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E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Michaelis Drachen der Finsternis

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-7320-1095-0
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Niemand weiß um Nepals Thronfolger, der einst unsichtbar auf die Welt kam. Gleichwohl liegen die Geschicke des Landes einzig in Jumars Hand: Er ist es, der sich auf den Weg in die schneebedeckten Berge macht, um den Aufständischen Einhalt zu gebieten, die seinen Vater stürzen wollen. Gleichzeitig schwebt jedoch noch eine andere Bedrohung über dem Land - die Schatten ebenso schöner wie beängstigender Drachen lassen die Menschen in Städten und Dörfern zu Bronzestatuen werden. Jumars Suche nach den Drachen und den Aufständischen wird schon bald zu einer Suche nach der Wahrheit. Und Jumar ahnt, dass es nur eine Möglichkeit gibt, sein Volk zu retten. Er muss einen Weg finden, sichtbar zu werden …
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NEPAL
Der Garten lag still im Morgenlicht, so still wie ein geheimer Gedanke. Die Tempelbäume fächerten ihre weißen Blütenräder der Sonne entgegen, und die ersten Feuerlilien öffneten ihre Kelche eben dem kommenden Tag. Ein Lizzard huschte als blassgrüner Streifen über die Mauer. Aus Tausenden und Abertausenden von Blüten strömte ein verschwenderischer Duft, der sich unter der Glaskuppel fing wie eine Wolke, und draußen in der Stadt sagten sie, bisweilen würde es aus jener Wolke regnen, und der Regen fiele wie Tränen auf den Garten und überschwemmte die Wege, überschwemmte die Beete und Mäuerchen, und eines Tages würde er den Palast überschwemmen – eine Sintflut aus Blütenduft. Aber das war nur eines der Dinge, die sie sagten. Keiner von ihnen hatte den Garten jemals gesehen. Sie kannten nur seine hohen, unüberwindlichen Mauern. Und wenn sie darüber sprachen, was dahinterlag, senkten sie ihre Stimme zu einem Wispern. Denn dort, im Garten, im Schutz der Mauern, im Schatten der Bäume, unter der gläsernen Kuppel, inmitten des Duftes, dort schlief die Königin. Sie schlief nicht wie im Märchen. Sie schlief in der Realität. Und es war besser, man sagte es nicht so laut. Etwas war geschehen, und sie war in einen tiefen Schlaf gefallen, aus dem niemand sie erwecken konnte. Nicht einmal die Ärzte, die von weit her gekommen waren, in großen Flugzeugen übers Meer – nicht einmal die. Sie alle hatten nur den Kopf geschüttelt und waren wieder in ihre Flugzeuge gestiegen und zurückgeflogen, und vermutlich hatten sie den merkwürdigen Fall der nepalesischen Königin und ihres tiefen Schlafs inzwischen längst vergessen über den Zahlen und Formeln, die sie in ihre Abrechnungen eintragen mussten. Die Königin schlief seit vierzehn Jahren. An jenem Morgen aber, an dem der blassgrüne Lizzard über die Gartenmauer huschte, öffnete sich eine Seitentür des Palastes, um jemanden einzulassen, und etwas begann zu geschehen. Später sagten sie, man hätte es längst ablesen können an den Zeichen im Himmel und den Tönen in der Luft und auch an den Linien in irgendjemandes Hand. Oder vielleicht am Wetterbericht. Aber das sagen sie später stets. Jumar Sander Pratap hörte das Klopfen zuerst. Der Gang, in dem sich die Tür befand, gehörte zu den Räumen der Bediensteten, und Jumar hatte dort nichts zu suchen, denn ein Thronfolger gehört nun einmal nicht in solcherlei Räumlichkeiten. Aber es hatte Jumar noch nie gekümmert, wohin er gehörte und wohin nicht. Und es war schwer, ihm zu verbieten, sich hier oder dort aufzuhalten. Man konnte nie genau sagen, wo Jumar sich befand. Denn in den vierzehn Jahren, die er im Palast lebte, hatte kein Mensch Jumar je gesehen. Nicht einmal er selbst. Darüber sagten sie nichts, draußen in der Stadt. Sie wussten nichts davon. Keiner, kein Einziger in ganz Kathmandu wusste, dass es einen Thronfolger gab. Denn es entbehrte nicht einer gewissen Peinlichkeit, einen Sohn zu haben, den man nicht sehen konnte. Man stelle sich vor: das Geschrei. Die Gerüchte. Und die ausländische Presse. Nein, es gehörte sich nicht, nicht gesehen zu werden, und so lebte Jumar nicht nur ungesehen, sondern auch unbekannt sein Leben zwischen den Mauern und Teppichen des Palastes – ein Leben, das mehr Schein war als Sein, oder vielleicht gerade Sein ohne Schein, und an dieser Stelle kam er immer durcheinander. Sie hatten versucht, ihn sichtbar zu machen. Die Kleider, die seine Haut berührten, benahmen sich so empörend und unangemessen wie die Haut selbst und verschwanden vor den Augen der Bediensteten, sobald er sie überstreifte. Jede zweite Schicht Kleider aber, die mit der unangemessenen Haut keinen Kontakt hatte, blieb sichtbar, und so lief Jumar auf Anordnung seines Vaters als seidene Hülle seiner selbst durch die Palastgänge. Seit er als Fünfjähriger eine ganze Schüssel Reispudding entwendet hatte, musste er Handschuhe tragen, damit die leblosen Gegenstände, die er berührte, nicht ebenfalls ihre Sichtbarkeit aufgaben. Aber was heißt Anordnung? Was heißt Befehl? Wer kann einem Unsichtbaren befehlen? Womöglich streifte da jemand die zweite Schicht Kleidung bisweilen ab, um ungesehen durch den Palast zu streunen? Nur die Außentüren, die Türen zur Stadt, blieben dem unsichtbaren Thronfolger verschlossen. Seit vierzehn Jahren gab es nur noch ein Minimum an Bediensteten im Palast. Und dieses Minimum war dazu verdammt, seine Schlüssel zu den Außentüren um den Hals zu tragen. Und beim Öffnen und Schließen der Türen peinlich genau darauf zu achten, dass niemand mit ihnen hinausschlüpfte, hinein ins Gewirr der Stadt. Man stelle sich vor: mit einer zweiten Schicht Kleidung – der Himmel bewahre! Die Schlagzeilen in den Köpfen der Leute! Gesichtsloser gesichtet. Unheimliches heimlich aus Palast entflohen. Wer ist er, der mit dem blicklosen Blick? Den körperlosen Schritten? Der mundlosen Stimme? Seit vierzehn Jahren war der Thronfolger Nepals ein Gefangener noch nicht entstandener Gerüchte. Und wer den Schlüssel nach draußen trug – wer den Gesichtslosen gesichtet hatte, den Mundlosen hatte sprechen hören –, der trug auch ein Schloss vor dem Mund. Allerdings wiederum ein unsichtbares. Aber kehren wir zurück in jenen Gang neben der Küche, in die Räume der Bediensteten, zurück zu dem Geräusch: Jumar blieb stehen und lauschte. Er wunderte sich und legte den Kopf schief – nicht, dass das optisch etwas an seiner Erscheinung geändert hätte – und lauschte weiter. Das Geräusch glich dem Kratzen eines Hundes. Es hatte etwas Verzweifeltes. Er hatte gehört, dass es Unruhe gab, da draußen, dass sie wuchs – obgleich er nicht wusste, welcher Natur diese Unruhe war. Man hatte ihm gesagt, dass es gefährlich sein konnte, sich dieser Tage in der Nähe von Türen aufzuhalten. Jumar hatte noch nie in seinem Leben etwas Gefährliches getan. Die Welt, deren Teil er war, war voll von weichen Kissen und Musikstunden und Englischtexten und Sinuskurven auf Millimeterpapier, voll von Schwimmstil-Übungen im königlichen Pool (denn einzig bei dieser Sportart konnte man ganz ohne doppelte Kleidungsschicht seine Kooperation kontrollieren, da sich das Wasser bewegte), voll von Computerkursen und fremdsprachigen Briefpartnern und Büchern, aber nichts darin barg Gefahr. Als er an jenem Tag (an dem der blassgrüne Lizzard … aber das wissen wir schon) das verzweifelte Kratzen an der Tür im Flur hörte, durchlief es ihn wie ein Hauch, gleichzeitig kalt und heiß, kurz: wundervoll. Und obwohl er wusste, dass er besser kehrtgemacht hätte, blieb er stehen und wartete. Die Tür öffnete sich unerwartet plötzlich. Der, der draußen gewesen war, hatte es endlich geschafft, sie aufzuschließen – und fiel Jumar in die Arme. Jumar taumelte zurück, und genau in diesem Moment änderte sich seine Welt für immer. Er stürzte zusammen mit dem anderen Menschen zu Boden, und ein Geruch nach Schweiß und Dreck und Blut hüllte ihn ein, Dinge, die er noch nie gerochen hatte und deren Intensität ihm den Atem nahm. Dennoch begrüßte er sie – er begrüßte sie, wie man ein unbekanntes Land begrüßt, und als er sah, dass es sein alter Diener Tapa war, der halb auf ihm lag, und als seine Finger in klebriges, warmes Blut griffen, da mischte sich sein Entsetzen mit der Gier nach Neuem, nach dem Dunklen, nach dem Gegensatz von all dem, was er kannte. Später schämte er sich dafür, doch er konnte dieses Gefühl nicht leugnen. „Tapa!“, keuchte Jumar und kämpfte sich hoch. Er schloss eilig die Tür und fiel neben dem alten Mann auf die Knie. „Was – wie –?“ Die Kleider des Alten hingen in Fetzen und waren an so vielen Stellen zerrissen und dunkel verfärbt, dass Jumar sich ernstlich fragte, ob all dies wirklich Blut sein konnte, das sich zuvor in Tapas Körper befunden hatte. Er schloss, dass nicht mehr viel darin war, und versuchte, den alten Mann zu stützen. „Eure Hoheit“, flüsterte Tapa, „ich muss – ich muss Euren Vater sprechen.“ Jumar drehte das Gesicht des Alten zu sich, sah die aufgesprungenen Lippen und die verquollenen Augen, das trockene Blut, das seine Nasenlöcher verkrustete, und den Dreck, der sein schütteres Haar verklebte. Übelkeit stieg in ihm auf. „Wer hat das getan?“, wisperte er. „Sie“, antwortete der Alte heiser und zeigte in eine unspezifische Richtung. „Ich war bei meiner Tochter, in ihrem Dorf –“ „Ich weiß, Tapa, ich weiß.“ Jumar versuchte sich verzweifelt zu erinnern, ob er irgendwann einmal etwas darüber gelernt hatte, was man mit Verletzten tut, die einem in die Arme fallen. „Sie waren dort, in dem Dorf. Jemand hat ihnen gesagt, dass ich im Palast arbeite – die Leute hungern, sagen sie, sie hungern, und im Palast gibt es zu viel Brot, zu viel – sie werden kommen, sie werden alles ändern, haben sie gesagt, es dauert jetzt nicht mehr lang. Sie werden Schluss machen mit solchen wie mir, die das Brot des Königs essen. Der König!“ Der Alte krallte sich an Jumars Hemd fest, zog sich daran hoch und kam wankend auf die Beine. „Ich muss den König sprechen. Man muss ihm sagen, wie es aussieht, in jenen Dörfern. Man muss –“ Er brach ab, rang nach Luft und griff nach der Wand, um nicht zu fallen. Seine Hand hinterließ einen Abdruck aus Blut und Dreck auf der reinen weißen Fläche. Später sagten sie, der Abdruck müsste noch immer irgendwo nördlich der großen Küche zu finden sein, und man könnte ihn seltsamerweise nur nachts sehen, auch, wenn der Mond nicht schien. Es war eine schöne Geschichte für...


Antonia Michaelis wurde 1979 in Kiel geboren. Fünf Jahre später begann sie, ihre Umwelt mit Büchern zu überschwemmen. Seitdem hat sie immer weitergeschrieben: während ihrer Schulzeit in Augsburg oder auf ihren zahlreichen Auslandsreisen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Nordosten Deutschlands.


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