Michaelis | Solange die Nachtigall singt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Michaelis Solange die Nachtigall singt

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-86274-597-5
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Wald, der im Nebel ein Rätsel verbirgt. Ein Wanderer, der sich verirrt. Eine Geschichte, die dem Leser den Atem raubt. Nach Abschluss seiner Tischlerlehre begibt sich Jari auf Wanderschaft, um Freiheit und Natur zu genießen. Dabei trifft er auf Jascha, das bezauberndste Mädchen, dem er je begegnet ist, und folgt ihr zu ihrer Enklave mitten im Wald. Gefangen zwischen märchenhafter Schönheit und menschlichen Abgründen wird der harmlose Tischler zum unerbittlichen Jäger.

Poetisch und fesselnd erzählt Erfolgsautorin Antonia Michaelis die Geschichte einer Liebe, der kein Geheimnis zu düster und kein Opfer zu groß ist. Das Meisterwerk einer Märchenerzählerin.
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Flammseide
Sie wanderten lange so zu zweit durch den Wald. Der Boden stieg an und fiel wieder ab, steil hinauf und hinab führte der Pfad sie, zwischen Buchenstämmen hindurch, wo hohe Gräser im Wind schaukelten. Knorrige Eichen säumten den Weg; sie krallten ihre Wurzeln um runde Felsköpfe. An sumpfigen Stellen balancierten sie über umgestürzte Birkenstämme. Violette Blütenstauden ragten aus dem Wasser, hier und da eine gelbe Lilie. Jaris Mutter liebte Lilien, sie hatte ein ganzes Zwölferset an Servietten mit gelben Lilien bestickt. Jari beobachtete einen Frosch, der im feucht glänzenden Morast saß und ihn mit goldenen Augen ansah. »Bis wohin gehen wir zusammen?«, fragte er. »Das ist eine Frage, die nur du beantworten kannst«, sagte sie sanft und sprang leichtfüßig auf einen weiteren Baumstamm, eine weitere scheinbar zufällige Brücke durch den Sumpf. »Du bist ein Wanderer. Du kannst gehen, wohin du willst.« Er nickte. »Ich habe drei Wochen Zeit, mich gründlich in den Bergen zu verlaufen.« »Du hast bereits damit begonnen«, sagte sie und lachte. »Vorsicht!« Ihre Warnung kam zu spät, Jaris Füße rutschten auf einem glatten Stamm ab, und im nächsten Moment landete er rücklings im Sumpf. Sie watete auf ihren nackten Füßen zu ihm und streckte die schlanke Hand aus, um ihm hochzuhelfen. Die Berührung ihrer Finger war ihm beinahe unangenehm. Als sei dies bereits eine zu intime Geste, viel intimer als alles, was die namenlosen Mädchen in den schummrigen Ecken seiner Vergangenheit getan hatten. Er stand auf, sah an sich hinab; seine Jeans war getränkt mit dem Wasser des Moores. Er fluchte, und sie legte lächelnd den Finger an die Lippen. »Still, still.« Sie stand ganz dicht vor ihm und sah zu ihm auf. Ihre dunklen Augen waren wie das Moor. Man konnte nicht dahintersehen. »Wanderer«, sagte sie leise, »hast du auch einen Namen?« »Jari«, antwortete er. »Aber in der Lehre haben sie mich nur bei meinem Nachnamen genannt. Cizek. Der Zeisig.« »Ein Zeisig«, wiederholte sie nachdenklich und strich mit einer Hand durch sein Haar, das verklebt war vom Schlamm. Er musste aussehen wie ein kompletter Idiot. »Was ist ein Zeisig für ein Vogel?« »Er ist klein und unscheinbar«, sagte Jari. »Unbedeutend. Er tut nichts, als zu existieren. Er lebt in den Tag hinein. Nur wenn man ihm ein wenig näher kommt, bemerkt man die gelben Federn in seinem Kleid. Wenn man ihm näher kommt, ist er bunt.« »Und er fällt gern in den Schlick und macht sich diese schönen gelben Federn schmutzig«, sagte sie. »Aber ich mag sein Lied.« Er fing ihre Hand, als sie sie zurückzog, und die Berührung war noch immer wagemutig, obwohl es nur eine Hand war. Er hielt sie fest. Und in seinem Kopf standen glasklar, gestochen scharf die Worte: Ich flirte. Ich flirte mit einem Mädchen im Wald, dem schönsten Mädchen der Welt. Das war nicht der Plan. Sie wird gehen, in ihr Dorf, und ich bin erst am Anfang meiner Wanderung. »Und wie heißt du?«, fragte er. »Jascha.« »Jascha?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist ein Männername.« »Nicht nur. Es ist auch ein Name für eine Frau. Wenn man im Wald ganz auf sich gestellt ist, muss man manchmal ein Mann sein und manchmal eine Frau … Es gibt so viele Dinge, die nur ein Mann tun kann!« Sie riss sich los und lief weiter, ihr Lachen neckisch, ihr Haar wie ein schwarz glänzender Pinselstrich auf dem Waldbild, das sie durchquerte. Er rannte ihr nach, froh, dass der Weg hier wieder trocken und eben war. »Holz hacken!«, rief sie. »Wasser tragen! Mauern ausbessern! Bären jagen!« Sie drehte sich nach ihm um. »Manche versteinern, wenn man auf sie schießt.« »Gibt es hier Bären?« Sie zuckte die Schultern. »Wölfe gibt es. Sie hatten sie schon ausgerottet hier, aber es sind wieder welche eingewandert, von Polen her. Jetzt sind sie geschützt, und sie vermehren sich. Die Menschen in den Dörfern haben Angst vor ihnen.« »Und du?«, fragte Jari und wurde sich gleichzeitig bewusst, was sie zuvor gesagt hatte. Allein im Wald. Auf sich gestellt. Mauern ausbessern. »Warte«, sagte er. »Die Menschen in den Dörfern? Bist du denn keine von ihnen?« »Aber nein.« Sie schüttelte den Kopf und ließ ihr glänzendes schwarzes Haar wieder fliegen. »Ich lebe nicht in einem Dorf, auch wenn die Galeristin das glaubt. Ich habe es dir schon gesagt: Es ist nicht gut, wenn die Leute zu viel über einen wissen. Ich … ich lebe im Wald.« »Im Wald?« Es hätte ihn nicht erstaunt, wenn sie in die Krone einer Buche oder einer Eiche hinaufgezeigt hätte, wenn sie gesagt hätte: Dort oben, siehst du? Dort oben ist mein Nest. »Es gibt ein Haus da, ein altes Haus. Es ist jetzt nur noch mein Haus. Mein Vater … ist gestorben.« »Das tut mir leid.« Sie zuckte die Schultern. »Es ist eine Weile her.« »Eine Weile?« Wie lang war die Weile, die sie allein im Wald lebte? »Wie alt bist du?«, fragte er. »Ich habe vor zwei Wochen meinen achtzehnten Geburtstag gefeiert.« Jari nickte. »Dann sind wir beinahe genau gleich alt. Jascha und Jari.« Sie gingen langsam weiter, ernster jetzt. »Jari und Jascha«, wiederholte sie. »Der Zeisig und …« »Die Nachtigall«, sagte er. »Warum? Warum die Nachtigall? Du hast es schon einmal gesagt. Wie kommst du darauf?« Beinahe klang sie wütend. »Oh, wenn du lieber etwas anderes bist … Jascha, die Schnepfe?«, schlug er vor, grinsend. »Oder Jascha, die Zaunkönigin?« »Zäune«, erwiderte sie, »haben wir keine in diesem Wald.« Etwas raschelte ganz nah im Dickicht, etwas Großes, und Jari fiel erst jetzt auf, dass der Wald um sie dichter geworden war. »Ein Reh«, flüsterte Jascha. »Oder ein Hirsch.« »Ein Reh … kein Mensch?« Sie schüttelte den Kopf. »Menschen gibt es nur wenige hier.« Auf einmal schien sie zu frieren, er sah sie zittern, und sie griff in eine der Taschen ihrer altmodischen Kiepe und brachte einen Mantel zum Vorschein, den sie um sich schlang, ehe sie weiterging. Der Mantel war, wie Jascha selbst, wie der Wald, atemberaubend schön. Es war, als hätte jemand in seinem Stoff alle Pflanzen und Tiere des Waldes verwoben. Jari sah einen Fuchs zwischen den Ranken auf ihrem Ärmel hindurchspähen, er sah tausend kleine Vögel zwischen den blühenden Ästen auf ihrem Rücken nisten, beinahe hörte er sie singen. Er sah ein Wiesel durch den Efeu am Saum huschen, er sah Augen im gewebten, bestickten Dickicht. Jascha setzte die Kiepe wieder auf. »Komm mit«, sagte sie. »Ja«, sagte Jari. »Lass uns weitergehen. Dieser Teil des Waldes ist zu kühl und zu schattig.« »Ich meine nicht: Lass uns weitergehen. Ich meine: Komm mit mir«, wiederholte sie. »Zu dem Haus im Wald. Es ist ein wenig einsam dort.« Sie flüsterte jetzt. »Komm mit mir, nur für eine Nacht. Verjag die Einsamkeit.« Er nickte. »Ich könnte ein Bett für die Nacht brauchen. Warum nicht ein Bett in einem Haus im Wald.« Und während sie weitergingen, sang es in Jaris Herzen, ein übermütiges Zeisiglied. Er ging mit dem schönsten Mädchen der Welt, er, ein einfacher Tischlergeselle, ein brauner, unscheinbarer Vogel. Er war es, den sie auserwählt hatte, ihr zu folgen. Aber gleichzeitig war ihm merkwürdig kalt, als brauchte auch er einen Mantel, gewebt aus der Schönheit des Waldes. Kehr um, sagte die Stimme seiner Mutter, die aus einer Welt zwischen bestickten Tischtüchern und gestärkten Hemden zu ihm drang, kehr um, mein Junge, solange du noch kannst. Er ignorierte die Stimme. Er verjagte die Kälte und betrank sich an Jaschas Schönheit: dem Licht, das auf ihren Haaren spielte, den Falten des Stoffes um ihre Gestalt. Sie war wie ein bewegtes Gemälde. Ach was, dachte er und warf alle Bedenken über Bord. Er konnte seinen Plan genauso gut ändern. Zuerst das Mädchen, dann die Wanderung: ein draufgängerischer Satz, den er zu Hause wiederholen konnte. Sieh mal an, würde Matti sagen, unser schüchterner Cizek wird erwachsen. Zuerst das Mädchen, dann die Wanderung. Denn war der Grund, aus dem Jascha ihn mitnahm, nicht eindeutig? Sie brauchte einen, der die Einsamkeit vertrieb. Sie brauchte einen Bettgefährten für diese Nacht. Und wenn da noch etwas war, etwas Dunkles, Fremdes hinter ihrem eindeutigen Ziel wie das Dunkle, Fremde in dem Bild … dann wollte er jetzt in diesem Moment nichts davon wissen. Es war weit bis zu dem Haus im Wald, weiter, als er gedacht hatte. Ihre Wanderung durch den bergigen Wald zog sich Stunde um Stunde hin. Einmal durchquerten sie eine Klamm, hohe Felswände säumten ihren Pfad zu beiden Seiten, und Jari sah die Bäume mit ihren Ästen über die Felsen sehen wie neugierige Wächter. Der Fluss, der die Klamm einst gegraben hatte, war verschwunden, der Boden war bedeckt mit kunstvoll gefärbten Herbstblättern. Doch es war kalt in der Klamm, das Herbstlicht drang nicht auf ihren Grund, und Jari spürte eine gewisse Erleichterung, als die Felsen niedriger wurden. »Gibt es keinen anderen Weg?«, fragte er fröstelnd. Jascha zuckte die Schultern. »Man könnte vielleicht über die Felsen klettern, außen herum, über die Gebirgshänge. Aber es wäre gefährlich und ein weiter Umweg dazu. Die Klamm ist wie ein breiter Weg.« Jari sah sich um. »Ein breiter Weg«, murmelte er. »Sie ist mehr wie … ein Tunnel. Ich mag sie nicht.« »Aber wenn man hier ist«, entgegnete Jascha, »weiß man, dass man die Hälfte des Weges geschafft hat.« Der Nachmittag kam und ging, das Licht wechselte seine Farbe, von Gold zu Rot, von Rot zu Violett, und zwischen den Bäumen kroch die Dämmerung...


Antonia Michaelis, Jahrgang 1979, in Norddeutschland geboren, in Süddeutschland aufgewachsen, zog es nach dem Abitur in die weite Welt. Sie arbeitete u.a. in Südindien, Nepal und Peru. In Greifswald studierte sie Medizin und begann parallel dazu, Geschichten für Kinder und Jugendliche schreiben. Seit einigen Jahren lebt sie nun als freie Schriftstellerin in der Nähe der Insel Usedom und hat zahlreiche Kinder und Jugendbücher veröffentlicht, facettenreich, fantasievoll und mit großem Erfolg. "Der Märchenerzähler", ihr erstes Buch für junge Erwachsene, wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2012 nominiert. Über ihren Alltag als Mutter und Autorin berichtet Antonia Michaelis mit viel Witz und Esprit in einem Weblog auf oetinger.de.


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