Der Umgang mit Texten im Studium
E-Book, Deutsch, 158 Seiten
ISBN: 978-3-17-031962-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Leseressourcen
Materielle und immaterielle Leseressourcen
Lesen wird maßgeblich von dem Vorhandensein oder dem Mangel an Ressourcen mitbestimmt. Unter Ressourcen verstehe ich in diesem Zusammenhang materielle und immaterielle Güter, die dabei helfen, Leseaufgaben zu erfüllen und Ziele, die mit dem Lesen oder im Lesen angestrebt werden, zu erreichen. Gute, erfolgreiche Leseprozesse hängen von materiellen und auch körperlichen Ressourcen ab: Lichtverhältnisse, Textbestand, Druckqualität, Lizenzen, ruhiger Arbeitsplatz, Internetverbindung, Sehstärke, Bewegungsdrang, aktives, schmerzfreies Sitzen, Biorhythmus, Geld (z. B. um entliehene Titel, Lizenzen, Programme, Tageslichtlampe etc. zu kaufen etc.). Insbesondere dann, wenn Sie wissen, dass Sie für ein Projekt oder aufgrund der für Sie am besten passenden Lernumgebung bestimmte Ressourcen benötigen, ist es sinnvoll, für ihre Bereitstellung zu sorgen und auch Alternativen zu bedenken. Wenn wir auf Leseschwierigkeiten schauen, stellen wir fest, dass vorhandene Ressourcen Leseprozesse erleichtern und fehlende Ressourcen sie erschweren. Vielleicht sind Sie schon einmal einen Tag vor einer mündlichen Prüfung mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die halbe Stadt in eine Bibliothek gefahren, weil das einzige Exemplar eines Titels, dessen Relevanz Ihnen erst am Vormittag klargeworden ist, sich dort befindet, und just zwischen Ihrer Katalogabfrage und Ihrem Eintreffen in der Bibliothek wurde der Band ausgeliehen. Vielleicht haben Sie zum Geburtstag einen neuen Laptop bekommen, aber das Aufspielen der erforderlichen Zertifikate für den VPN-Zugang ist schiefgelaufen, und nun sitzen Sie in Ihrem Zimmer und kommen nicht an die elektronischen Ressourcen Ihrer Universitätsbibliothek. Vielleicht wollten Sie diese missliebigen Situationen vermeiden und von vornherein in der Universitätsbibliothek arbeiten, aber es gibt keinen freien Arbeitsplatz. Vielleicht haben Sie eine Quelle in der Hand gehalten, die in einem derart schlechten Überlieferungszustand war, dass Sie die Buchstaben nicht entziffern konnten. Oder Sie können sich nicht gut konzentrieren, wenn komplizierte Texte klein, eng und fast ohne Seitenränder gedruckt sind. Bestimmt können Sie weitere Beispiele anfügen, die sich um materielle Ressourcen für Ihr Lesen im Studium drehen. Lesen ist auch ein körperlicher Prozess; zu Ihren Leseressourcen gehören Ihre Augen und Sehhilfen. Lesen braucht einen angemessenen Wechsel von Bewegung und Ruhe, Dehnung und Halten, nahem und fernem Fokus. Insbesondere dann, wenn Sie anspruchsvolle Schnelllesetechniken üben oder einsetzen, brauchen Sie einen gut funktionierenden Körper. Lesen verbraucht Energie; geistige Arbeit beansprucht den Stoffwechsel und auch das Sehen beansprucht mehr Gehirnleistung als andere sinnliche Wahrnehmungen – Sie brauchen gute Nahrung. Lesen ist mehr und komplizierter als das Sehen allein. Der Prozess, Gesehenes so umzuwandeln, dass es Sinn ergibt und im Gedächtnis bleibt, ist ausgesprochen komplex. Insofern hat das Lesen körperliche Voraussetzungen, die gepflegt werden sollten, wenn Sie eine ausdauernde Leserin/ein ausdauernder Leser werden möchten. Das wirkt paradox, da die Lesenden in der kulturellen Wahrnehmung den »Sportlichen« als geistiger Antagonismus entgegenstehen.14 Zu den materiellen Ressourcen zählt im weitesten Sinne auch das »Personal« Ihres Leseprozesses und das Angebot an Veranstaltungen, die Ihnen helfen, akademische Lesekompetenz auszubilden. Ihre Lehrenden haben unterschiedliche fachliche und didaktische Vorkenntnisse und Ansichten und sind nicht immer an einen Lehrplan gebunden. Ein erfolgreicher Leseprozess kann von der Qualität der Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden abhängen. Lehrende prägen Ihre Lesearbeit wesentlich. Wenn es gut läuft, sind sie Lesevorbilder, leiten an, geben Ihnen Ziele und Kriterien für gutes und erfolgreiches Lesen. Sie führen Sie zu einem mündigen, kreativen, zielgerichteten, verstehenden Umgang mit Texten. Diese Lehrenden sind offen und kompetent für mediale Erweiterungen des Lesens. Sie geben Ihnen Feedback und nehmen einzelne Arbeitsschritte des Lesens, der Nachbereitung, der gemeinsamen Erarbeitung des Gelesenen in ihre Veranstaltungen auf. Wenn es schlecht läuft, wertschätzen Lehrende das Ihnen aufgetragene Lesen nicht, indem es in der Lehrveranstaltung keine Rolle spielt. Sie nutzen Texte, um sich von Ihnen abzugrenzen und keine direkte lernende Begegnung zu ermöglichen. Sie definieren nicht, was Sie unter Leseaufgaben verstehen, sondern bleiben allgemein: »Bereiten Sie den Text vor!«, »Lesen Sie XY!«. Ihr Lesen in solche Lernveranstaltungen einzubringen kann Mut erfordern und mit Unsicherheit einhergehen. Weiterhin macht es einen Unterschied, ob die Dozierenden zugleich auch die AutorInnen der Texte sind, die Sie in der Lernveranstaltung bearbeiten. Meines Erachtens liegt ein großer Vorteil darin, dass die Autorität von anonymen AutorInnen, vielleicht auch großer Namen, etwas entzaubert wird. Für mich war es im Studium ein Emanzipationserlebnis, zu verstehen, dass die AutorInnen von wissenschaftlichen Texten, die vorzubereiten waren, vermutlich genau solche Menschen waren wie die Dozierenden, die die Veranstaltung leiteten. Das bedeutete, dass sie irren konnten, dass das Gefühl von Langeweile beim Lesen vielleicht gar nicht trog, dass sie ebenso zu diskutieren waren, wie mit den leibhaftigen Dozierenden im Seminar diskutiert werden konnte. Seither gebe ich in den ersten Wochen stets einen eigenen Text zur Vorbereitung, um daran das Diskutieren, den Wechsel zwischen Lektüre und Debatte zu üben und zu ermutigen, auch die Pragmatik wissenschaftlicher Texte anzunehmen. Ein Nachteil mag darin liegen, dass natürlich ein Machtverhältnis zwischen Dozierenden und Studierenden besteht, auf sozialer Ebene ohnehin, aber besonders, wenn eine Prüfungsbeziehung besteht – wie kritikbereit, wie befangen sind Studierende dann, wie sehr bin ich als Dozentin wirklich offen für ehrliche und ernsthafte Kritik vonseiten der Jüngeren? Übung: Stellen Sie sich vor, die Autorin des Textes sei Ihre Dozentin, oder Sie besuchten einen Vortrag und hätten die Gelegenheit, Fragen an sie zu richten. Welche Fragen würden Sie stellen? • z. B. Fragen zum Text- und Forschungsdesign: Warum sind Sie so vorgegangen (und nicht anders)? Warum haben Sie dieses Thema, dieses Material, diese Methode gewählt? • Fragen zur Binnenlogik, wenn Sie nicht verstanden haben, wie Aussagen, Thesen aufeinander folgen – bitten Sie um Erklärung für Stellen, die verkürzt sind. • Fragen zum Ergebnis: Ist es endgültig oder vorläufig? Wie geht sie mit den Ergebnissen weiter um? Sind Sie – als LeserIn – überzeugt, ist das Ergebnis für Sie stimmig? Kämen Sie mit Ihrem Vorwissen, Ihrem Arbeitsmaterial zu einem anderen Ergebnis? Neben den materiellen gibt es immaterielle Ressourcen, die Einfluss auf das Lesen und Leseerfolge haben. Dazu zählen z. B. Ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten und Kompetenzen – können Sie z. B. Handschriften, Fremdsprachen, Codes gut lesen? Haben Sie eine aktive Lernhaltung, sind Sie zuversichtlich, dass Sie den Anforderungen angemessen begegnen werden? Wie gut können Sie mit digitalen Medien arbeiten? Wie gut ist Ihr Gedächtnis? Auch persönliche Eigenschaften helfen Ihrem Lesen: die Fähigkeit, sich entspannen und konzentrieren zu können, vielleicht sogar Meditationspraxis, Frustrationstoleranz, Geduld, Beharrlichkeit, Organisationstalent, emotionale Ausgeglichenheit. Auch hier erleben Sie wieder die Diskrepanz zwischen der Menge an schnell verfügbaren Informationen und der benötigten Dauer, jene zu erschließen. Hinzu kommt das fachliche Hintergrundwissen, aus dem assoziatives Verstehen, das Einordnen von Texten und das Einbinden und Memorieren von neuen Inhalten rasch und leicht erfolgen kann. Wenn Sie bereits eine Reihe an Kanontexten gelesen haben, wird es Ihnen leichter fallen, intertextuelle Bezüge und überzeitliche Muster zu erkennen. Kennen Sie Lesetechniken und -methoden? Dann können Sie Ihre Lesearbeit angemessen und ressourcenschonend gestalten. Das Wissen um Hilfsmittel, Nachschlagewerke, Handbücher, Metatexte und Experten hilft Ihnen, das Verständnis und die Bewertung von Texten zu erweitern oder zu erleichtern. Sie können Ihre soziale Einbindung als Ressource produktiv für das Lesen nutzen. Es macht einen Unterschied für Ihr Lesen und Lernen, ob Sie GesprächspartnerInnen haben, mit denen Sie sich austauschen können und die Ihnen konstruktives Feedback geben oder nicht, zumal dann, wenn diese GesprächspartnerInnen selbst Leseerfahrungen und -ergebnisse beitragen. Finden Sie Ihre »Mitdenker, Durchleser, Kompetenzträger«, von denen Ihr Lesen profitieren kann.15 Organisieren Sie Lesezirkel und Textgruppen. In schwierigen Lesephasen und unter Druck sind...