sah auf sein Handy und stand auf. »Himmel, ich muss wirklich. Ich zahle noch schnell drinnen … Iss du in aller Ruhe dein Eis zu Ende, das hast du dir ja verdient. Nach den Sportwettkämpfen und allem.« Er lächelte, doch man sah genau, dass er eigentlich nicht fand, John-Marlon hätte es verdient. John-Marlon fragte sich, ob sein Vater Zeit gehabt hätte, wenn die Wettkämpfe anders gelaufen wären. Wenn er nicht, wie jedes Jahr, im Laufen, Springen und Werfen unter den Schlechtesten gewesen wäre. Beim Kugelstoßen übrigens nicht. Beim Kugelstoßen war er gar nicht angetreten, weil er sich vor dem ersten Versuch die Kugel auf den Fuß hatte fallen lassen und verarztet werden musste. Etwas, das er seinem Vater garantiert nie erzählen würde. John-Marlon starrte in den Eismatsch, bis er hörte, wie das Auto seines Vaters sich entfernte. Dann stand er auf, kippte den Matsch in einen Blumenkübel und ging die Straße hinunter, auf der sein kurzer Sommerschatten ihm vorauslief. Sonne auf dem Bürgersteig, Hitzeflimmern über dem Asphalt und ein Tag für die Tonne. Aber dann. Dann ging John-Marlon einen Umweg. Durch eine schmale Straße, durch die er sonst nicht ging, irgend so eine abgehalfterte Berliner Seitenstraße eben. Er hatte keine Lust, zu Hause anzukommen, denn da würde ihn nur die Nachbarin sehen und seiner Mutter erzählen, dass er alleine in der Wohnung gewesen war, und seine Mutter würde am Telefon mit seinem Vater streiten, weil der doch hätte Zeit haben sollen. Und John-Marlon würde denken, dass sein Vater die Firmensitzung geschwänzt hätte, wenn er, John-Marlon, ein erfolgreicher, sportlicher Sohn gewesen wäre: einer, mit dem man gerne etwas unternahm. All diese Konjunktive[1] führten dazu, dass er durch die erwähnte Seitenstraße trödelte. Sie führte an einer Bretterwand entlang, beklebt mit Plakaten, alle übereinander, manche halb zerrissen: Reklame für Rockkonzerte, Demonstrationen, Disco-Nächte, vegane Meditationszirkel (was immer das war), Partnerbörsen für regenbogenfarbene Frauen, Kinofilme, Theaterstücke … John-Marlon studierte eine Weile die Plakate. Das Leben, dachte er, passierte irgendwo, irgendwo ganz in der Nähe, das laute, bunte, wunderbare Leben. Nur er war nicht eingeladen. Und dann fand er, ungefähr in der Mitte des Zauns, einen Spalt. Neben einem halben Plakat, auf dem jemand mit herausgestreckter Zunge und bunten Kringeln in den Augen war. John-Marlon legte seine Hand neben den Spalt, nur so, und da rutschte das Plakat mit der darunter befindlichen Latte weg. Die Latte hing oben an einem Nagel, unten jedoch an keinem. Dahinter wuchs ein dicker Vorhang aus Kletterpflanzen. Die entstandene Lücke war recht breit. Wenn er den Bauch ein bisschen einzog, dachte John-Marlon, konnte er vielleicht … Er sah sich um. Die Straße war menschenleer. Nur an ihrem Ende, vor einem Laden mit rot-weißer Sonnenblende, stand jemand herum, guckte aber woandershin. John-Marlon holte tief Luft, quetschte sich durch die Bretterwand und teilte den Kletterpflanzenvorhang. Er stand in einem Urwald. Einer duftenden, lichtdurchfluteten, grünen Welt, die so fern von der Stadt war, wie nur irgendetwas sein konnte. Einem Paradies. Seltsam, der Dschungel war gleichzeitig undurchdringlich und durchdrungen von Luft und Sonne. John-Marlon wanderte durch eine Art Gang zwischen Holunder, Knöterich und einer Menge Pflanzen, deren Namen er nicht kannte. Dschungelpflanzen. Selbst der Knöterich wirkte hier wie ein Urwaldgewächs, er bildete armdicke Lianen, und seine weißen Blüten waren wie weiße Gischt auf grünen Wellen. Dazwischen blühte es groß und rot und trompetig, gelb und puschelig, blau und doldenförmig … Wie kamen all diese exotischen Pflanzen hierher? John-Marlon trat auf eine Lichtung, kletterte auf einen Schutthaufen und sah sich um. Das Urwaldgelände wurde an einer Seite von den Brettern und an drei Seiten von sehr hohen grauen Hauswänden begrenzt. Wänden ohne Fenster. Man konnte sich fast vorstellen, es wären Felswände im Dschungel. Es gab allerdings nicht nur Dschungel hier, es gab auch Sandhügel und eingetrocknete Fahrspuren von Baumaschinen, und irgendwo ragten die verrosteten Stücke eines Baggers aus hüfthohem Gras. Wasser glänzte in einem Tümpel oder einer Baugrube, und Reste alter Mauern standen herum. Vor langer Zeit hatte hier wohl ein Häuserblock gestanden, der abgerissen worden war, danach hatte die Welt dieses Grundstück vergessen. In den Bäumen sangen tausend Vögel, auf Kniehöhe zirpten Sommergrillen, und die Blätter über John-Marlons Kopf waren lebende Kunstwerke. Was immer John-Marlon zwischen den geheimnisvollen grünen Schatten finden würde, dachte er, eines war klar: Hier gab es keine Sportwettkämpfe. Und dann fand er den Brombeerbaum. Wirklich, einen Baum, auf dem Brombeeren wuchsen, und orangerot statt lila. Lila waren dafür die Blüten der Kletterpflanze, die sich um die Äste des Baumes schlang. John-Marlon streckte die Hand nach einer Brombeere aus – und da pfiff...