E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7320-1097-4
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
An einem grauen Tag am Hemmelighet Fjord kriecht Theo und Sophie ein überaus seltsames Wesen über den Weg. Es bewegt sich auf zahlreichen Nasen fort und stellt sich als das Nasobem vor. Und es warnt die beiden. Wovor, verrät es leider nicht. Doch kaum ist das Nasobem davongenäselt, ziehen acht rote Raben über den Geschwistern ihren unheilvollen Kreise. Sie kommen näher und näher. Und schon sind Theo und Sophie mittendrin in einem magischen Abenteuer – und in großer Gefahr.
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Die Möwen
Hatte Theo den Raben wirklich gesehen? Einen Raben so rot wie die Blätter der Blutbuche. Womöglich erwachte Theo davon, dass auf dem Fensterbrett eine Krähe saß und hereinsah. Er schlug die Augen auf und blickte direkt in die ihren: kleine schwarze Knopfaugen, die ihn aufmerksam beobachteten. „Theo“, sagte er zu sich, „Theo, du spinnst. Die Krähe sitzt nur zufällig da. Sie sieht dich wahrscheinlich nicht einmal.“ Wer wusste schon, was Krähen überhaupt sehen? Vermutlich wunderte sie sich über den bunten Fleck der Bettdecke, der ungewohnt in ihrem verschwommenen Weltbild aufgetaucht war. Er warf einen Blick zu Sophie hinüber. Seine Schwester gähnte, und das Bett quietschte, als sie sich darin streckte. „Theo“, murmelte sie verschlafen. „Können Fische singen?“ „Wie?“, fragte er irritiert. „Singen? Fische? Natürlich nicht. Das hast du geträumt.“ „Es steht über meinem Bett“, erklärte Sophie schläfrig. Jetzt, dachte Theo, sind hier alle endgültig übergeschnappt. „Komm und sieh es dir an“, meinte Sophie, drehte sich auf den Bauch und fuhr mit dem Zeigefinger ein Muster im hölzernen Kopfteil des Bettes nach. Theo schlüpfte unter seiner Bettdecke hervor und ging über den Dielenboden zu ihr hinüber. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Krähe jede Bewegung aufmerksam verfolgte. Über Sophies Bett stand tatsächlich etwas. „Fisches Nachtgesang“, las Theo und schüttelte den Kopf. „Es ergibt nicht besonders viel Sinn“, sagte Sophie. „Nein“, antwortete Theo. „Das tut es wirklich nicht. Wer es wohl ins Holz geritzt hat?“ Das wusste Sophie auch nicht, und so zogen sie sich schließlich an und gingen die schiefe Treppe hinunter in die Küche. Theo sah noch, wie die Krähe wegflog. Ganz so, als gäbe es für sie jetzt nichts Interessantes mehr zu beobachten. Unten in der Küche kämpfte Mama mit dem Gasherd. Offenbar versuchte sie, Tee zu kochen. „Guten Morgen“, sagte sie zum Gasherd und fluchte gleich darauf leise, weil sie sich verbrannt hatte. „Guten Morgen“, sagte Theo – auch zum Gasherd, wie es ihm schien, denn Mama sah nicht auf. Stattdessen füllte sie einen uralten, metallenen Kessel mit Wasser und platzierte ihn auf der Flamme. Dann endlich drehte sie sich um. Ihre Haare sahen trotz der Kürze verstrubbelt aus, eine Spinnwebe hatte sich an ihrem linken Ohr verfangen, und über ihre linke Wange zog sich ein schwarzer Streifen – Ruß oder Dreck oder keine Ahnung was. „Mama!“, sagte Theo. „Wie siehst du denn aus!“ „Glücklich“, antwortete Sophie. „Glücklich sieht sie aus.“ Und das stimmte. Mama krempelte die Ärmel ihres karierten Hemdes hoch und grinste. „Dieses Haus ist wirklich riesig. Ich habe schon mal angefangen, mich ein wenig umzusehen“, erklärte sie. „In einer Spinnwebe?“, fragte Theo. Sie lachte. „Nicht direkt. Aber hier muss wirklich einiges gemacht werden. Eigentlich ist alles da: Töpfe und Pfannen und Teller und Tassen …“ Aha, dachte Theo. Sie hatte ihr altes Geschirr tatsächlich zu Hause gelassen. „Und was hast du mit deinem Hemd gemacht?“, fragte Sophie. „Wieso ist es so … so verbläut?“ Mama sah an sich hinunter. „Oh, äh“, sagte sie und kicherte ein bisschen. „Ich wollte nur nachsehen, was für Farbe in den alten Dosen auf dem Dachboden ist. Blau, wie man sieht. Und dann habe ich gleich mal einen Fensterrahmen gestrichen, probeweise.“ „Du solltest etwas über das Hemd drüberziehen“, sagte Theo. „Stimmt“, sagte Mama und griff nach dem erstbesten Kleidungsstück, das herumlag. Da sie sich in der Küche befanden, war das eine Schürze. Theo schüttelte den Kopf. „Doch keine Schürze“, sagte er. „Zum Malern braucht man einen Kittel. Das weiß doch jeder.“ „Ich habe aber keinen Kittel“, erwiderte Mama fröhlich und wischte sich ein paar immer noch blaue Finger an der Schürze ab. „Und jetzt ist sie sowieso im Eimer“, sagte sie und lachte wieder. Also manchmal, dachte Theo, ist Mama ganz schön verrückt. „Was ist das auf dem Tisch?“, erkundigte sich Sophie vorsichtig. „Das ist das Frühstück“, sagte Mama. Auf dem Tisch standen zwei sehr verstaubte Gläser, auf denen man mit einiger Mühe das Wort Kompott entziffern konnte. Theo öffnete eines – äußerst vorsichtig – und roch daran. Himbeere. „Irgendwo waren doch Löffel …“, murmelte Mama und wühlte in den Schubladen. Kurze Zeit später saßen sie zu dritt um den Küchentisch und löffelten mindestens hunderttausend Jahre altes Himbeerkompott aus dem Glas und tranken dünnen schwarzen Tee, den Mama auch in irgendeiner verstaubten Ecke gefunden hatte. Theo rümpfte die Nase. Aber Mama sah so begeistert aus, als wäre sie erst acht und erlebte gerade ihr erstes Pfadfinderlager. „Es muss unglaublich viel an diesem Haus getan werden“, verkündete sie. „Ich fahre gleich los in die nächste Stadt und besorge ein paar Dinge … Bretter und Farbe … und ich muss mal sehen, wo ich in dieser Gegend Handwerker herbekomme …“ „Sieh doch mal nach“, schlug Theo vor. „Vielleicht findest du welche auf dem Dachboden.“ „Ach, Theo“, sagte Mama und drückte ihn kurz, ehe er sich wehren konnte. Danach drückte sie auch Sophie und wirbelte davon. „Der Schlüssel liegt auf der Fensterbank“, rief sie noch, während sie sich bereits in ihre Jacke hangelte. Sie warf die Haustür zu, dass es nur so krachte, und tauchte gleich darauf vor dem Küchenfenster auf. „Ach, und fallt nicht ins Meer, und lasst euch nicht von einer Kuh treten!“, schrie sie durch die Scheibe. „Bis später!“ Sie hörten den alten Lieferwagen auf der Auffahrt röhren und zetern. Der Kies spritzte nach allen Seiten auf wie Wasser, dann fand Mama den Vorwärtsgang, und der Wagen schoss los. Sein Rattern verklang unmelodisch in der Ferne. „Tja“, sagte Sophie. „Jetzt sind wir allein.“ „Sieht so aus“, sagte Theo. Und wenn man schon allein war, konnte man sich ja wohl wenigstens mal ein bisschen umsehen! Also begannen Theo und Sophie, sich umzusehen. Das Haus hatte insgesamt drei Stockwerke, alle voll gestopft mit verstaubten Möbeln und uralten gelblichen Tapeten, auf denen sich winzige Blümchen aus einer längst vergessenen Zeit tummelten wie übermütige Großmütter. Unten im Erdgeschoss befanden sich die Küche, der Flur und ein großes Wohnzimmer. Im Flur hing neben ihren Regenjacken noch immer die ausgeblichene Schürze der alten Frau, und Theo dachte, man könnte sie gut für ein Theaterstück über Großmütter verwenden. Im Wohnzimmer stand ein Klavier. Sophies Finger hinterließ eine Spur in der Staubschicht auf seinem Deckel. Er sträubte sich ein wenig, als sie ihn hochklappte. Vielleicht war das Klavier beleidigt, weil so lange niemand mehr auf ihm gespielt hatte. Sophie ging mit ihren Fingern auf den alten Tasten spazieren, und die verstimmten Töne erhoben sich zögernd in die Luft, wo sie eine Weile ratlos herumzuhängen schienen. Über dem Klavier befand sich ein Bild von einem Mann mit Bart, der den Kopf ein wenig schief hielt, als müsste er für ein Passfoto das linke Ohr frei machen. Er sah ein bisschen nachdenklich aus. Offenbar war er sich nicht ganz sicher, ob er im nächsten Moment schmunzeln oder es lieber bleiben lassen sollte. „Christian Morgenstern“, las Sophie unter dem Bild. „Wer ist das?“ Theo zuckte die Achseln. „Frag Mama. Wolltest du sie nicht auch wegen diesem Fisch fragen? Und den komischen Zeichen?“ „Sie hatte es so eilig“, sagte Sophie. Sie erforschten das Haus von oben bis unten und fanden neben einer Menge alter Möbel noch drei weitere Bilder von dem Mann mit dem Bart. Auf einem saß er in einem Garten auf einer steinernen Bank, auf einem lehnte er an einem Baum, und eines war ein Porträt von der Seite. Aber auf keinem hatte er sich zu dem Schmunzeln durchgerungen. Es saß irgendwo in seinen Mundwinkeln und wartete noch immer darauf, geschmunzelt zu werden. Was noch herumsaß, waren die Krähen. Sie hockten auf den Fensterbrettern und lugten durch das schmutzige Glas herein, sie folgten den Geschwistern von Zimmer zu Zimmer, sie blinkerten mit ihren schwarzen Augen und steckten die Köpfe zusammen, als würden sie tuscheln. „Hab ich es dir nicht gesagt?“, fragte Sophie. „Sie spionieren uns nach. Ich mag sie nicht.“ Theo tippte sich nur mit dem Zeigefinger an die Stirn. Sophie stellte sich an ein halb zerbrochenes Fenster, machte ihre Augen ganz schmal und starrte die beiden Krähen an, die sich dort in einer Ecke herumdrückten. Die Krähen wichen zurück. „Was wollt ihr?“, fragte sie eindringlich. „Habt ihr nichts Besseres zu tun, als hier rumzulungern?“ Da musste Theo beinahe lachen, so verlegen wirkten die Krähen auf einmal. Sie wanden sich unter Sophies Blick, und schließlich hopsten sie vom Fensterbrett und flogen mit langen, unschönen Flügelschlägen über die Wiese fort. Die Kinder sahen zu, wie sie auf einem der hohen Bäume im Garten landeten und in das unmelodiöse Kraaahkraaah ihrer Artgenossen einstimmten. Sophie schüttelte sich. „Was sie wohl sagen?“ „Sie sagen gar nichts“, erklärte Theo nachdrücklich. „Es sind einfach nur Krähen, die nichts mit sich anzufangen wissen. Und wir sind neu und interessant. Bald haben sie sich an uns gewöhnt und fliegen weg.“ Aber als die beiden wenig später auf der kiesigen Auffahrt standen und in die Bäume...