Mengiste | Der Schattenkönig | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Mengiste Der Schattenkönig

Roman | Shortlist Booker Prize 2020

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-423-43941-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Mit Mengiste beginnt in der Literatur eine neue Zeitrechnung.' Zoë Beck
Als Mussolini 1935 in Äthiopien einfällt, trifft er auf einen unerwarteten Widerstand: Krankenpflegerinnen, Köchinnen, Dienstmägde. Bereit, sich mit ihren Brüdern und Vätern gegen die Faschisten zu behaupten. Die junge Hirut, eine Waise in den Diensten eines Offiziers von Kaiser Selassie, ist eine von ihnen. Als Selassie sich ins englische Exil flüchtet, droht Äthiopien mit seinem Anführer auch die Hoffnung zu verlieren. Und ausgerechnet Hirut findet einen Weg, das Land zu inspirieren. An der Seite des Schattenkönigs, einem armen Musikanten, der dem Kaiser zum Verwechseln ähnlich sieht, rettet sie ihre Heimat vor der Selbstaufgabe und wird kurz zur Herrin ihres Schicksals.
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PROLOG



WARTEN 1974
Sie will sich nicht erinnern, aber nun ist sie hier, und die Erinnerung liest Knochen auf. Sie ist zu Fuß und mit dem Bus nach Addis Abeba gekommen, durch ein Gebiet, an das sie seit fast vierzig Jahren lieber nicht denkt. Sie ist zwei Tage zu früh dran, aber sie wird auf ihn warten, auf dem Boden in dieser Ecke des Bahnhofs, die Metallkiste auf dem Schoß, den Rücken an die Wand gelehnt, unbeweglich wie ein Wachposten. Sie trägt ihr gutes Kleid, nicht das für jeden Tag. Ihr Haar ist ordentlich geflochten und glänzt, die lange schartige Narbe, die sich wie eine kaputte Kette vom Halsansatz über ihre Schulter zieht, ist sorgsam verdeckt. In der Kiste sind seine Briefe, le lettere, ho sepolto le mie lettere, è il mio segreto, Hirut, anche il tuo segreto. Segreto, Geheimnis, meestir. Du musst sie für mich aufbewahren, bis ich dich wiedersehe. Jetzt geh. Vatene. Schnell, bevor sie dich erwischen. Und da sind Zeitungsausschnitte über den Krieg zwischen ihrem Land und seinem. Sie weiß, er hat sie vom Beginn im Jahr 1935 bis fast zum Ende 1941 geordnet. In der Kiste sind Fotos von ihr, einige sind im Auftrag Fucellis entstanden, und Ettore hat sie mit seiner akkuraten Handschrift beschrieben: Una bella ragazza. Una soldata feroce. Den Rest hat er aus freien Stücken aufgenommen, gesammelte Andenken aus dem Leben der ängstlichen jungen Frau, die sie in jenem Gefängnis war, hinter Stacheldraht, eingeschlossen in angstvollen Nächten, aus denen sie sich nicht befreien konnte. In der Kiste liegen die vielen Toten, die auf Wiederauferstehung drängen. Fünf Tage lang ist sie gereist, um hierher zu kommen. Sie hat sich durch Kontrollpunkte mit nervösen Soldaten geschoben, vorbei an verängstigten Dorfbewohnern, die im Flüsterton eine Revolution vorhersagten, vorbei an gewalttätigen Studentenprotesten. Sie hat eine Parade junger Frauen beobachtet, die mit erhobenen Fäusten und Gewehren am Bus vorbeimarschierten, der sie nach Bahir Dar brachte. Sie haben sie angestarrt, eine in die Jahre gekommene Frau in einem langen tristen Kleid, als wüssten sie nichts von jenen, die ihnen vorausgingen. Als wären sie die ersten Frauen, die Waffen tragen. Als hätten nicht einige der größten Kriegerinnen Äthiopiens den Boden unter ihren Füßen errungen, Frauen namens Aster, Nardos, Abedech, Tsedale, Aziza, Hanna, Meaza, Aynadis, Debru, Yodit, Ililta, Abeda, Kidist, Belaynesh, Meskerem, Nunu, Tigist, Tsehai, Beza, Saba und eine Frau, schlicht die Köchin genannt. Hirut murmelte die Namen dieser Frauen, während die Studentinnen vorbeimarschierten, und jeder Name warf sie weiter in die Zeit zurück, bis sie wieder auf zerklüftetem Boden stand, umgeben von Qualm und Schießpulver, halb erstickt in dem stechenden giftigen Gestank. Erst, als ein alter Mann sich neben sie setzte und am Arm packte, wurde sie in den Bus und in die Gegenwart zurückgeholt: Wenn schon Mussoloni den Kaiser nicht loswerden konnte, wie wollen es diese Studenten schaffen? Hirut schüttelte den Kopf. Auch jetzt schüttelt sie den Kopf. Sie ist so weit gereist, um diese Kiste zurückzugeben, um sich von dem Schrecken zu befreien, der sie plötzlich wieder überwältigt. Sie ist gekommen, um sich von den Geistern loszusagen und sie zu vertreiben. Sie hat keine Zeit für Fragen. Sie hat keine Zeit, die Aussprache eines alten Mannes zu verbessern. Ein Name zieht immer einen anderen nach sich: Nichts reist allein. Von draußen bohrt sich die Sonne wie eine Faust durch das staubige Bahnhofsfenster von Addis Abeba. Sie taucht ihren Kopf in Wärme und legt sich auf ihre Füße. Ein Luftzug weht in den Raum. Hirut blickt auf und sieht, wie eine junge Frau in ferenj-Kleidung durch die Tür kommt, in der Hand einen abgewetzten Koffer. Hinter ihr erhebt sich die Stadt. Hirut sieht die lange unbefestigte Straße, die zurück ins Zentrum führt. Drei Frauen balancieren Holzbündel auf dem Kopf. Da, gleich hinter dem Kreisverkehr, zieht eine Prozession von Priestern vorbei, wo einst, 1941, Kriegerinnen gewesen waren, und sie eine von ihnen. Die flache Metallkiste, so lang wie ihr Unterarm, wird kühl auf ihrem Schoß und liegt schwer wie ein sterbender Körper an ihrem Bauch. Sie verlagert ihr Gewicht und fährt die starren, spitzen Kanten des verrosteten Metalls nach. Irgendwo in einem Winkel dieser Stadt versteckt, wartet Ettore zwei Tage darauf, sie zu sehen. Im schummrigen Licht eines kleinen Arbeitszimmers sitzt er an seinem Schreibtisch, über eines seiner Fotos geneigt. Oder er sitzt in einem Sessel, umgeben vom selben Licht, das ihre Füße umspielt, und starrt in Richtung seines geliebten Italia. Auch er zählt die Stunden, beide sehen dem vereinbarten Tag entgegen. Hirut betrachtet die sonnenhelle Schneise, die durch die Schwingtür fällt. Als die Tür sich langsam wieder schließt, hält sie die Luft an. Addis Abeba schrumpft zu einem Splitter und schlüpft aus dem Raum. Ettore sackt zusammen und versinkt erneut in Dunkelheit. Dann fällt die Tür endgültig zu, Hirut ist wieder allein in diesem hallenden Raum und umklammert die Kiste. Sie spürt eine alte Angst wieder aufkeimen. Ich bin Hirut, ermahnt sie sich, Tochter von Getey und Fasil, geboren an einem gesegneten Erntetag, geliebte Frau und liebende Mutter, eine Soldatin. Sie atmet aus. Es hat so lange gedauert, hierher zu kommen. Fast vierzig Jahre eines anderen Lebens hat es gedauert, um sich langsam daran zu erinnern, wer sie einst war. Die Reise zurück begann so: mit einem Brief, dem ersten, den sie je erhalten hat: Cara Hirut, man sagt mir, dass ich dich endlich gefunden habe. Man sagt mir, du bist verheiratet und lebst an einem kleinen Ort, den man auf keiner Karte findet. Angeblich kennt dieser Bote dein Dorf. Er will dir meine Nachricht übergeben und mir deine Antwort zurückbringen. Bitte komme nach Addis. Schnell. Hier sind Unruhen, und ich muss weg. Ich kann nur nach Italien gehen. Sag mir, wann ich dich am Bahnhof treffen soll. Sei vorsichtig, sie haben sich gegen den Kaiser erhoben. Bitte komm. Bring die Kiste mit. Ettore. Der Brief ist mit dem ferenj-Datum datiert: 23. April 1974. Die Schwingtür öffnet sich erneut, und diesmal ist es einer der Soldaten, die sie hier und da auf dem Weg in die Stadt gesehen hat. Ein junger Mann, der den Lärm von draußen mit hereinbringt. Er trägt ein neues Gewehr nachlässig über den Rücken geschlungen. Seine Uniform ist weder zerrissen noch geflickt. Sie ist sauber und passt wie angegossen. Sein Blick ist zu beflissen, als dass er je einen sterbenden Landsmann gesehen, die Bewegungen zu schneidig, als dass er je echte Erschöpfung gespürt haben könnte. »Das Land den Bauern! Es lebe das revolutionäre Äthiopien!«, ruft er, und die Luft entweicht aus dem Raum. Tollpatschig wie ein Kind hebt er das Gewehr, er weiß, dass man ihn beobachtet. Er zeigt auf das Foto von Kaiser Haile Selassie über dem Eingang. »Nieder mit dem Kaiser!«, ruft er und schwenkt das Gewehr von einer Seite des unruhigen Bahnhofs zur anderen. Der Warteraum ist überfüllt, voll von Menschen, die aus der aufgewühlten Stadt wegwollen. Sie holen erschrocken Luft vor diesem uniformierten Jungen, der den großen Mann markiert. Hirut betrachtet das Bild von Kaiser Haile Selassie: Ein würdevoller, zartgliedriger Mann blickt in die Kamera, traurig und majestätisch in seiner medaillenbehängten Militäruniform. Auch der Soldat sieht hoch, da er nichts als seine eigene Stimme nachhallen hört. Unsicher tritt er von einem Fuß auf den anderen, macht schließlich kehrt und rennt zur Tür hinaus. Die Toten pulsieren unter dem Deckel. So lange haben sie sich angesichts Hiruts Wut erhoben und sind wieder zu Staub zerfallen, sind der Scham gewichen, die Hirut noch immer lähmt. Jetzt hört sie ihre Stimmen, und sie erzählen ihr, was sie bereits weiß: Der wahre Kaiser dieses Landes lebt auf einem Bauernhof und bestellt das winzige Stück Land neben ihrem. Er hat nie eine Krone getragen, ist allein und hat keine Feinde. Er ist ein stiller Mann, der einst eine Nation gegen ein stählernes Ungeheuer anführte, und sie war seine treueste Soldatin: die stolze Wächterin des Schattenkönigs. Erzähle es ihnen, Hirut. Jetzt oder nie. Die Toten werden lauter: Wir wollen, dass man uns hört. Wir wollen, dass man uns nicht vergisst. Wir wollen, dass man unsere Namen kennt. Wir geben erst Ruhe, wenn man um uns trauert. Hirut öffnet die Kiste. * Es sind zwei Stapel Fotos, beide mit dem gleichen zarten blauen Band geschnürt. Auf einen hat er in geschmeidiger Handschrift ihren Namen geschrieben, die Buchstaben groß und rund auf dem Papier, das den Stapel umschließt. Hirut löst das Band, und zwei Bilder fallen heraus, zusammengeklebt vom Alter. Eines zeigt den französischen Fotografen, der im nördlichen Hochland unterwegs war und fotografierte, ein Strich von einem Mann mit einer riesigen Kamera. Auf der Rückseite steht Gondar, 1935. Über diesen Mann wissen wir so viel: Er ist ein ehemaliger Bauzeichner aus Albi, ein gescheiterter Maler mit aalglatter Stimme und kleinen blauen Augen. Er ist nicht weiter wichtig, bis auf das, was die Erinnerung über ihn hergibt. Aber er ist in der Kiste und gehört zu den Toten, die auf ihrem Recht bestehen, die wollen, dass man sie kennt. Und eines müssen wir noch erwähnen: Da ist auch ein Foto von Hirut, aufgenommen von diesem Franzosen. Ein Porträt, entstanden, als er im Haus von Aster und Kidane zu Besuch war und...


Mengiste, Maaza
Maaza Mengiste flüchtete im Alter von vier Jahren mit ihren Eltern vor der Äthiopischen Revolution. Den Rest ihrer Kindheit verbrachte sie in Nigeria, Kenia und den USA. Sie lebt in New York. 2020 war sie Writer-in-residence am Literaturhaus Zürich.

Klobusiczky, Patricia
Patricia Klobusiczky übersetzt u.a. William Boyd und Petina Gappah. Sie lebt in Berlin.

Jakobeit, Brigitte
Brigitte Jakobeit lebt in Hamburg. Sie übersetzt u. a. William Trevor und Patti Smith und wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Maaza Mengiste flüchtete im Alter von vier Jahren mit ihren Eltern vor der Äthiopischen Revolution. Den Rest ihrer Kindheit verbrachte sie in Nigeria, Kenia und den USA. Sie lebt in New York. 2020 war sie Writer-in-residence am Literaturhaus Zürich.


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