E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Melzer Do Re Mi Fa So
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-99027-311-1
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-99027-311-1
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
geboren 1978, lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte Kunst und Philosophie in Amsterdam, promovierte in Plymouth über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein und ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman Alpha Bravo Charlie (2023) wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Zweiter Tag
Sonntag
Ein verkaterter und besorgt wirkender Franz kommt mit Frühstück an die Badewanne. Waffeln mit Ahornsirup, Erdbeeren mit Schlagsahne und Aspirin gegen meine Rückenschmerzen. Das frische Hemd schlage ich aus, die Unterwäsche ebenso. In Decken und Kissen und mit dem Heizkörper auf Stufe vier kann ich bequem nackt bleiben in meiner Wanne. Das Bad ist pfefferminzgrün gefliest, knapp zwei auf drei Meter, neben der Wanne ein WC und ein Waschbecken. Fenster ins Freie, ich habe die Kapitänskajüte. Franz hat unten sein eigenes Bad, und ich bin froh darum. Er versorgt mich rührend und bleibt für ein paar Worte bei mir sitzen. Er ahnt schon, dass dieses Wellness-Wochenende länger dauern könnte, und auch ich kann es mir vorstellen. Ich kann mir alles Mögliche vorstellen, aber sagen kann ich es nicht. Und umgekehrt.
Franz meint, es sei normal, sich selbst nicht zu trauen. Franz ist Pianist und sitzt jeden Tag (außer samstags, wenn er irgendwo auftritt oder kocht) im Salon am Flügel und macht Pianistensachen. Übt, komponiert, prüft seine Einfälle am Instrument. Er heißt Gold mit Nachnamen und kommt aus wohlhabendem Haus. Unsere Klingelschilder: Gold. Saum.
Franz trägt an diesem Morgen das graue Hemd, das mit den stoff bezogenen Knöpfen. Vielleicht habe ich mich auch deshalb für ein Leben mit ihm entschieden, weil er so zuverlässig gekleidet ist. Er gehört zu den Menschen, die nach ihren späten Jugendjahren die Körperform nicht mehr ändern. Er passt seit fast zwei Jahrzehnten in die gleichen Jacketts und Hosen, ohne darin merklich zu altern. Er sah schon als Jugendlicher aus wie mit Mitte dreißig und wird vielleicht für immer so aussehen. Die Kleider meines Mitbewohners lassen den Schluss auf einen stilsicheren und zugleich bescheidenen Menschen zu. Aber so wie er Schuhe putzen kann, so kann er auch fluchen.
Seine Garderobe ist eine, die diesen Namen noch verdient. Man kann ihm die Wochentage nicht ansehen. Man kann nicht erraten, ob es ein Festtag oder ein gewöhnlicher Arbeitstag ist, oder beides. Seine Dienstkleidung unterscheidet sich nur unmerklich von seinem Freizeitlook. Seine prachtvollen polnischen Pantoffeln stehen treu im Erdgeschoss neben der Eingangstür. Dort wechselt er in die weichen rotkarierten Filzslipper, ohne an Eleganz einzubüßen. Man kann sehen, dass er langsam in ein Alter kommt, in dem er beginnt, vor sich selbst Respekt zu haben.
Noch nie habe ich ihn einen Satz sagen hören, der mit Aber beginnt. Seine Stimme überschlägt sich nie, obwohl sie höher ist, als sein Körper vermuten lässt. Sie klingt wie die eines schlanken jungen Mannes, sie ist schöner als irgendetwas anderes an ihm.
Franz ist im perfekten Alter. Wäre er ein Brot, müsste man ihn jetzt aus dem Ofen nehmen.
Er ist unschuldig. Für seine fast unübersehbare Liebenswürdigkeit kann er nichts. Alles an ihm sagt: Ich bin da. Stillsitzen kann er nicht, seine Hände spielen immer mit etwas, die Hosenträger über seinem Bauch sind einzig dazu da, die Daumen mal ruhig zu halten. So ein Mensch könnte alles sein, sogar Friseur. Er kleidet sich wie ein Geographieprofessor oder Dirigent, er strahlt Professionalität aus wie ein Automechaniker oder Uhrmacher. Als Kapitän eines Schiffes wäre er kaum zum Piratenleben verdammt gewesen, weil man ihm seine Gutherzigkeit gleich ansieht. Sein Körper hängt an seinem Hals wie ein großer schwerer Talisman. Grotesk überflüssig, sein Kopf allein hätte genügt.
Sein Kopf hätte auf alle möglichen Identitäten gepasst. Es stimmt, dass Kleider Leute machen, was aber, wenn manche trotz aller Kostüme immer Menschen bleiben? Meine Schwester meint, dass wir einander ähneln. Wir sind die zwei Herren am Basar, die Backgammon spielen. Wir sind die zwei Alten auf dem Balkon in der Muppet Show. Wir sind die nach der Geburt getrennten Zwillinge, die einander gerade erst kennengelernt haben. Wir sind die zwei Pferde vor dem Gespann eines abgehalfterten Feldherrn. Wir sind die paarweise verschwindenden Schuhe. Wir sind ein Doppelbett mit zwei getrennten Matratzen. Wir sind Salz und Pfeffer auf den Tischen ländlicher Gaststätten. Wir sind die berüchtigten Retter der langen Tage. Wir sind die, die niemand anspricht, wir sind die, die vorne einsteigen, und wir sind die Beifahrer im Coupé. Wir sind die, denen die anderen gleich sind. Wir sind zwei Überraschte, zwei Haderer, außer wenn es um uns geht. Wir sind die, die nie genug Zeit haben, um alles zu sagen, die, die sich beeilen, den anderen zu Wort kommen zu lassen und ihn dann unterbrechen, die schnell sprechen und schnell zuhören, die die Worte erkennen, bevor sie fallen. Wir sind die, die es nicht geben müsste, außer für uns selbst. Wir sind das Paar, das keines ist. Die Liebe, die anders heißt. Wir sind ein gut getarnter Chor, ein himmlisches Duett, ein gut geteiltes Glück. Werden wir verrückt, jeder für sich, dann wenigstens nicht allein.
An manchen Tagen laufen meine Gedanken aus jeder Richtung auf Franz zu. Jeden Abend möchte ich ihm als Letztes eine Gute Nacht wünschen, und am Morgen freue ich mich auf ein Wort von ihm. Manchmal schaffe ich es, für einen ganzen halben Tag nicht an ihn zu denken, und dann bin ich stolz darauf, dass anderes und andere meine Aufmerksamkeit gründlich von ihm abgezogen haben.
Ich brauche ihn als Freund. Ich will mit ihm in einer Bar sitzen und mit ihm einig sein. Ich erwarte, dass er mich anruft, täglich. Aus Langeweile. Aus den Ferien. Weil er auf den Bus wartet. Weil seine Gesellschaft ihn dauert. Weil er endlich mit jemand Vernünftigem reden will. Weil er mal wieder lachen, sich verstanden fühlen will. Ich wünsche mir, dass er überraschend zu Besuch kommt, sich unerwartet meldet. Mir eine Postkarte schreibt von der eigenen Wohnadresse. Dass er ein Foto von mir besitzt und sich ein langes Leben wünscht, an dessen Ende wir einander gekannt haben werden wie gute Geschwister. Ich will, dass er traurig ist, wenn ich nicht anrufe, und neidisch auf meine Kollegen. Ich will das große und das kleine Glück sein. Gulaschsuppenglück. Alles wäre ganz einfach.
Einmal, zu Beginn unserer Wohngemeinschaft, bat ich Franz, mir seinen Kleiderschrank zu zeigen. Zeigt das Innere des Kühlschranks, aus welchem Stoff jemand gemacht ist, so zeigt der Inhalt des Kleiderschranks, hinter welchen Hüllen jemand sich versteckt. Erfreulicherweise ist Franz ähnlich gebaut wie ich. Es fiel mir leicht, den nächsten Wunsch zu äußern, und ich durfte mir ein Outfit wählen. Strümpfe, Boxershorts, eine Cordhose, ein Leinenhemd, einen Pullover, ein Halstuch. Ich ging damit gleich in mein Stockwerk und zog mich an wie er. Als Franz verkleidet ging ich zu ihm und wir tranken ein Bier zusammen. Es gab Nüsschen dazu. Ich nahm sie mit Schwung zu mir, mit Gesten, die meinem Freund gehörten. So verbrachten wir ein paar gütige Stunden, und gewöhnten uns daran, zu vergessen, wer wir sind, wenn wir angezogen sind wie sonst.
Ich warte bis Mittag tatenlos, nehme aus Langeweile ein Bad in der Wanne, um danach wieder alles abzutrocknen und die Felle, Kissen und Decken hineinzulegen. Vielleicht dämmert Franz wie mir, dass sein Fünf-Sterne-Service mich auf die Idee gebracht haben könnte, länger als nötig auszuharren. Es gibt nur Wiener mit Senf. Dafür zum Dessert Mousse au Chocolat, selbstgemacht.
Ich habe mir einen rot bedruckten Seidenschal um den Kopf gebunden. Er riecht schlecht, nach Ammoniak. Käme der Geruch aus einem Loch im Boden, wäre es Gestank. Als ich während einer Zahnputzpause kurz den nackten Mann mit dem roten Turban im Spiegel sehe, lächelt er stolz. Der volle Bart und die dicken Augenbrauen wirken wie bei mächtigen Tieren: kontrollierte Macht, gütige Kraft, ein Gesicht wie ein Weiser oder ein gerechter Herrscher. Das Bild über dem Waschbecken überzeugt mich für einen Augenblick von der Güte meiner Augenbrauen, und ich ahne ein Abenteuer.
Ich könnte die Zeit in der Badewanne nutzen, um zu lesen, das Libretto der nächsten Produktion oder die literarische Vorlage einer Oper studieren. Die Biografie eines Idols lesen und endlich dessen Muttersprache erlernen. Klassiker, die seit drei Jahrzehnten aufgeschoben werden, auf ruhigere Zeiten, auf die Pension vielleicht. Womöglich habe ich mich selbst in den Ruhestand versetzt. Aber gerade jetzt mag ich nicht das Richtige tun. Deshalb bin ich ja hier.
So nackt in der ausgelassenen Badewanne fühle ich mich dazwischen. Als sollte etwas geschehen, was gerade durch diese Situation verhindert wird. Ich warte darauf, dass die Zeit vergeht, ungenutzt verstreicht, darauf, dass ein Sonnenstrahl die Ecke neben dem Duschkopf über mir trifft. Dann ist es 15 Uhr. Darauf, dass die Sonne die Badezimmertür berührt: Dann ist es Abend. Ich versuche, mich zu erholen, mich zu freuen über das Nichtstun. Es ist, wie wenn man auf einen Überlandbus wartet, der erst morgen fährt. Der immer erst morgen fährt. Und ich wohne im Wartehäuschen.
Wie ein Baby im Brutkasten liege ich weich gebettet, aber splitterfasernackt. Nackt in der Wanne träume ich von Kleidern, gelben Sommerkleidern mit großen weißen Punkten, die ich trage wie ein Strumpfmodenmodell aus den sechziger Jahren. Ich träume mich drehend mit Schürze, ich träume mich in pink karierten Petticoats und flachen roten Sommersandalen. Ich trage die ganze Sommergarderobe meiner Mutter aus der Zeit vor meiner Geburt, die ich nur aus Fotoalben kenne. Ich trage das Tenue der Mutter im Tanzverein und den Dress des Vaters vom Fußballclub, vom Hockeyverein.
Die Wände meiner Träume sind gefüttert und gepolstert mit getragenen...