E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-86274-562-3
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fast schon ist es zu spät, als José Jonathan aus den Wellen des Pazifiks rettet und auf sein Schiff, die "Mariposa", bringt. Obwohl Jonathans Vergangenheit im Dunkel liegt, freunden die beiden sich an und Jonathan begleitet José auf seiner Reise zur düsteren Isla Maldita. Dort hoffen sie herauszufinden, wohin die rätselhafte Karte weist, die José bei sich trägt. Doch auch die Männer, die die beiden erbarmungslos über das Meer verfolgen, haben es auf die Karte abgesehen. Welcher Schatz ist auf der Insel verborgen? Und welches Geheimnis verbirgt Jonathan?
Ein pralles Abenteuer - spannend und voller Action, inmitten von Stürmen, Wellen, Vulkanen und der faszinierenden Tierwelt Südamerikas.
Autoren/Hrsg.
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Una noche en el mare pacifico
Eine Nacht auf dem Pazifik
Der Pazifik lag schwer und schwarz in der Nacht wie ein Stein. Ein dunkler Stein aus erkalteter Lava. Es war kaum auszumachen, wo das Wasser endete und wo der Himmel begann. Alles, was es gab, war Schwärze. Sternenlose Schwärze. Und irgendwo in dieser Schwärze war ein Schiff unterwegs: die Isabelita. Sie hieß nach der Insel, von der sie jetzt kam, Isabela, der größten der Galapagosinseln. Die Positionslichter des Schiffs waren das Einzige, was man in der Dunkelheit sah: ein schwaches grünes Leuchten rechts, an Steuerbord, ein rotes Glühen an Backbord, eine weiße Lampe am Bug. So glitt die Isabelita durch die Nacht, lautlos, unter Segel, denn Treibstoff gehörte zu den Dingen, die in der letzten Zeit gespart werden mussten. Die Nacht um das Schiff herum war eine Mainacht im Jahr 1942. Für die Galapagosinseln bedeutete dies das Ende der Regenzeit. Für die Weltgeschichte bedeutete es etwas anderes: Weit, weit fort, in Europa, tobte ein Krieg. Aber er dehnte und reckte sich schon, wuchs und gedieh und streckte seine Krallen bis in die pazifische Nacht. Wäre jemand an Deck gewesen und hätte dieser Jemand eine Lampe gehabt, so hätte er gesehen, wie eine kleine Gestalt den Steuerbordaufgang hinaufkletterte. Im Licht der Lampe wäre ein Kopf mit struppigem, kurzem blondem Haar in der Luke aufgetaucht … zwei magere Hände, die sich am Geländer festklammerten … eine abgetragene Jacke und eine graue Hose … bloße Füße. Schließlich wäre das Licht an der Gestalt hinaufgewandert und hätte in ein blasses Gesicht geschienen: ein Gesicht mit einer Narbe an der Stirn. Ein Gesicht, das auf den ersten Blick wirkte, als besäße es weder Augenlider noch Brauen, so hellblond waren sie. Ein Gesicht mit fest geschlossenen Augen. Die Gestalt, der das Gesicht gehörte, schlief. Sie war im Schlaf die steile Treppe hinaufgeklettert und nun ging sie im Schlaf über das taufeuchte Deck. Oh, wäre jemand an Deck gewesen und hätte dieser Jemand eine Lampe gehabt, so hätte er sich sicherlich gewundert. Doch es war niemand da, und so sah niemand, wie die Gestalt das Vorderdeck überquerte – oder sollten wir sagen: der Junge? Nennen wir den Jungen Jonathan, denn Jonathan war der Name auf dem Pass in seiner Tasche. Jonathan Christopher Smith, geboren am 12.2.1929 in London. Natürlich stimmte das nicht unbedingt. Jetzt begann er zu rennen, panisch, im Zickzack, hierhin und dorthin – wie ein Kaninchen auf der Flucht. Seine Angst füllte die Nacht auf dem Vorderdeck der Isabelita ganz aus und machte sie noch schwärzer, als sie ohnehin schon war. Aber Jonathan befand sich nicht auf dem Vorderdeck der Isabelita. Er träumte. Und im Traum glitt er zurück, Tage, Wochen, Monate – im Traum befand er sich wieder in Deutschland. Er stand auf einer Treppe, den Griff eines Koffers in der Hand. Draußen jaulten Sirenen, ihr Ton schwoll an und wieder ab, an und wieder ab, wie das Schmerzgeheul eines riesigen verletzten Tieres. Das riesige Tier war die Stadt Hamburg und das Heulen der Sirenen bedeutete Fliegeralarm. Irgendwo dort draußen glitten die Flugzeuge durch die Nacht. Sie sahen die Lichter der Stadt nicht. Die Stadt lag im Dunkeln. Aber die Flieger wussten, wo sie zu suchen hatten … Unten auf der Treppe drängten sich Schemen von Menschen aneinander vorbei. Er konnte ihre Angst riechen. Hektische Stimmen füllten den Hausflur. Er umklammerte den Koffer fester. Er wollte nicht mit ihnen rennen, wollte nicht Teil ihrer Hektik werden. Mama wartete unten. »Wo bleibst du?«, rief sie. »Komm! Beeil dich!« Und dann rannte er doch. Er hetzte die dunklen Stufen hinunter, stolperte und fing sich wieder und schließlich stand er draußen auf der Straße. Hinter ihm lag der Eingang zum Haus Nummer 19. Die Straße war nicht so dunkel, wie er gedacht hatte. Der Mond schien. Der Mond wusste nichts von Verdunkelungen. Dummer, einfältiger Mond. Er beschien den alten Herrn Meier aus dem zweiten Stock mit seiner zu schweren Stofftasche. Er beschien die junge Frau Edler aus dem Erdgeschoss, die zwei kleine Kinder mit sich zog. Er beschien Frau Adam, die eine Stehlampe trug. Wozu eine Stehlampe? Der Mond wusste es nicht. Er beschien auch Jonathans Schwester Julia, die ihren Teddybären an sich drückte, den mit der roten Schleife am Hals. Und er beschien Mamas Gesicht. Im Mondschein sah Jonathan sie lächeln. Sie war stehen geblieben, als wäre plötzlich nichts mehr eilig. Er würde nie vergessen, wie sie da im Mondschein auf der Straße stand, lächelnd. Sie trug die alte karierte Schiebermütze seines Vaters auf ihrem hellen Haar, eines der wenigen Dinge, die er hinterlassen hatte. Die Mütze ließ sie wie ein Straßenjunge wirken, unpassend frech und fröhlich für die Nacht. Sie streckte eine Hand aus und zerzauste Jonathans Haar. Irgendwo hinter ihr in der Nacht blühte das Geißblatt am Haus, schwer und süß. »Komm!«, sagte Mama noch einmal. »Es wird Zeit.« Dann nahm sie die kleine Julia an der Hand. »Halt deinen Bären gut fest«, sagte sie, »denn jetzt laufen wir.« In diesem Moment hörte Jonathan die Flugzeuge. Er hob den Kopf. Sie waren ganz nah, so nah, wie er sie noch nie gesehen hatte – und die Nacht zerbarst mit einem lauten Krachen. Er sah ihre Scherben nach allen Seiten davonspritzen, tödlich rot. Sie hatten ein Haus in der Nähe getroffen. Er rannte jetzt wieder. Rannte vorwärts, den anderen nach. Das Haus Nummer 19 besaß keinen eigenen Luftschutzkeller, sie waren dem Keller von Nummer 21 zugeteilt worden. Nur ein paar Schritte, – das Heulen der Sirenen vermischte sich mit einem weiteren Krachen, irgendwo prasselten Flammen, mehr und mehr Flammen. Es – es war, als bewegten sich seine Beine in Zeitlupe. Er stolperte Stufen hinunter … und hämmerte gegen eine Tür. Jemand öffnete sie, zerrte ihn in den Keller und warf die Tür wieder zu. Das Heulen der Sirenen blieb hinter ihm zurück. Das schwache Licht einer Kerze machte die kauernden Menschen zu unwirklichen, klobigen Schatten, sie verschmolzen mit ihren Klappstühlen und ihren Koffern zu großen, hässlichen Klumpen aus Angst. Jonathan merkte, dass jemand ihn am Kragen gepackt hielt: Richard. Richard hatte ihn auch eingelassen. Er war schon siebzehn, fünf Jahre älter als Jonathan. Irgendwie hatte er es trotz der Eile geschafft, seine Uniform anzuziehen. Seit Richard Blockwart von Nummer 21 war und eine Uniform besaß, war er zehn Zentimeter größer. Vielleicht schlief er auch in der Uniform. Jetzt holte Richard mit der freien Hand aus und schlug Jonathan ins Gesicht. »Was hast du dir gedacht, so lange da draußen herumzutrödeln?«, keuchte er. »Ich habe die Verantwortung für den Keller. Eigentlich hätte ich dich gar nicht mehr hereinlassen dürfen.« Er legte den Riegel vor die Tür und stellte sich davor, breitbeinig, uniformiert. Jonathan sah sich um. Er spürte den Schmerz in seinem Gesicht nicht. Er hatte keine Zeit für den Schmerz. Er hatte keine Zeit für Richards Uniform. Wo waren Mama und Julia? Richards Worte klangen in Jonathans Ohren nach: »… dich nicht mehr hereinlassen dürfen.« Dich, nicht euch. Sie waren noch draußen, da draußen im Chaos. Sie und Julia und der Teddybär mit der roten Halsschleife. Jonathan machte einen Satz nach vorn, um Richard beiseitezuschieben und die Tür noch einmal zu entriegeln. Da lief ein Zittern durch den Betonboden. Irgendwo war ein weiteres Haus getroffen worden, ganz nah. Feiner Staub rieselte von der Decke wie Schnee. Einen Moment später bebte der Boden so stark, dass Jonathan das Gleichgewicht verlor. Als er aufstehen wollte, spürte er eine Hand im Nacken, die ihn zu Boden drückte. »Bleib, wo du bist!«, befahl Richard. Seine Stimme war scharf und schneidend wie zerbrochenes Glas. Wie eine zerbrochene Nacht. »Lass die Finger von der Tür! Hörst du denn nicht, was da draußen los ist? Willst du uns alle umbringen?« »Aber … meine Mutter!«, keuchte Jonathan. »Und … Julia ist …« »Wenn sie jetzt noch da draußen sind, kann man ihnen nicht mehr helfen«, sagte Richard kalt. Jonathan versuchte sich loszureißen, doch Richard war stärker als er. Sie rangen eine Weile auf dem Boden miteinander, stumm, schwer atmend, und endlich schaffte Jonathan es, aus Richards Griff zu schlüpfen. Er rappelte sich auf und streckte den Arm nach dem Türgriff – da sah er aus dem Augenwinkel, dass Frau Adam aufgestanden war. Sie hatte sich oft im Treppenhaus mit Mama unterhalten. Sie würde ihm helfen. Sie hielt etwas in den Händen … und dann traf ihn der Fuß einer Stehlampe hart am Kopf. Nein, es war nicht der Fuß einer Stehlampe. Es war Wasser. Kaltes, salziges Wasser, das in seinen Mund drang. Er erwachte mit einem Ruck aus seinem Traum, kämpfte sich an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Um ihn lag die schwarze Nacht des Pazifiks. Dann rollte die Wolkendecke am Himmel zurück und entblößte eine Kuppel, voll von Millionen glitzernder Juwelen: Sternbilder auf ihrem Weg über den Himmel. Und Jonathan begriff: Er war im Traum über die Reling geklettert, ohne es zu merken. Die Reling der Isabelita. Der dunkle Umriss des Schiffs begann bereits, sich zu entfernen. »Schwimmen. Du musst schwimmen.« Wer hatte da geflüstert? Das Flüstern war ganz nah gewesen. Es flüsterte jetzt einen Namen. Einen falschen Namen. Einen Namen, den er in Deutschland zurückgelassen hatte. Und plötzlich wusste er, wem die Stimme gehörte. Es war seine eigene. Er gehorchte. Er schwamm. Er schwamm der Isabelita nach, hinein in die...