E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-7320-1093-6
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Buch des Monats April 2007" (kinderbuch-couch.de)
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1. Kapitel,
in welchem ein Abenteuer beginnt, ohne dass ich es ahne. Zunächst bin ich sehr, sehr wütend und wandere aus. Schließlich geschieht etwas Überraschendes und erstaunlich Kleines. Ich bin zwölf Jahre alt, und mein Name ist Karl. Karl Sonntag. Karl heiße ich, weil K der nächste Name auf irgendeiner Liste war, als man mich fand. Und Sonntag, weil ich an einem Sonntag im August gefunden wurde. Es war auch ein Sonntag im August, an dem ich meinen besten Freund verlor. Ich verlor ihn nicht, weil ich ihn irgendwo liegen ließ, so, wie man ein Portemonnaie verliert oder einen Haustürschlüssel. Ich verlor ihn, weil er in einem roten Auto wegfuhr. Er drückte seine Nase lange an die Heckscheibe und winkte. Ich stand unter einem Schirm und winkte auch. Und es regnete. Und kurz darauf begannen all die seltsamen und unglaublichen Dinge zu geschehen, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie geschehen könnten. Aber ich will der Reihe nach erzählen. An jenem Sonntag standen Maria und ich also unter dem Schirm vor dem Kinderheim. Maria ist schon erwachsen. „Früher“, sagte ich zu ihr, „dachte ich immer, es gäbe irgendwo auch ein Erwachsenenheim. Ein Kinderheim ist schließlich ein Heim für Kinder ohne Eltern. Und ein Erwachsenenheim, glaubte ich, wäre ein Heim für Eltern ohne Kinder. Und ich dachte: Wenn man nur die beiden Heime zusammenlegen würde, dann wären alle froh und glücklich.“ Maria lachte. Sie hatte ihre Arme um mich gelegt und sah mit mir zusammen dem roten Auto nach. „Ist es nicht schön“, sagte sie, „dass Achim Eltern gefunden hat?“ „Sehr schön“, sagte ich und sah grimmig in den Regen. „Für dich finden wir auch noch welche“, sagte Maria. „Quatsch“, sagte ich und bohrte mit der Spitze meines Turnschuhs kleine Mulden in den Kies, sodass der Schuh nass und dreckig wurde und der Kies löchrig und hässlich. „Wir finden keine. Du weißt doch genau, dass ich schon fünfmal zurückgegeben wurde.“ Da sah Maria in die Tropfenwelt hinaus und seufzte. „Lass uns hineingehen, Karl“, sagte sie. „Es regnet zu sehr.“ Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war kein Achim da, der mir die Decke wegzog. Es war auch kein Achim da, mit dem ich um die Wette die Treppen hinunterlaufen konnte, und kein Achim, mit dem ich beim Frühstück Brotkrümel-Wettpusten spielen konnte. Nachmittags war kein Achim da, der unter den Apfelbäumen mit mir Fußball spielte, und abends war kein Achim da, der sich vor den Schatten fürchtete. Kein Achim, den ich beschützen konnte, weil er klein und schwach war und ich groß und stark. Und so saß ich auf meinem Bett und merkte, wie nutzlos es war, ganz alleine groß und stark zu sein. Ich faltete einen Papierflieger, wie ich es mit Achim gemacht hatte. Aber es machte keinen Spaß, den Papierflieger alleine fliegen zu lassen. Da überkam mich eine plötzliche rote Wut, und ich zerknüllte den Papierflieger, bis er nur noch ein winzig kleines Knäuel war, und pfefferte ihn in die Ecke. „Bleib du nur, wo du bist“, rief ich aus dem Fenster. „Ganz weit weg. Bleib bei deinen neuen Eltern, und freu dich an deinem neuen Leben. Mir ist das doch egal. Ich komm auch gut alleine klar. Schließlich bin ich Karl Sonntag und kann ganz alleine einen Klassenzimmertisch tragen.“ „Schrei doch nicht so rum“, sagte Jonathan. „Ich versuche hier, nicht game over zu werden in meinem Gameboy, Mann.“ „Dann werde doch woanders nicht gemowa“, sagte ich böse und stieß ihn im Vorbeigehen ein bisschen an, damit er auf die falschen Knöpfe drückte und all seine Leben auf einmal verlor. Eine Woche später waren die Sommerferien vorbei, und die Schule ging wieder los. Morgens im Bus fühlte ich mich komisch. Es kam mir vor, als guckten mich alle an. Ich hörte sie flüstern. Bestimmt sagten sie zueinander: „Das ist Karl, der jetzt ganz allein ist. Seht ihr, wie groß und stark er ist? Aber es bringt ihm gar nichts, ohne einen Freund, den er beschützen kann. Wie unsicher er von einem Bein aufs andere tritt!“ Ich setzte mich auf eine Bank, auf der noch keiner saß, und sah stur aus dem Fenster, als bemerkte ich das Getuschel der anderen nicht. „Achim“, sagten sie wohl, „hat jetzt nämlich Eltern. Bloß Karl, der nicht. Da könnt ihr sehen, wie einer aussieht, der zu blöd ist, um Eltern zu finden …“ Ich weiß gar nicht, ob sie das wirklich sagten. Vielleicht stellte ich es mir nur vor. In meinem Bauch wuchs die Wut zu einem kleinen roten Klumpen und lag mir im Magen, schwer wie Blei. In der Schule saß jetzt Ina neben mir, nicht mehr Achim. Sie reichte mir schüchtern die Hand und lächelte. Ich versuchte, auch zu lächeln, aber mir war nicht danach, und so grinste ich nur grimmig. Ina sah etwas erschrocken aus. „Vermisst du deinen Freund Achim sehr?“, flüsterte sie in der ersten Stunde. Ich schüttelte den Kopf. „Ich würde meinen besten Freund vermissen, wenn er weg wäre“, flüsterte Ina. „Ich aber nicht“, antwortete ich trotzig. „Du kannst es ruhig zugeben“, sagte Ina. Da stieß ich wie aus Versehen ihr Federmäppchen vom Tisch, und alle Stifte ergossen sich in einem regenbogenbunten Schwall über den Fußboden. Sie warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, und ich tat so, als guckte ich zufällig gerade in die andere Richtung. In der Pause stand ich alleine in einer Ecke und kaute auf meinem Wurstbrot herum. Aber die Wurst schmeckte eklig – ich wusste gar nicht, warum. „He, Karl“, sagte Eddy, der auch in meine Klasse ging. „Wo hasten deinen kleinen, schwachen Freund Asthma-Achim gelassen? Hat er sich kaputtgeschnauft?“ „Lass du nur Achim in Ruhe“, sagte ich und trat auf ihn zu. Ich war mindestens einen Kopf breiter als Eddy. „Er ist doch gar nicht da“, sagte Eddy. „Wie soll ich ihn da in Ruhe lassen?“ „Und weißt du auch, warum? Weil er nämlich jetzt Eltern hat, zu denen ist er umgezogen“, antwortete ich. „Deshalb ist er nicht da. Ha.“ „Stimmt es“, fragte Eddy gedehnt, „dass sie dich schon siiieben Mal zurückgegeben haben?“ „Fünf Mal“, sagte ich. Das Wurstbrot klebte in meinen Fingern, in mir glühte der rote Wutball, und mir wurde ganz heiß. „Fünf Mal von irgendwelchen Eltern zurückgegeben“, sagte Eddy zu Ronald, der neben ihm stand. „Hast du so was Dämliches schon mal gehört, Ronald?“ „Das war nur“, sagte ich, „weil bei den Eltern kein Kapitän dabei war.“ „Kein Kapitän?“, fragte Ronald. „Jawohl, damit ihr es wisst“, erwiderte ich. „Kein Kapitän. Mein Vater ist nämlich Kapitän. Und ich werde auch mal einer. Und bis mein richtiger Vater mich findet, werde ich eben zurückgegeben. Ist doch logisch.“ „Ach was, Kapitän, sag bloß“, meinte Eddy. „Und woher weißt’n das?“ „Ich weiß es eben“, sagte ich. Ich ging noch einen Schritt auf Eddy zu und zerdrückte das Wurstbrot in meiner Hand. „Schon gut, schon gut, ist er eben Kapitän“, sagte Eddy und taumelte zurück. Aber es war zu spät. Die rote Wut war schon aus meinem Bauch in den Kopf hinaufgestiegen. „Und das glaubst du mir wohl nicht, wie?“, rief ich. Dann packte ich Eddy am Kragen und schmierte ihm die Reste meines klebrigen Wurstbrotes mitten ins Gesicht. Er konnte sich gar nicht wehren, weil ich viel stärker war als er, und so strampelte er nur und schrie um Hilfe. Als ich das Wurstbrot gleichmäßig auf ihm verteilt hatte, schubste ich ihn auf den Boden und ging weg. An diesem Nachmittag rief mich die Klassenlehrerin zu sich. „Ich hab es nicht extra gemacht“, sagte ich gleich, weil ich wusste: Sie meinte Eddy und das Wurstbrot. „Es ist bloß so passiert.“ „Warum denn, Karl?“, fragte sie. Ich sah auf meine Schuhe. „Wegen gar nichts“, sagte ich. Ich wollte nicht schon wieder über Achim reden und darüber, dass er nicht mehr da war. Oder über meinen Vater, den Kapitän, der auch nicht da war. Die Lehrerin seufzte. Sie hatte graues Haar, hinten zu einem Dutt hochgesteckt, und ich überlegte, wie hübsch die rosa Schmierwurst meines Pausenbrots darin ausgesehen hätte. „Es kommt nicht wieder vor“, murmelte ich und sah auf meine Turnschuhspitzen. Ich nahm mir wirklich vor, dass es nicht wieder vorkommen sollte. Ich würde Eddy einfach nicht mehr zuhören. Aber wenn man ganz alleine ist auf der Welt, ist es schwer, den anderen nicht zuzuhören. „Eins ist ja wohl sicher“, sagte Eddy. „Ob dein Vater nun Kapitän ist oder Wurstfachverkäufer. Er hat dich sicher nicht verloren. Der wollte dich auch loswerden, damit er endlich seine Ruhe hatte.“ In den nächsten beiden Woche musste ich Eddy viermal verhauen und Ronald zweimal. Ich wollte es nicht. Ich kämpfte dagegen an, ballte die Fäuste in den Taschen und versuchte, ruhig durchzuatmen. Aber die Kraft kam einfach so aus mir heraus. Wenn man zu stark ist, ist das manchmal nicht gut. Die Wut wurde ganz und gar selbstständig und kugelte in meinem Bauch umher, sobald ich in der Schule ankam. Ich konnte überhaupt nicht mehr richtig denken – die Wut verstopfte mein Gehirn von innen wie rote, warme Watte, und ich machte im Diktat 67 Fehler. Das war am Freitag. In der Pause stießen die Mädchen sich an, und Ina flüsterte: „Da kommt der dicke Karl, der alles runterschmeißt und im Diktat 68 Fehler hatte.“ Sie glaubte, ich hätte sie nicht gehört. Aber ich bin ja nicht taub. Die Wut rollte wieder aus...