Meyer / SIAF Fokus Asien – Perspektiven und Herausforderungen

Sozialwissenschaftliche Studien des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung, Band 43

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Reihe: Sozialwissenschaftliche Studien des Instituts für Auslandsforschung

ISBN: 978-3-03810-467-4
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ob das 21. Jahrhundert tatsächlich die Epoche des Fernen Ostens sein wird oder auch nicht: Tatsache ist, dass schon jetzt viele Innovationen und Strategien aus dem asiatischen Raum in die globalisierte Welt vorstossen. Das Schweizerische Institut für Auslandforschung widmet sich in seinem 43. Band dem Schwerpunktthema Asien. Zehn bekannte Persönlichkeiten nehmen Stellung zum Wiederaufstieg Chinas, zu seinem Einfluss auf die Weltwirtschaft, zu seinen geopolitischen und kulturellen, ja ideologischen Konsequenzen und ermöglichen das Verständnis für die Veränderungen der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft. Weitere Themen des Bandes sind die demografischen Veränderungen, die steigende Schuldenlast und die Rolle von Geld- und Fiskalpolitik. Auch der Glaubenskrieg kommt zur Sprache sowie, aus gegebenem Anlass, die Rolle Europas nach dem Brexit. Mit Beiträgen von Carl Baudenbacher, Philipp Hildebrand, Gilles Kepel, Mervyn King, John Major, Kevin Rudd, Urs Schoettli, Gerhard Schröder, Axel A. Weber, Slavoj Zizek.
Meyer / SIAF Fokus Asien – Perspektiven und Herausforderungen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Globale Wirtschaft in der Schuldenfalle
AXEL A. WEBER
Vortrag vom 23. Februar 2016 Perspektive «Groundhog Day»
Bevor ich mich dem Thema Schulden widme, möchte ich die weltwirtschaftliche Entwicklung der letzten fünf Jahre aus einer etwas weiteren Perspektive betrachten. Ich besuche seit vielen Jahren regelmässig die Frühjahrs- und Herbsttagungen des Internationalen Währungsfonds (IWF). In letzter Zeit erinnern mich diese Treffen immer stärker an den Film «Groundhog Day», in dem Bill Murray um 6 Uhr morgens zur Musik von Sonny and Cher aufwacht und denselben Tag immer wieder von Neuem erlebt. So wie in jenem Film täglich das Murmeltier erwacht und den Beginn des Frühlings ankündigt, so reduziert der IWF seit mehreren Jahren bei jeder seiner halbjährlichen Prognoserunden die Wachstumsaussichten für die Weltwirtschaft. Analysieren wir ein typisches «Groundhog»-Jahr des IWF etwas genauer: Am Frühlingstreffen des IWF wird argumentiert, dass ein unvorhergesehener Faktor, wie etwa ein aussergewöhnlich kalter Winter, schuld daran sei, dass die Weltwirtschaft in den Wintermonaten enttäuschte. Die Wachstumsschwäche erweist sich dann aber im Frühling und Sommer als hartnäckiger als erwartet, worauf der IWF an seinem Herbsttreffen die Wachstumsprognosen erneut senken muss. Gleichzeitig betonen die IWF-Ökonomen aber, dass der Aufschwung nicht aufgehoben, sondern nur auf das nächste Jahr aufgeschoben wurde. Der darauffolgende Winter ist dann wieder ungewöhnlich kalt, und das Spiel beginnt von Neuem. Dies beobachten wir jetzt seit fast fünf Jahren: Seit dem Herbst 2011 hat der IWF die globale Wachstumsprognose in jeder Runde nach unten angepasst. Die Prognose für 2012 musste von 4,5 Prozent im April 2011 auf 3,3 Prozent reduziert werden, die Prognose für 2013 senkte der IWF von 4,5 Prozent auf 2,9 Prozent, die Prognose für 2014 wurde von 4,6 Prozent auf 3,3 Prozent korrigiert und die Prognose für 2015 schrumpfte von 4,8 Prozent auf 3,1 Prozent. Die Prognose für das langfristige Potenzialwachstum der Weltwirtschaft sank in dieser Periode von 4,7 Prozent auf 4,0 Prozent. Ich erwarte zudem, dass der IWF im April die Wachstumsprognose für dieses Jahr von aktuell 3,4 Prozent wiederum senken wird, allein schon deshalb, weil sich die Wachstumsaussichten für die USA in den letzten Wochen eingetrübt haben. Ich will hier aber keine Kritik am IWF üben. Der IWF hat eine der weltbesten Prognoseabteilungen. Praktisch bei allen Wirtschaftsinstituten kann in den letzten Jahren dasselbe Muster beobachtet werden. Und unter denjenigen Voraussagen, die die globale Wirtschaftsschwäche der letzten Jahre richtig darstellten, befinden sich viele, die grundsätzlich pessimistisch und deren Analysen daher nicht besonders hilfreich sind. In der Sprache der Statistik sind die Prognosefehler der letzten Jahre seriell korreliert. Sie waren immer zu hoch. Bei guten Prognosen darf dies nicht der Fall sein. Seriell korrelierte Prognosefehler deuten darauf hin, dass die verwendeten Modelle falsch spezifiziert sind. Sie scheinen fast ausnahmslos wichtige Faktoren auszublenden. So weit herrscht weitgehend Konsens zwischen den Ökonomen. Wo sich allerdings die Geister scheiden, ist die Frage, weshalb die Weltwirtschaft in den letzten Jahren regelmässig enttäuschte und – noch wichtiger – was getan werden muss, um das Wachstum wieder zu beleben. Modelle
In meiner Karriere als Ökonom, als Professor, als Präsident der Deutschen Bundesbank, aber auch in meiner jetzigen Tätigkeit im Gespräch mit Kundinnen und Kunden habe ich mich selbst intensiv mit Wirtschaftsprognosen beschäftigt und tue dies heute noch. Früher habe ich solche Modelle auch selbst geschätzt. Sie beruhen immer auf starken Vereinfachungen. Die meisten makroökonomischen Prognoseansätze beschränken sich auf die Modellierung der Realwirtschaft, meist der Interaktion zwischen den Bruttoinland-(BIP-)Komponenten wie den Investitionen, dem Konsum, den Ex- und Importen, ergänzt durch Variablen wie Zins oder Wechselkurs. Die heutigen Modelle sind weit davon entfernt, der zunehmenden Komplexität und dem Strukturwandel in der Wirtschaft gerecht zu werden. Obwohl die Modelle aus mathematischer und statistischer Sicht sehr anspruchsvoll sind, bin ich überzeugt, dass die Komplexität einer Volkswirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten rascher zugenommen hat als das Tempo des Fortschritts bei der Modellierung, sodass unsere Prognosemodelle heute sogar weniger aussagekräftig sind als noch vor einigen Jahrzehnten. Meiner Meinung nach sind zwei Bremsfaktoren dafür verantwortlich, dass die Wirtschaftsprognosen in den letzten Jahren regelmässig zu optimistisch ausgefallen sind. Beide werden normalerweise nicht in den Prognosemodellen berücksichtigt. Beim ersten Faktor handelt es sich um die Verschuldung. Beim zweiten Faktor um die Demografie. Zunächst zum Thema Verschuldung. Makroökonomische Prognosemodelle berücksichtigen Finanzströme und Finanzbestände, also etwa Vermögen und Schulden, nicht oder nur äusserst rudimentär, etwa indem ein Zinssatz in das Modell integriert wird. In früheren Jahrzehnten, als die Finanzmärkte noch ein Abbild der Realwirtschaft waren, war dies vielleicht noch vertretbar. Heute allerdings, fürchte ich, ist es nicht mehr die Realwirtschaft, die die Finanzmärkte treibt, sondern es ist oft umgekehrt – die Finanzmärkte üben einen zunehmenden Einfluss auf die Realwirtschaft aus. Vor einem Jahr hat McKinsey einen Bericht zur globalen Verschuldung vorgelegt. Darin wird aufgezeigt, dass die Weltverschuldung seit der Grossen Rezession von 2008/2009 nicht etwa abgenommen, sondern weiter zugenommen hat, und zwar um 17 Prozentpunkte, von 269 Prozent des BIP im Jahr 2007 auf 286 Prozent des BIP im Jahr 2014 (dabei handelt es sich um die kombinierte Verschuldung von Finanzsektor, Staat, Unternehmen und Haushalten). Noch nie zuvor war die Gesamtverschuldung auf globaler Ebene derart hoch. Betrachtet man nur die Staatsschulden, so wurden früher teilweise schon höhere Schuldenstände registriert als heute. Diese waren aber jeweils auf Kriege zurückzuführen, und oft reduzierte sich die Schuldenlast durch starkes Wachstum und hohe Inflation rasch wieder. Heute ist weder beim Wirtschaftswachstum noch bei der Inflation auf absehbare Zeit eine entsprechende Entwicklung zu erwarten. Seit der Grossen Rezession vor acht Jahren und der darauffolgenden Euro-Schuldenkrise ist mit wenigen Ausnahmen keine Entschuldung feststellbar. Ausnahmen bilden etwa die privaten Haushalte und der Finanzsektor in den USA, Irland und Deutschland, die ihre Verschuldung verringert haben. In den allermeisten Fällen wurde aber das De-Leveraging der Haushalte und des Finanzsektors durch eine Zunahme der Staatsschulden mehr als kompensiert. UBS ist ein gutes Beispiel für das De-Leveraging im Bankensektor: UBS hat ihre Bilanz massiv reduziert, von umgerechnet rund 2400 Milliarden Franken im Jahr 2006 auf aktuell noch 942 Milliarden Franken. Was die Staatsschulden betrifft, so haben diese in der Eurozone von 65 Prozent des BIP im Jahr 2007 auf 93 Prozent des BIP im Jahr 2015 zugenommen. In den USA ist die Staatsschuldenquote von 64 Prozent auf 106 Prozent angestiegen. In vielen europäischen Ländern wurde die Schwelle von 100 Prozent des BIP ebenfalls überschritten, etwa in Italien (133 %) und Spanien (101 %). Selbst Deutschland liegt mit 72 Prozent über dem Konvergenzkriterium von Maastricht (60 %). Die Schweiz stellt eine Ausnahme dar: Untypischerweise hat ihre Staatsverschuldung seit der Krise abgenommen und steht heute bei 46 Prozent des BIP. Die Geschichte hat wiederholt gezeigt, dass eine exzessive Verschuldung zu Problemen führt, etwa zu Immobilien-, Banken- und Währungskrisen, Staatsbankrotten oder hoher Inflation. Damit verbunden sind auch immer hohe Wachstumseinbussen. Der notwendige Entschuldungsprozess, sei es in Form eines Bankrotts, von Inflation oder von Austerität und Konsolidierung, ist schmerzhaft und langwierig; dies insbesondere dann, wenn das zugrunde liegende Problem der faulen Kredite nicht rasch und energisch angegangen wird. Aufgrund der absoluten Höhe der Schulden, der Schuldendynamik der letzten Jahre sowie anderer Anzeichen befürchte ich, dass die Schuldensituation heutzutage vielerorts nicht nachhaltig ist. Zahlreiche Sektoren und Länder sind überschuldet. Diese Überschuldung ist es, die seit einigen Jahren zunehmend auf der Weltwirtschaft lastet und die von den Wirtschaftsprognosemodellen nicht berücksichtigt wird. Schulden und Investitionen
Grundsätzlich sind Schulden nichts Schlechtes, wenn sie dazu dienen, produktive Investitionen zu tätigen oder den Konsum über die Zeit zu glätten. Ich vermute aber, dass viele Schuldner gerade in den vergangenen Jahren die aufgenommenen Mittel nicht dazu verwendet haben, Investitionen zu tätigen oder ihren Konsum zu glätten. Sie haben ihren Konsum erhöht, die neu aufgenommenen Mittel also einfach verkonsumiert. Wenn aber der Konsum zunimmt, bleiben weniger Mittel für Investitionen, der Kapitalstock leidet, und das Potenzialwachstum der Wirtschaft sinkt. Insbesondere bezweifle ich, dass die hohe staatliche Neuverschuldung in den letzten Jahren für Investitionen verwendet wurde. Die Infrastruktur vieler entwickelter Volkswirtschaften ist heute teilweise dramatisch schlechter, als sie es vor 10 Jahren noch war. Vielmehr wurden diese Mittel entweder direkt vom Staat konsumiert, oder sie wurden umverteilt und danach konsumiert. Das Produktionspotenzial der Wirtschaft nimmt mit zunehmenden Staatsschulden nicht zu. Im Gegenteil: Eine...


Meyer, Martin
Martin Meyer (* 1951), Dr. Dr. h.c., Studium der Geschichte, der deutschen Literatur und Philosophie an der Universität Zürich. Von 1992 bis 2015 Leiter der Feuilleton-Redaktion der NZZ.

Martin Meyer (* 1951), Dr. Dr. h.c., Studium der Geschichte, der deutschen Literatur und Philosophie an der Universität Zürich. Von 1992 bis 2015 Leiter der Feuilleton-Redaktion der NZZ.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.