E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten
Reihe: Der Märchenerzähler
Fesselnder Thriller über Liebe, Erwachsenwerden und die Schatten der Vergangenheit (Der Märchenerzähler, Band 2)
E-Book, Deutsch, Band 2, 400 Seiten
Reihe: Der Märchenerzähler
ISBN: 978-3-96052-267-6
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Viel Zeit ist vergangen, seit Abel Tannatek, der Märchenerzähler und Wolf, den Tod fand. Sein Sohn Elias weiß nicht, ob er ihn hassen oder vermissen soll. Doch dann, kurz vor seinem 18. Geburtstag, macht Elias eine merkwürdige Entdeckung: Seine Mutter Anna schreibt dem Märchenerzähler Briefe – und bekommt Antworten. Elias beginnt ihr nachzuspionieren. Lebt sein Vater etwa noch? Wer ist der Schatten im Wald, den er manchmal zu sehen glaubt und was verheimlicht Micha, Abels Schwester? In den geheimnisvollen Briefen liest er ein neues Märchen, ein gefährliches, mörderisches Märchen, so wie jenes vor 18 Jahren. Auf den Spuren der Liebe seiner Eltern verliebt sich Elias selbst zum ersten Mal. Und er beginnt, sich vor sich selbst zu fürchten. Was wenn er wie sein Vater ist? Der Jugendroman »Im Schatten des Märchenerzählers« von Antonia Michaelis ist packender Thriller und Liebesgeschichte in einem.
Erwachsenwerden unter einem dunklen Stern
- Antonia Michaelis erzählt fesselnd von erster Liebe und von der Suche nach Identität.
- Die Fortsetzung von Der Märchenerzähler ist ein mitreißender Mix aus Mystery und Coming of Age.
- Spannender Lesestoff für junge Menschen ab 16 Jahren.
- Wird Elias herausfinden, ob sein Vater, der Mörder und Märchenerzähler noch immer lebt?
- Der Märchenerzähler Band 1 war nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Gold
Der Tag, an dem Elias das Märchen fand, war der erste wirklich goldene Tag des Herbstes. Es war ein windiger Tag, ein Tag voller zerrissener graublauer Wolken, und vor dem Himmel wirbelte das Gold. Fetzen, Scherben, Blattgold: Goldblätter. Die Luft war voll davon. Sie hatten Sturm angesagt. Er mochte Sturm. Er war mit dem Rad zum Strand hinausgefahren, und er fühlte sich betrunken vom Wind. Zwischen den Zehen spürte er den Sand, er hatte Turnschuhe und Socken ausgezogen. Es war natürlich kindisch, barfuß durch den Oktobersand zu laufen, wenn man beinahe achtzehn war. Egal, niemand sah ihn. Bis auf den Hund. Aber der Hund trug schließlich auch keine Schuhe. Sie waren oft zusammen kindisch, er und der Hund, sie durchstreiften die Wälder, seit er ein kleiner Junge und der Hund ein Welpe war. Jetzt war der Hund alt. Ein Wolfshund. Manche Spaziergänger erschraken, wenn sie ihn sahen, weil sie ihn für einen echten Wolf hielten. Elias erklärte ihnen geduldig, dass er keiner war. Und er hörte aufs Wort, wenn man pfiff, kam er angesaust wie ein Komet. Kometenhund. Micha hatte das gesagt. Früher war sie oft mit Elias und dem Hund durch die Wälder gewandert. Sie hatten den Hund zusammen erzogen, sie war dreizehn gewesen und er sechs, und sie war ihm immer so erwachsen vorgekommen. Sie hatte gesagt, sie könnten sich heute hier treffen, mal wieder zusammen spazieren gehen, sie bräuchte eine Pause vom Lernen fürs Examen. Die Uni fraß sie auf. Sie würde mit ihm barfuß durch den Sand laufen, Micha war auch gerne kindisch. Er sah auf sein Handy. Er hatte noch Zeit, bis sie kam. Er würde zur Landspitze hinauswandern, wo der Wind am stärksten war, und vielleicht konnte er filmen: die dunklen Kiefern, die rotgoldenen Herbstbuchen: Sie waren Kunstwerke. Er musste das Handy benutzen, die Kamera lag zu Hause. Die Filme waren so eine Sache; er hatte immer schon Dinge gesehen, die andere Menschen nicht sahen, winzige Dinge, schöne Dinge, Ausschnitte. Manchmal auch schlimme Dinge. Auf seinem Rücken steckte in ihrer alten braunen Hülle die Gitarre, die ihn begleitete wie der Hund. Die auch die Filme begleitete. Aber eigentlich hatte er sie dabei, weil Micha ihn gebeten hatte, für sie zu spielen. Für die Filme gab es Regeln: Erstens, sie durften nicht länger sein als eine Minute. Zweitens, sie mussten ästhetisch sein. Drittens, sie mussten etwas aussagen, das er formulieren konnte, aber niemals formulieren würde, denn darauf kam der Betrachter entweder selbst, oder der Film war Müll. Und viertens: Es würde keine Betrachter geben. Noch nicht. Er war noch nicht perfekt. Eines Tages, wenn er gut genug war, würde er versuchen, auf der Filmhochschule aufgenommen zu werden. Er warf einen Stock für den Hund, der davonraste, wanderte durch den Goldwald und suchte Bildausschnitte: brechende Äste, wirbelnde Bewegung, Schönheit und Zerstörung. Zur Linken blitzte das blaue Wasser durch die Stämme, die Wellen trugen weiße Schaumkronen, fast kitschig, märchenhaft. Vielleicht waren seine Kurzfilme Märchen: schön und symbolbeladen. Sein Vater hatte Märchen erzählt. Aber manche Märchen waren zu traurig. Er war so alt gewesen wie Elias jetzt, als er sich das Leben genommen hatte. Er hatte nichts von Elias Existenz gewusst. Der Hund war wieder da, hechelnd, stolz, und Elias grinste und nahm ihm den Stock ab. »Das ist überhaupt nicht der, den ich geworfen habe«, sagte er. »Du schummelst.« Er warf den Stock noch einmal, in dem Wissen, dass der Hund, dessen Geruchssinn nachließ, ihm einen anderen bringen würde. Er würde beim nächsten Mal so tun, als merke er es nicht. Er fing den Hund mit dem Auge des Handys ein, seinen Übermut, die Sprünge, die er trotz seines Alters vollführte. Die Blattgoldfetzen im Wind. Das Meer zwischen den Stämmen. Wellen, auf denen weiße Schwäne wippten. Und dann, als er am Ende des Strandes war, wurde der Wind zum Sturm, und Elias stand da und begrüßte ihn. Wolken verdunkelten den Himmel, Böen bliesen ihm das helle Haar ins Gesicht, er sah nicht mehr, was er filmte. Er rief den Hund, steckte das Handy ein und stemmte sich gegen den Wind, der die Bäume bog. Äste fielen krachend im Wald hinter der Küste. Es geschah, dachte er mit plötzlicher Sorge, zu schnell. Er war sich nicht mehr sicher, dass es eine gute Idee war, gerade jetzt hier draußen herumzuwandern. Er ging den Pfad zwischen den Bäumen entlang, geduckt, vorbei an den gestürzten Kiefern am Strand, die andere Stürme gefällt hatten: Sie glichen Knochen, blass, von Wetter und Wind entrindet, schön auf eine makabre Art. Als Kind war er auf ihnen balanciert, an der Hand seiner Mutter. Anna. Und Micha war vorausgelaufen, seiltänzerisch sicher. Seine wunderbare Schwester. Dabei war sie gar nicht seine Schwester. Es war kompliziert. Sie war die Schwester seines Vaters, aber sie waren aufgewachsen wie Bruder und Schwester. Genauso wie Linda und Magnus seine Großeltern waren, aber eigentlich immer gewesen waren wie Eltern. Vielleicht wartete Micha jetzt auf ihn, dort, wo der Strand begann, bei der Straße. Der verdammte Sturm war zu stark, er kam nicht voran, kämpfte sich mit gesenktem Kopf vorwärts. Die Wellen waren grau jetzt, der Tag verschwunden unter einem Mantel aus zu früher Nacht, Blitze zuckten übers Meer. Der Hund drückte sich zitternd gegen Elias’ Beine. In der Luft war der Geruch von Elektrizität. Vermutlich war Micha schlau genug gewesen, gar nicht nach Ludwigsburg rauszufahren, vermutlich hatte sie die Sturmwarnung ernster genommen als er. Es gab eine Geschichte über seine Mutter, hier draußen, in einem Sturm. Aber es war ein Schneesturm gewesen. Sie hatte ihm die Geschichte erzählt, als er klein gewesen war, er hatte im Bett gelegen, unter der warmen Decke, und sie hatte erzählt, wie sie fast aufgegeben hatte und dann gerettet worden war. Von einem Freund mit einem Auto. Es war schön, solche Geschichten zu hören, wenn man im Bett lag und nicht fror. Er fror jetzt. Und er war kein Kind mehr, alle Betten und Sicherheiten waren weit fort. Er fand eine alte Kiefer, die vor langer Zeit gestürzt war, aber weitergelebt hatte, ihr riesiger Wurzelballen war halb aus der Erde gerissen worden und bot Schutz vor dem Wind. Dort, wo sie einmal im Boden gesessen hatte, gab es eine Vertiefung, eine Grube, umwuchert von den Zweigen einer wilden Kletterrose: Zweigen mit winzigen roten Hagebutten und ein paar letzten Blüten. Er kletterte über die Dornen und kauerte sich hin, an seiner Seite der Hund. Seine Hände brannten, die Dornen hatten die Haut aufgerissen. Er zog das Handy wieder aus der Tasche und filmte, durch einen Spalt im Astwerk, die brechenden Bäume. Die Brandung, die über den Sand hinaufkam und Welle für Welle das Ufer fraß. Da waren Pappkartons, Plastiktüten, eine Flasche. An der Wurzel vor ihm flatterte ein alter Stofffetzen, blauviolett, brüchig, vor Unzeiten dort festgeknotet: Die Handykamera fing auch das ein, ein Farbfleck im Chaos. Das Ende der Welt in Sekundenaufnahmen. Der Hund winselte. »Verdammt«, flüsterte Elias. »Wenn das Wasser noch höher kommt, fließt unsere Grube voll. Wir sollten …« Und in diesem Moment krachte etwas direkt über ihnen. Elias reagierte blitzschnell, rollte sich zusammen, hielt die Arme über den Kopf, schützte mit seinem Körper den Hund. Etwas neigte sich, stürzte, fiel, direkt auf sie zu. Er dachte an die Gitarre auf seinem Rücken, die zerquetscht werden würde, und er dachte, dass es Wahnsinn war, an die Gitarre zu denken, wenn er selbst vielleicht zerquetscht wurde. Er dachte auch an den alten Mann, der in einer einsamen Wohnung saß und traurig wäre, wenn Elias nie mehr für ihn spielen könnte. Und an seine Mutter und das Silber der Querflöte in ihren Händen. Was man so denkt, wenn man glaubt, es ist vorbei. Er hob den Kopf. Es war jetzt dunkel um ihn. Das Handy, das er immer noch festhielt, filmte die Dunkelheit. Er hörte, ganz nah, das Atmen des Hundes. Er tastete. Da war eine Handbreit Luft zwischen der Gitarre auf seinem Rücken und dem Dach der Höhle. Dach? Es war ein Dach aus rauer Rinde. Ein Nachbar der Kiefer war gefallen und lag jetzt quer über der Grube, in der Elias kauerte. Verschloss sie. Aber ihm war nichts geschehen. Es war ein Wunder. Er legte das Handy auf den Boden und stemmte sich mit beiden Armen gegen den Stamm über ihm. Der Stamm ruckte – und lag wieder still. Elias bekam den Baum ein wenig angehoben, aber lange nicht weit genug, um hinauszuklettern. Beim zehnten Versuch gab er auf, kauerte sich in der Dunkelheit zusammen, sammelte Kraft. Seine Arme schmerzten, sein Rücken schrie. Das Handy hatte kein Signal hier unten, er konnte niemanden anrufen, der half. Stell dir vor, du schaffst es nicht. Gar nicht. Stell dir vor, niemand findet dich. Was für ein absolut bescheuertes Ende. Unter einem Baumstamm, drei Wochen vor deinem achtzehnten Geburtstag. Dein Vater hat es nicht geschafft, achtzehn zu werden. Vielleicht ist es ein Fluch, der auf dir lastet. Vielleicht wirst du es auch nicht schaffen. Er schüttelte sich. Stemmte sich noch einmal gegen den Stamm, wieder hob er sich um ein wenig … und dann ging es ganz plötzlich leichter. Und ein dicker Ast wurde von außen zwischen den Stamm und den Rand des Grabens geschoben, ein Ast, mit dem sich der gestürzte Baum vielleicht weghebeln ließ. Da war jemand, da draußen. Micha, dachte Elias, sie ist hier. Doch dann sah er die andere Person – ausschnittsweise im Blättergewirr: einen blassen Arm, eine...